Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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LII.

Glaubte Rosa, daß sie für alle ihre guten Werke und für das, was Valär ihr Vorsehungspielen nannte, und für ihre vorbildlichen Leistungen auf dem Gebiet der konstruktiven Agrarpolitik nicht so viel Beifall in der Oeffentlichkeit fand, wie sie verdient zu haben meinte, und dachte sie, sie müsse den Beifall sich selber geben, wenn sie mehr davon haben wollte, als sie empfing?

Jedenfalls hatte sie während der Wochen vor Weihnacht mehrere lange Besprechungen mit dem Rechtsanwalt Heß, in denen auch von dem beleidigenden Steuerdruck die Rede war, dem sie sich neuerdings ausgesetzt fühlte. Als sie das Sanatorium wieder flott gemacht und dadurch nicht wenigen Leuten zu Brot und Arbeit verholfen hatte, damals hatten Gemeinde und Kanton ihre Steuererklärungen stillschweigend anerkannt, – es waren ja so große Summen, die sie den öffentlichen Kassen zufließen ließ, daß die Gemeinde ihren Steuerfuß sogar hatte herabsetzen können, und das in einer Zeit, in der er überall stieg, weil die durch die Frankenentwertung und die Kriegswirren verschuldete, unaufhaltsam wachsende Teuerung die öffentlichen Lasten beständig vermehrte.

Jetzt, wo sie Land genommen und sich darauf festgesetzt hatte wie ein Baum, der dort zu leben und zu sterben gedenkt, nahm man ihre Steuererklärungen nicht mehr mit einer hochachtungsvollen Verbeugung entgegen und sagte »Danke« dazu. Der Steuerkommissär, den sie bisher nie zu Gesicht bekommen hatte, stellte ihr vielmehr eine Vorladung zu mit Angabe von Tag und Stunde, in der sie vor ihm zu erscheinen hätte, in der Gemeindekanzlei, um sich durch Vorlage ihrer Geschäftsbücher, der Abrechnungen mit Banken und durch sonstige Belege für Erwerbseinnahmen und Vermögensbestand darüber auszuweisen, daß ihre Erklärungen richtig waren oder zum mindesten abgefaßt nach bestem Wissen und Gewissen, wie das Gesetz es befahl.

»Diese Behörden! Für was alles halten sie sich nicht legitimiert«, rief Rosa aus und ließ ihre grünen Augen erbittert über den Schreibtisch des Rechtsanwalts gleiten. Da war doch vor wenigen Jahren diese häßliche Geschichte mit den Landspitälern gewesen 499 – wie hatten die Behörden sich damals aufgeführt! Ob sich der Herr Doktor erinnern könne?

Der Rechtsanwalt schüttelte bedächtig seinen verträumten Kopf, holte sich ein Bonbon aus seiner Vorratsbüchse und wußte von nichts. Er hatte damals ja noch nicht die Ehre gehabt, Rosa zu dienen.

Oh, dann müsse sie es ihm aber doch in aller Kürze erzählen.

Also da waren die Landspitäler, und diese Spitäler arbeiteten durchwegs mit Verlust, nicht ausgenommen dasjenige in Escholzwil, dessen medizinische Leitung in jährlichem Turnus zwischen Dr. Elmenreich und seinem Ortskollegen gewechselt hatte, bis im vorigen Herbst ein eigener Spitalarzt angestellt worden war. Angeblich war der Hauptgrund für diese Defizitwirtschaft, daß infolge der bescheidenen finanziellen Leistungsfähigkeit ihrer Kundschaft die Verpflegungsgebühren über einen gewissen Tagessatz nicht erhöht werden konnten, der die Kosten nicht deckte. Den Spitalsitz-Gemeinden konnte nach allgemeinem Dafürhalten die Bestreitung der Defizite nicht aufgehalst werden, weil sie den spitallosen gegenüber sonst ungerechtfertigt benachteiligt waren. Traditionsgemäß wurden deswegen die Fehlbeträge mit 90 Prozent durch den Kanton beglichen und mit 10 Prozent durch die Spitalsitzgemeinde.

