Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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8.

Im Auftrag des Detektiven.

»Bootsmann, spinn' ein Garn!« sagte der grauhaarige Schiffskoch zu seinem alten Freunde und schüttelte den träumend vor sich Hinsehenden an der Schulter. »Du bist schon lange an der Reihe.«

Es war so traulich im Matrosenlogis an Bord der ›Kalliope‹.

Das Logis, die Schlafstelle und der Aufenthaltsort der Matrosen während ihrer Freizeit, lag unter der Back, dem erhöhten Vorderteil des Schiffes. An den Seitenwänden befanden sich die Kojen, stets zwei übereinander, vor ihnen waren die Seekisten angelascht, d. h. festgebunden, damit sie nicht bei Seegang hin- und herrutschten, und durch die Mitte des Raumes lief der schmale Tisch, abermals ›Back‹ genannt, denn dies ist eine Bezeichnung für viele, ganz verschiedene Gegenstände des Schiffes. Sonst war der Tisch oben an der Decke befestigt, nur wenn die Matrosen aßen oder, wie heute abend, gesellschaftlich zusammensaßen, wurde das mit vielen Leisten beschlagene Brett, welches das Herunterrutschen des Eßgeschirres verhütet, herabgeschlagen.

Die Matrosen der ›Kalliope‹ waren nicht an Land gegangen, sie wollten nicht ihre ganze Heuer schon während der Reise verbrauchen; auch saßen sie nicht auf den Kleiderkisten und flickten Zeug, kauerten nicht vor denselben und ordneten die Sachen, nahmen nicht die halb verblichenen Photographien, die Bildchen, Andenken an Liebe in der Heimat in die Hand, betrachteten sie nicht sinnend, putzten sie nicht am Aermel ihrer wollenen Jacke ab und legten sie nicht dann fein säuberlich in eine bestimmte Ecke ihrer Seekiste, eine so beliebte Beschäftigung des deutschen Seemannes in der Freizeit, sondern sie saßen heute abend um die Back herum und waren am ›Garnspinnen‹, das heißt am Erzählen. Die von der Decke herabhängende Petroleumlampe beleuchtete die wettergebräunten, treuherzigen Gesichter der Matrosen, welche, die qualmende Kalkpfeife zwischen den Zähnen, die Mützen im Nacken, die Aermel der wollenen Jacken halb aufgeschlagen, aufmerksam den Erzählungen ihrer älteren Kameraden lauschten.

Wenn das Alter noch irgend einen Vorrang hat, ohne Ansehen von Können und Wissen, so ist es an Bord deutscher Schiffe; da darf im Logis keiner das Wort ergreifen, so lange der Aeltere redet, und man folgt gern seinem Rat, denn er hat die größere Erfahrung.

Des Bootsmanns, wie auch des Kochs Kojen liegen nicht im Matrosenlogis, sondern beide bewohnen Kabinen für sich, wie sie überhaupt eine Stellung zwischen Steuermann und Matrosen einnehmen, aber wenn diese es vorgezogen haben, statt im Hafen an Land zu gehen, im Logis zu bleiben, so finden auch jene sich gern bei dem jüngeren Volke ein, um ihre Reiseerlebnisse zum besten zu geben und dann wiederum den Erzählungen der Matrosen zuzuhören.

Der Bootsmann der ›Kalliope‹, ein alter Bekannter aus dem Schiffsanker zu Sydney, schien keine Lust zu haben, der Aufforderung Folge zu leisten. Ruhig ließ er sich schütteln, daß ihm die Asche aus der Pfeife flog – er änderte nicht den starren Blick seiner Augen.

»Erzähle uns, warum du nicht geheiratet hast,« begann wieder der Koch, »das ist eine Geschichte, von der du noch niemals gesprochen hast. 's ist doch hart für so einen alten Seebär, wenn er endlich wieder im Heimatshafen ankert und, statt eine freundliche Stube und liebe Gesichter zu sehen, den ganzen Tag in der Bierstube des Heuerbaas hocken muß, bis er wieder ein Schiff bekommen hat.«

»Freilich, du hast recht,« sagte endlich der Bootsmann, »je älter man wird, destomehr empfindet man das, aber, du, lieber Gott, der Mensch gewöhnt sich an alles. Ein junger Kerl sehnt sich nicht nach Häuslichkeit, hat er ein paar Tage zu Hause hinter dem Ofen gesessen, dann will er sich erst noch ein wenig amüsieren und dann ade Mutter und Geschwister, alle Tränen helfen nichts, das Blut muß sich wieder in Wind und Wetter austoben. Dann später freilich, dann wird er ruhiger, und er sehnt sich nach Hause, im Sommer nach einem schattigen Plätzchen im Garten und im Winter nach einer warmen Stube. Aber die Mutter mit ihrer Fürsorge genügt ihm nicht mehr, schon lange hatte er es sich ausgemalt, wie schön das wäre, wenn statt der Mutter Nachbars blonde Marie oder Grete am Feuer hantierte. Die Dirn' sagt nicht nein, das weiß er, und kommt er dann von der nächsten Reise mit vollem Geldbeutel heim, so bringt er ihr ein paar seidene Fähnchen mit, beim Tanz in der Schenke fragt er sie, ob sie den wilden Burschen leiden möge, und vier Wochen darauf ist Hochzeit. Manchem ist es geglückt, sich ein hübsches Heim zu schaffen, manchem nicht. Ich wollte es auch, aber das Schicksal nicht, darum bin ich unverheiratet geblieben.«

»Das ist kein Garn, Bootsmann,« sagte der Koch. »Erzähle uns ordentlich, warum du nicht eine Frau genommen hast. An Gelegenheit wird es dir doch nicht gefehlt haben?«

»An Gelegenheit?« lachte der Bootsmann spöttisch und erhob sich, um die Lampe höher zu schrauben, so daß man seine hünenhafte Figur besser zu sehen bekam. »Wetter noch einmal, nein, Gelegenheit gab's genug. Als ich noch ein junger Kerl war und als Matrose fuhr, da war ich nicht der griesgrämige, mürrische Geselle, der ich heute bin. Herr Gott, was war ich für ein wilder Bursche! Wenn ich so mit vollen Taschen an Land kam, da war mir nichts zu teuer, die Musikanten mußten für mich ganz allein aufspielen, und wenn ich dann so mit dem nagelneuen, blauen Anzug durch die Dorfstraße ging, da hättet ihr einmal sehen sollen, wie mir die Dirnen nachguckten und flüsterten: ›Da geht der Max, der ist von der Reise zurückgekommen, paßt auf, heute abend bestellt er Tanz.‹«

»Na,« lachte der Koch, »bis jetzt habe ich aber noch nicht merken können, inwiefern du eine Gelegenheit zum Heiraten gehabt hättest. Tugendhelden sind wir alle nicht gewesen, und was die Wildheit anbetrifft – da sieh dir mal die Jungens an, wie sie schmunzeln und die Mützen auf die Seite rücken; Karl fängt schon an, unterm Tisch mit den Füßen zu tanzen, laß sie mal nach Hamburg kommen. Na, durch die Wildheit bekommt man keine brave Frau.«

»Warum denn nicht?« unterbrach ihn aber der Bootsmann. »Gerade, manch sonst ganz stilles Mädchen verschmäht den solidesten, ruhigsten und reichsten Freier und hängt sich an einen wilden Kerl. Warum? Ich bin kein Gelehrter, ich kann es nicht mit Worten erklären, aber das Herz sagt mir, warum sie dazu getrieben wird. Und Faktum ist es, daß solche Ehen die glücklichsten werden. Natürlich unter Wildheit verstehe ich nicht einen rohen, liederlichen, jähzornigen Charakter, sondern eine Natur, die vor Jugendlust und Jugendmut überschäumt. Ich keine Gelegenheit gehabt zum Heiraten? Da war des Müllers Anna, des Hofbauern Gertrud, Zimmermanns Berta, des schwerreichen Krämers Mary und so weiter und so weiter, alles hübsche, reiche Mädchen, und ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, so hätte ich sie gehabt, von ihnen gar nicht zu sprechen, auch die Väter und Mütter hätten mich als Freier nicht abgeschlagen, mich, den sechs und einen halben Fuß hohen, baumstarken Kerl, wenn er auch nichts weiter besaß, als ein paar gesunde Arme, die aber ein großes Kapital aufwiegen. Alle Herzen im Dorfe waren mir zugetan, ich wußte niemanden, der mir nicht schon von weitem ein herzliches Wort zugerufen hätte, wenn ich ihm begegnete. Na, und häßlich bin ich damals auch nicht gerade gewesen,« fügte der Bootsmann schmunzelnd hinzu.