Der neue Finanzdirektor wollte diese Abmachungen beseitigen. Er verlangte, daß sich die Landspitäler in Zukunft aus eigenen Mitteln erhielten. Sparen, rief der Finanzdirektor. Straffere kaufmännische Leitung, sagte er, Einkauf der Waren und Medikamente bei den billigeren Großlieferanten, nicht bei den Detaillisten und Apothekern am Ort. Dadurch könnten die Ausgaben bedeutend verringert werden. Und wenn die Bilanz durch diese Maßnahmen noch immer nicht ins Gleichgewicht komme, so müsse man eben die Gebühren entsprechend erhöhen. Der Kanton könne in Zukunft nicht mehr den rettenden Engel spielen. Er brauche sein Geld dringend für andere Zwecke. Sela und Amen!

Gegen dieses Regierungsprojekt habe Dr. Elmenreich, dieser untadelige Mensch und Arzt, in der Aerztezeitschrift Stellung genommen. Sparen sei schön. Aber man scheine in den Kreisen 500 der hohen Regierung vergessen zu haben, daß die Landspitäler keine kaufmännischen Unternehmungen mit Renditeverpflichtung sind, sondern Werke der Wohlfahrt, die in erster Linie denen zu gut kommen sollen, die schon in gesunden Tagen kaum ein hinreichendes Auskommen finden und in kranken Tagen erst recht nicht die Mittel zur Selbsthilfe haben. Entsprungen der Idee der Barmherzigkeit, könnten diese Werke der Wohlfahrt nur durch allgemeine Opfergaben erhalten werden. Diese Opfergaben habe der Staat bisher stillschweigend in Form von Steuern eingezogen und dadurch jeden Einzelnen von dem Vorwurf der Gewissenlosigkeit gegenüber den minder bevorzugten Volksgenossen automatisch befreit. Es wäre gefährlich, dieses wohltuende Bewußtsein der Mitwirkung an einem charitativen Werk durch Aufhebung der Staatszuschüsse auszurotten, und auf der andern Seite durch eine Erhöhung der Gebührenordnung die Bedürftigen noch mehr zu belasten, als sie es so schon sind. Außerdem sei es unsozial, durch Umlenkung der Bezüge auf den billigeren Grossistenmarkt und durch ähnliche Sparmaßnahmen die kleinen Landapotheken und Geschäftsleute am Ort um eine Einnahmequelle zu bringen, die ihre Existenz tragen helfe. Irgend ein sogenannter Patriot aber habe im Bezirksanzeiger Herrn Dr. Elmenreich für seine Stellungnahme geradezu angespuckt, so daß sie das widerliche Treiben nicht mehr länger mit ansehen konnte. Sie habe daher durch einen Scheck, der das Escholzwiler Spitaldefizit für einmal beglich, den Schreiern das Mundwerk gestopft.

Und nun komme man ihr in dieser Weise – behandle sie wie irgend einen Pintenwirt, dem man aus Mangel an sozialem Gefühl weiß Gott welche Steuerhinterziehungen zutrauen könne. Sie hätte die größte Lust, hier alles im Stich zu lassen und ihren Wohnsitz in einen andern Kanton zu verlegen, zum Beispiel in den Tessin . . .

Nachdem der Rechtsanwalt sie für ihren Scheck hinreichend bewundert und ihr Gemüt beruhigt hatte, leistete Rosa der Vorladung aber doch Folge, sogar persönlich. Der Herr Kommissar nahm flüchtig Einsicht in ihre Belege, erklärte dann aber mit einem verbindlichen Lächeln, diese seien ja so vielseitig und umfangreich, daß er ihr nicht zumuten könne, in diesem 501 ungemütlichen Raum bei ihm sitzen zu bleiben, bis er sie so eingehend nachgeprüft habe, wie seine Pflicht es verlange, und lud sich selbst zu diesem Zweck für einen Besuch bei ihr ein.

Eines Morgens kam er dann wirklich angerückt, sogar mit einem Gehilfen, und saß volle drei Tage auf ihrem Büro, alles durchschnüffelnd, was überhaupt zu durchschnüffeln war. Dazu rauchte er Stumpen von einer so niederträchtigen Sorte, daß man hätte glauben können, irgendwo im Möbelroßhaar motte ein Feuer.