»Aber nein,« fuhr er dann wieder düster werdend fort, »ich wollte keine von ihnen, ich sah nicht, wie sie mich mit Blicken aufforderten, einmal meine Ausgelassenheit fallen zu lassen und ernst zu werden, ihre Winke zu beachten. Der Ernst machte der Fröhlichkeit nur Platz, wenn ich an einem Hause vorbeikam und hinter dem Fenster ein paar goldene Zöpfe leuchten sah, aber ein so ernsthaftes Gesicht ich auch ziehen mochte, innerlich, mein Herz, das hüpfte und jubelte vor Entzücken, vor wirklicher Freude. Das Haus stand hinten im Dorfe, verlassen, unbeachtet, es war eine Hütte, armselig, halbverfallen, der Regen fand Einlaß durch das lückenhafte Dach.

Es gehörte dem Hirten des Dorfes, einer verachteten, im Rufe der Zauberei stehenden Person, öffentlich gemieden, heimlich aufgesucht, und seine Tochter, die Susanne, hütete barfuß die Gänse.

»Es war eine, alte, alte Geschichte, so alt, wie die Welt ist, und man kann sie immer wieder hören, nur Ort, Datum und Namen haben sich geändert, aber der Inhalt bleibt immer derselbe. Hoffnung, Liebe, Trennung und ein unglückliches Wiedersehen, unglücklich auf beiden Seiten, es ist ihr Kern, dann eine blasse, stille, junge Frau, die mit Geduld das Schicksal trägt, und ein Mann, der erst vor Verzweiflung vergehen will, dann sich in den Strudel des Lebens stürzt, um den Schmerz zu betäuben, und schließlich, wenn die Wunde des Herzens geheilt ist, der Erinnerung lebt, aber keinen Versuch macht, noch einmal sein Glück zu erringen.

»Ick höww min lüttje Susann' nie wedder siehn,« schloß der Bootsmann seine Erzählung, die natürlich plattdeutsch vorgetragen war, und fuhr mit der Hand über die Augen.

Und die Matrosen? Die rohen Matrosen hatten mit einem Male alle das Bedürfnis, das rot und weiß gewürfelte Sacktuch zu gebrauchen, aber jeder versuchte, es dem anderen nicht merken zu lassen, sie beugten sich in die Koje und ordneten die Kissen, oder sie schlugen die Deckel der Seekisten hoch und wühlten in ihnen herum, oder sie steckten den Kopf unter den Tisch und klopften die Pfeife aus.

Die rohen Matrosen! Ach, wenn doch jeder Mensch soviel Mitgefühl für fremdes Leid im Herzen trüge, wie der Seemann, der deutsche Seemann! Wie sehr wird gegen ihn gefrevelt, wenn sein übermütiges Treiben an Land, ist er nach jahrelanger Abwesenheit in den Hafen zurückgekehrt, und sein Spott gegen die Passagiere, die sich an Bord des Schiffes wie unbeholfene Kinder benehmen, als Roheit bezeichnet wird.

»Seht, Jungens, so geht es,« unterbrach der Bootsmann die eingetretene Stille, »Ich erwachte bald aus dem Taumel, in den ich geraten war. Eines Tages fand ich mich wieder in einem kleinen Hafen Spaniens, zerlumpt, elend, krank, keinen Peso in der Tasche – alles war vertrunken und verspielt. Max, sagte ich zu mir, schämst du dich nicht vor dir selber? Du, ein Kerl, der einst dachte, die ganze Erde über den Haufen rennen zu können, beträgst dich wie ein kleines Kind, weinst, jammerst, und hast du einen Groschen in der Tasche, dann jagst du ihn schnell durch die Kehle, damit du nicht mehr an die Vergangenheit denkst. Pfui Teufel, Max, wenn es dein Vater hätte sehen können, der war aus anderem Holze geschnitzt als du, er würde sich im Grabe umwenden! Kurz, ich kehrte um, ich kam wieder in die Höhe, das Meer ward meine Heimat, das Schiff meine Braut, und nun, ich kann es wahrhaftig sagen, ich bin ein glücklicher Mensch, mag ich manchmal auch etwas griesgrämig sein, das bringen die schon grau werdenden Haare mit sich. Aber hier,« der alte Seemann sprang auf und schlug dröhnend gegen die mächtige Brust, »hier sitzt noch die Jugend drin, gerade noch dieselbe alte Jugendlust fühle ich in meinem Herzen, die früher so oft schäumend überfloß. Ein sicheres Schiff, ein braver Kapitän, eine tüchtige Mannschaft, sagt ihr jungen Leute, und wir wollen gar nicht in den Himmel, schöner kann es dort auch nicht sein, und ebenso rufe ich trotz meiner 45 Jahre auch noch. Braucht nicht zu denken, daß ich mich nur so in Begeisterung hineingeredet habe, Jungens, ihr wißt, ich bin kein Spaßverderber, bin immer noch wie einer, der erst zwanzig Jahre auf dem Rücken hat. Noch immer sitzt mein Herz auf dem rechten Flecke, und meine Faust hat immer noch den guten Schlag den sie früher gehabt hat, und solange diese beiden die alten bleiben, solange will ich des Sprüchleins gedenken, das mir einst mein Vater mit auf den Weg gab, als ich die erste lange Seereise antrat. ›Max,‹ sagte er, ›laß dich nicht einschüchtern, was dir auch die Leute vorschwatzen mögen, denke daran, was ich dir sage: Was dir dein Herz vorschreibt, das tue, mögen es andere gutheißen oder nicht. Spricht dein Herz, schlage zu, dann schlage, aber gleich tüchtig, daß es nicht zum zweiten Male nötig wird.‹ Jungens, hole mich dieser oder jener, ihr wißt alle, ich habe immer so gehandelt, und hat es mein Herz gutgeheißen, dann habe ich mit Freude meine Strafe bezahlt und wohl auch einmal ein paar Tage im Loch gesessen. Das Herz hatte es mir vorgeschrieben, und ehe ich dem widerspreche, ehe ich etwas mit angesehen habe, was es mir als Unrecht bezeichnete, da würde ich mich lieber haben hängen lassen, ehe ich untätig dabei geblieben wäre.«

»Und nun, Koch,« schloß der aufgeregte Seemann, dessen Augen wunderbar blitzten, und ließ sich wieder auf seine Seekiste fallen, »du hast noch heißes Wasser in der Kombüse und du, Willy, geh' einmal in meine Kabine. Hinter meiner Kiste stehen ein paar Buttels, bringe die mit dem roten Lack, das ist der beste. Den Abend wollen wir wenigstens mit einem Glase steifen Grog beschließen.«

»Da trinke ich mit,« schallte eine helle Stimme im Türrahmen und »Hannes!« riefen alle achtzehn Mann, und ebensoviele Hände streckten sich dem Eintretenden entgegen.

»Was ist der Junge in den paar Wochen fett geworden,« lachte einer der Matrosen. »Sprichst du auch noch deutsch, oder hast du es bei den Engländern verlernt?«

»Das ist recht, Hannes,« sagte der Bootsmann und zog ihn neben sich auf die Seekiste, »daß du uns wieder aufsuchst. Frisch genug siehst du aus, das muß man den Engländern lassen, gute Kost scheint es auf dem ›Amor‹ zu geben. Sind überhaupt ganz brave Kerls diese Engländer, gar keine solchen Stadtherren, die nicht wissen, was achtern und vorn im Schiffe ist, und das Gangspill für ein Karussell ansehen. Aber nicht wahr, Hannes, du gibst dich doch nicht etwa zum Diener her? Lieber würde ich dir die Knochen entzweischlagen, als daß ich bei einem so fixen Jungen, wie du bist, so etwas dulde.«

»I Gott bewahre,« lachte Hannes, »im Gegenteil, mein Herr bedient mich. Aber nein, ich will nicht übertreiben, wir sind wie Brüder zusammen, und er ist wirklich der bravste Kerl, der unter der Sonne lebt, dieser Charles. Manchmal nennen wir uns Sie, manchmal du, je nachdem wir gerade bei Laune sind, und im übrigen heißt es bei uns: was mein ist, ist auch dein.«

»Du hast ja aber nichts, Junge,« lachte der Koch.

»Kann ich denn etwas dafür?« rief Hannes entrüstet. »Aber nun, Maate, muß ich euch sagen, warum ich hergekommen bin. Th–«

Doch er kam noch lange nicht dazu, mit seiner Angelegenheit herauszurücken.

»Hannes, wie ist es ...« Hannes, was machst du ...« Hannes, wo ist der ...« erklang es von allen Seiten, und da der bedrängte Hannes immer Antwort geben mußte, so vergingen noch zehn Minuten, dann kam der Koch mit dem Grog, und diesem mußte Hannes wieder Rede stehen, bis er sich schließlich energisch freimachte und, nach der Uhr sehend, auf eine Kiste sprang.

»Kreuz Pech,« rief abermals ein Matrose, ohne auf die Winke des oben Stehenden, ihn anzuhören, zu achten, »hat der Junge eine goldene Uhr. Wo hast du denn die her, Hannes?«

»Von meinem Herrn, weil ich einem seiner Freunde, einem Herzog, beim Deckscheuern einen Eimer voll Wasser über den Kopf gegossen habe, natürlich aus Versehen, als der Kerl gerade auf der Bank saß und Verse machte,« sagte Hannes stolz, »aber nun um Gottes willen, laßt mich doch einmal zu Worte kommen, ich habe ja keine Zeit mehr.«

Endlich war die Neugier der Matrosen befriedigt, und sie lauschten aufmerksam dem Vortrag, den der ehemalige Leichtmatrose, der Liebling aller, das Universalgenie der ›Kalliope‹, wie der Bootsmann öfters gesagt hatte, von der Kiste herunter hielt.

Hannes hatte entschieden Talent zum Volksredner.

Ebenso, wie er früher die Mannschaft bei Windesstille, wenn das Schiff träge auf der See schwamm und keine Bedienung nötig hatte, dadurch unterhielt, daß er alle die Pantomimen, Kouplets und Tänze wiedergab, die er in den Singspielhallen des letzten Hafens gehört und gesehen, so verstand er es ausgezeichnet, seine Zuhörer zu begeistern.

Bald dämpfte er seine Stimme zu einem Flüstern herab, bald donnerte er das Publikum an, einmal nahm sein Gesicht einen wehmütigen Ausdruck an, dann wieder blitzten die blauen Augen auf, dabei schlenkerte er mit Armen und Beinen wild um sich her; und die Zurufe, die ihn unterbrachen:

»Ist es möglich, der arme Kerl, so ein – Lump,« und so weiter, dazu ab und zu ein grimmiger Fluch, bewiesen, daß seine Rede ihren Eindruck nicht verfehlte.

»Na also,« schloß Hannes endlich, »ich brauche euch unbedingt, und ich nehme an, daß ihr bereit seid, den Kerlen ordentlich auf die Finger zu klopfen, wenn sie nicht artig sein sollten. Es ist jetzt elf Uhr, um zwölf sollen wir dort sein, eine halbe Stunde haben wir noch Zeit.«

»Hm,« meinte der Bootsmann vorsichtig, »du bist zwar ein schlauer, gewiefter Bursche, Hannes, kein Grünfink mehr, aber du kannst dich auch einmal täuschen. Weißt du bestimmt, daß der Mann dir nichts vorgeflunkert hat?«

»Unsinn,« rief Hannes erregt, »das ist ein Prachtkerl, eine ehrlichere Haut kann es gar nicht gehen. Und dann verkehrt er ja mit meinem Kapitän, das ist ein Lord, wie mit meinem Bruder, holt sich dessen beste Zigarren selbst aus dem Schranke und steckt sich beim Abschied noch ein halbes Dutzend in die Tasche.«

»Was für ein Landsmann ist er denn?«

»Er nennt sich Amerikaner, aber ich glaub's ihm nicht, er spricht das Deutsche wie Wasser, auch platt, wie nur ein Matrose. Und Fäuste hat der Kerl, trotz seiner zierlichen Gestalt. Ich sage euch, mir tun jetzt noch die Knochen weh, als er mich angefaßt hatte, obgleich ich doch auch nicht gerade von Kuchen bin. Aber Bootsmann, erst sprecht Ihr vorhin von Jugendmut und Gott weiß wovon sonst, und jetzt wollt Ihr mit einem Male nicht.«

»Donner und Doria,« schrie aber der Bootsmann, »ja, ich will, das Alter macht nur vorsichtig. Der Teufel soll die Kerls holen, wenn sie ihn nicht freigeben wollen. Solche Halunken, einen Menschen einzusperren, der gar nichts verbrochen hat! Verflucht, wenn wir das zulassen! Jungens, seht nach euren Messern, ob sie locker in der Scheide sitzen, wir werden es wahrscheinlich mit gelbhäutigem Gesindel zu tun haben. Doch erst gebt es ihnen mit den Fäusten, aber ordentlich!«

»Stop, stop,« lachte der Koch, »erst müßt Ihr den Steuermann fragen, ob Ihr an Land gehen dürft.«

»Der sagt nicht nein,« antwortete der Bootsmann, »der ginge am liebsten selbst mit. Und wenn er nein sagt, so spreche ich mit Hannes, dann gehen wir einfach so.«

»Hurra!« schrie Hannes und machte auf seiner Kiste einen Luftsprung, »Hurra, Jungens, glücken tut's auf jeden Fall und dann gibt's morgen abend ein Fest in Pollacks Tanzlokal, daß der Boden einbricht und die Wände umfallen. Jeden, den ihr leiden mögt, könnt ihr dazu einladen, möglichst viele, die Zöpfe im Genick hängen haben; das ganze Haus gehört uns, von oben bis unten, und was drin ist. Maate, das wird ein Fest, wovon sich die Bürger von Townville noch nach Jahrhunderten mit Ehrfurcht erzählen werden, wie die deutschen Seeleute der ›Kalliope‹ die Diele durchgetanzt haben. Prosit, es lebe Back- und Steuerbord.«

»Wäre gar nicht nötig,« brummte der Bootsmann, aber sein schmunzelndes Gesicht bewies, daß er der Einladung gar zu gern folgte.

Nur der Koch blieb von der Deckmannschaft zurück, alle anderen stiegen in die drei Boote, dieselben stießen vom Schiffe ab und verschwanden bald in der Finsternis.

Nicklas Sharp war nicht nur ein geschickter Detektiv mit scharfem Blick, er war auch ein Menschenkenner durch und durch.

Er hatte die Kunst, jemanden nach längerem oder kürzerem Verkehr zu beurteilen, zu durchschauen, zu einer förmlichen Wissenschaft ausgebildet, er beobachtete jeden, mit dem er zusammentraf, den er nur sah, auf das genaueste, studierte ihn, und wie überall Uebung den Meister macht, so auch hier.

Keine Handlung, kein Blick, nicht die geringste Bewegung entging dem Detektiven, wenn er den Charakter eines Menschen ergründen wollte, und schon nach der ersten halben Stunde konnte er sagen, was er von ihm zu halten habe.

Nicklas Sharp war Detektiv mit Leib und Seele, die Gabe hierzu war ihm angeboren, und so kam es, daß er sich ein System zurechtgelegt hatte, nach dem er die Menschen klassifizierte; eigneten sie sich zum Detektiven, nannte er sie brauchbar, eigneten sie sich nicht dazu, so nannte er sie unbrauchbare, unnütze Menschen.

Alle Charaktere der auf der ›Vesta‹ befindlichen Damen hatte er studiert; ohne es je gesehen zu haben, wußte er doch bestimmt, wie sie sich bei einzelnen Gelegenheiten verhalten würden, und dasselbe galt von den Herren des ›Amor‹. Von ersteren galten ihm Miß Thomson und Staunton brauchbar, von letzteren nur Sir Williams.

Das Wort ›brauchbar‹ hatte noch eine andere Bedeutung, als nur einen Unterschied zu bezeichnen.

Sharp besaß eine Leidenschaft für alle Menschen, die er brauchbar fand, sie zu Detektivdiensten und womöglich für seine eigenen Interessen zu benutzen; er wußte schon im voraus, ob sie seinen Plänen geneigt waren oder nicht. Waren sie es nicht, so richtete er es so ein, daß sie dennoch, ohne daß sie es wußten, in seinen Unternehmungen eine Rolle spielen mußten. Ob sie dies hinterher merkten oder nicht, das war ihm gleichgültig, wenn nur der Erfolg ein guter gewesen war.

Gar zu gern hätte er sich einige der Damen und Herren für seine Zwecke erzogen, diese, alle reich und unabhängig, kamen in der Welt herum, alle Mittel standen ihnen zu Gebote, und unter ihrem Schutze war man sicherer, als wenn die Polizei einen bewacht, dachte Sharp; aber die Sache hatte einen Haken. Sie alle waren aus vornehmen Familien und würden sich nie zu so etwas hergegeben haben, denn Sharp wußte wohl, daß, wenn die Beschäftigung eines Detektiven auch nicht gerade verachtet, doch ein solcher nicht gern gesehen wird, weil jeder glaubt, er wolle ihn beobachten.

Daß Hannes der Diener von Williams werden sollte, hatte Sharp vielleicht eher geahnt, als Hannes selbst. Er sah, mit welchem Wohlgefallen Williams den Leichtmatrosen beobachtete, sah sie zusammen an Bord der ›Kalliope‹ fahren, und sein Schluß war fertig. Nun studierte er den neuen Diener, immer nur aus der Ferne, und zu seiner unaussprechlichen Freude erkannte er in dem Burschen ein Genie, das zum Detektiven wie geschaffen war.

»Das ist ein Werkzeug für mich,« dachte er, »der muß mein werden. Der Junge ist witzig, energisch und etwas unverschämt, alles Eigenschaften, die ein Detektiv besitzen muß. Er gehört mir mit Leib und Seele, mag er wollen oder nicht. Er kann an Bord des ›Amor‹ bleiben, muß es sogar, aber alle seine Handlungen stehen von jetzt ab unter meinem Befehle.«

Wie wir gesehen haben, war Hannes nur zu gern bereit, dem Detektiven zu folgen.

Sharp hatte bereits den Ort ausspioniert, wo der Sträfling gefangen gehalten wurde, ferner, daß er nächste Nacht nach einem im Hafen liegenden Passagierschiff gebracht werden sollte, welches nach Sydney fuhr, und daß er unterwegs, oder in dieser Stadt entweder verschwinden oder doch für immer unschädlich gemacht werden sollte, war klar.

Man mußte ihn auf jeden Fall bekommen, ehe er auf das Schiff transportiert wurde. Aber wie?

Hätte er das Haus, worin sich Snatcher befand, mit Gewalt gestürmt, so wäre die Polizei, eine dem Detektiven verhaßte Einrichtung, dazwischengekommen und hätte sich des Befreiten wieder bemächtigt, und das zu verhüten, hatte sich eben der Detektiv in den Kopf gesetzt.

Auf alle Fälle brauchte er bei seinen Operationen einige verwegene, kräftige Leute, die hinter ihm standen, denn natürlich hauste hier eine ganze Bande, unter dem Befehle von irgend jemandem stehend, und die ließ sich ihr Opfer nicht so ohne weiteres aus den Zähnen reißen.

Die englischen Herren konnte er nicht gebrauchen, die mußten vielleicht schon morgen früh hinter der ›Vesta‹ herfahren, davon ließen sie sich doch nicht abbringen. Da fiel ihm die Besatzung der ›Kalliope‹ ein, das waren ehrliche, handfeste Kerle, gerade so, wie er sie haben wollte, und Hannes war ja gut Freund mit ihnen, also mußte der junge Bursche zum ersten Male benützt werden, und zwar dazu, diese zu überreden, bei dem Unternehmen mitzuwirken.

Er brauchte Hannes noch nicht, morgen war ja erst der bestimmte Tag, aber wer weiß, ob dann die ›Vesta‹ noch im Hafen lag, und da er überdies mit Lord Harrlington sprechen mußte, nahm er ihn schon jetzt von Bord, quartierte ihn in seinem Hotel ein, instruierte ihn und schickte ihn dann am Abend des anderen Tages nach der ›Kalliope‹ ab.

Während sich die Szene auf der ›Kalliope‹ abspielte, schlich sich der Detektiv, als ein einfacher Hafenarbeiter gekleidet, um ein kleines Haus, das etwas abseits von der Stadt, aber immer noch am Quai lag, nur etwa zehn Meter vom Steindamm des Hafens entfernt. Hinten schloß sich ein Gärtchen an dasselbe, in der Mitte Blumenbeete enthaltend, an der Seite aber mit dichten Büschen besetzt.

In diesen versteckt, hatte der Detektiv gestern abend gesehen, wie Snatcher, von zwei Männern begleitet, in das Haus getreten war. Der eigentliche Eingang befand sich vorn; sie aber waren durch den Garten gegangen, und deutlich hatte Sharp erkennen können, daß das Gesicht des Sträflings, welcher den grauen Leinwandanzug bereits mit einem anderen vertauscht hatte, wohl Spuren von Besorgnis zeigte, aber im ganzen eine freudige Erregung verriet.

Die Männer hatten ihm gesagt, sie wären von Lord Harrlington abgeschickt worden, sie brächten ihm einen Anzug mit, und redeten so freundlich mit ihm, daß er ihren Worten vollkommen Glauben schenkte.

Wieder, wie gestern abend, hob der Detektiv eine Latte aus dem Staket, kroch durch die so entstandene Lücke in die Büsche und legte sich auf den Boden, der kommenden Dinge harrend.

Es war ein Zufall, daß er sich, als er Snatcher von der Brücke abholen gesehen hatte, sofort hierher gewendet hatte. Dieses Haus, obgleich er noch nie vorher in Townville gewesen, war ihm doch als ein solches bekannt, in dem sich rätselhafte Dinge zutrugen; es mußte allerlei Geheimnisse bergen. Sollte Snatcher versteckt werden, so konnte es in keinem anderen Hause geschehen als hier, dachte Sharp, und er hatte sich nicht getäuscht.

Aber wo? Im Keller? Lächerlich. Unter den Männern, welche den Sträfling hierhergebracht, hatte Sharp einen erkannt, der ihm an Schlauheit fast glich, seinen Todfeind. Einst war er gleich ihm Detektiv gewesen, ebenso bekannt wie er, gleich gewandt im Maskieren, gleich energisch, gleich begabt; aber er hatte sich einst bestechen lassen, die Sache war ruchbar geworden, er hatte sich der Justiz entzogen, und der einstige Detektiv war zum Verbrecher geworden. Sie waren früher einmal gezwungen worden, zusammen zu arbeiten, damals schon hatte sein Nebenbuhler, der die größeren Fähigkeiten bei Sharp erkannte, angefangen, diesen zu hassen, und dann, als Sharp ihm zufällig eine Prämie wegschnappte, eine hohe Summe, die auf einen wegen Unterschlagung verfolgten Kassierer gesetzt war, da hatte sich sein Haß in Todfeindschaft verwandelt.

Seit Tannert die Verbrecherlaufbahn beschritten, hatten sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt. Früher hatte Sharp ihn gemieden, denn er war im ganzen genommen ein gutmütiger Mann, der mit seinen Kollegen möglichst in Frieden leben wollte, Brotneid gab es bei ihm überhaupt nicht.

Aber jetzt! Das war etwas anderes. Tannert stand im Dienste des Meisters, war wahrscheinlich hierher berufen worden, um die Verfolgung Ellens aufzunehmen, so glaubte Sharp wenigstens – er wußte in dieser Sache schon sehr guten Bescheid und hatte jetzt vorläufig die Aufgabe bekommen, den Snatcher unschädlich zu machen.

Gegen Tannert als Verbrecher mußte Sharp den Kampf aufnehmen, unerbittlich, einer von ihnen mußte das Feld räumen. Die Aufgabe war nicht leicht, denn, wie gesagt, Tannert war dem Detektiven fast gewachsen, aber, je länger Sharp sich alles dieses überlegte, destomehr freute er sich darauf, sich mit diesem Feinde zu messen.

Du oder ich, dachte Sharp, die Folge wird zeigen, wer dem anderen überlegen ist.

Der Detektiv erwartete bestimmt, daß Snatcher noch diese Nacht auf den Passagierdampfer gebracht würde, der morgen früh nach Sydney fuhr, aber, da er dann das falsche Spiel merken würde, welches mit ihm getrieben, so würde er ohne allen Zweifel auf irgend eine geheimnisvolle Weise an Bord befördert werden, und dies wollte Sharp ausspionieren und den Sträfling dann befreien, mit List oder Gewalt.

Jetzt war es halb zwölf Uhr, in einer halben Stunde sollte Hannes mit den Matrosen der ›Kalliope‹ dort hinten am Waldrand sein.

Plötzlich legte der Detektiv sein Ohr dicht an den Boden, fast war es ihm, als hätte er unter sich ein Geräusch gehört.

»Ein Keller,« murmelte er, »es sind Schritte.«

In der Tat vernahm er jetzt unter sich Schritte, es entging dem scharfen Ohr des Detektiven nicht, daß sie sich vom Hause entfernten, und zwar konnte er lange den dumpfen Schall hören, also mußte der Keller sehr groß sein.

Da raschelte es außerhalb des Zaunes im Laube, es versuchte jemand, sich dem Garten zu nähern, und Sharp krümmte sich wie ein zum Sprung bereites Raubtier zusammen; er hatte eine Gestalt erkannt, die auf Händen und Füßen dem Garten zukroch.

Im nächsten Augenblicke aber lag er dicht am Zaun.

»Hannes,« flüsterte er, »was treibt dich Unglücksmensch hierher?«

»Ich mußte,« klang es zurück, »da, wo wir liegen, dringt ein seltsames Geräusch aus der Erde, gerade, als wenn gehämmert würde.«

»Wo liegt ihr?«

»Wohl hundert Meter von hier entfernt.«

»Seit wann hört ihr es?«

»Ungefähr seit fünf Minuten. Erst glaubten wir, es sei ein Fuchsbau, und die Tiere machten ein sonderbares Geräusch, aber dann vernahm ich ganz deutlich, wie ein Schritt unten erklang, der Lärm hörte auf, und als es dann wieder einsetzte, wußte ich, was es war: Es wird gehämmert, gerade, als, wenn der Böttcher Reifen um ein Faß legt.«

»Gut, mein Junge, daß du zu mir gekommen bist,« flüsterte der Detektiv, »jetzt krieche hier herein und gib Achtung, wenn jemand aus der Tür kommt. Passiert dir etwas, so brauchst du nur einen Pfiff auszustoßen, und ich bin bei dir.«

Als Hannes durch den Zaun geschlüpft war und neben dem Detektiven lag, kroch dieser aus dem Garten und schlich dahin, wo sich die Matrosen der Kalliope versteckt hielten, um sich von dem Vorhandensein des unterirdischen Geräusches selbst zu überzeugen.


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