Und der Erfolg dieser Belästigung? – Egli hatte behauptet, daß sie nicht nur eine Entschuldigung verdient habe, sondern daß sie geradezu ein Diplom für ihre musterhafte Buchführung beanspruchen könne. Aber er hatte vorsichtig hinzugefügt, daß es auf dieser Welt keinen Zusammenhang gebe zwischen den Verdiensten, die einer hat, und der Belohnung, die er dafür empfängt, und er hatte mit dieser Sentenz, die von einem Abreißkalenderblatt stammte, auch recht behalten.

Denn statt eines Diploms waren Nachforderungen gekommen. Am Einkommenteil hatte es Korrekturen nach oben gegeben, auch in der Vermögensrubrik waren gewisse Posten auf dem Weg von der Buchhalterei bis zur Steuererklärung auf rätselhafte Weise verloren gegangen. Das wurde nun nachgeholt, für das vergangene und das vorvergangene Jahr. Der Herr Kommissar hatte sogar durchblicken lassen, immer mit dem nötigen Respekt vor Rosas produktiver Persönlichkeit, sie dürfe heilfroh sein, daß man die Nachprüfungen nicht auch auf die vorausgehenden Steuerjahre ausdehnen werde. Die Differenzen waren an sich nicht erheblich. Auch in den Rahmen der Fehler, die bei bestem Wissen und Gewissen einem Staatsbürger unterlaufen konnten, gingen sie noch ohne besondere Kunstgriffe hinein. Immerhin wurde Rosa damit um einige Steuerklassen höher hinaufgesetzt, und da mit jeder Klasse auch die Abgaben prozentual ganz bedeutende Sprünge machten, besonders je höher man stieg, und Rosa ohnedies schon zu den obersten Klassen gehörte, kamen schließlich doch noch recht erkleckliche Nachforderungen heraus, die Rosa mit erbittertem Gesicht und unbestimmt raschelnden Schmerzenslauten quittierte. 502

»Wir können ja Rekurs erheben, wenn Sie sich zu Unrecht benachteiligt fühlen«, sagte der Rechtsanwalt Heß.

Rosa lehnte dieses Ansinnen ab.

»Ach nein, lieber nicht!« seufzte sie. »Seit langem bin ich ja ohnedies überzeugt, daß Armut der einzige rechtmäßige Zustand ist, der auf dieser Welt existiert . . . Gehen wir lieber diesem Zustand noch ein paar weitere Schritte entgegen. Aber ein netter Weg muß es sein, auf dem wir dabei wandern, keine Dornenallee – das bitt' ich mir aus.« – Und sie hatte einen solchen netten Weg schon im Kopf, als sie das sagte.

Nachdem der fragliche Weg zwischen dem Rechtsanwalt und ihr dann hinreichend abgetastet worden war, setzte der Rechtsanwalt ein Schriftstück auf, das Rosa unterschrieb und am Heiligen Weihnachtsabend allen Interessenten zur Kenntnis brachte.

Mit diesem Schriftstück trat Rosa ihren gesamten in der Gemeinde Escholzwil liegenden Grundbesitz, soweit er nicht zum Sanatorium gehörte, samt den Gebäuden, die er trug, und deren lebendem und totem Inventar an eine Genossenschaft ab, der sie die Form einer Stiftung gab, und der außer ihr ihre sämtlichen augenblicklichen Festangestellten, soweit sie im Betrieb des Gutes und der Gärtnereien beschäftigt waren, als gleichberechtigte Teilhaber angehörten. Der Genossenschaftsbesitz war unveräußerlich. Während der Reinertrag bisher jedoch ihr zugefallen war, flossen von jetzt an 50 Prozent davon in einen Reservefond, dessen Mittel für Instandhaltung, Verbesserungen, Erweiterungen und zur Tilgung eines gelegentlichen Verlustes bereitstehen sollten. Die restlichen 50 Prozent wurden in so viele gleiche Teile zerlegt, als die Angestellten zusammen Dienstjahre hatten. Wer auf ein Dienstjahr zurückblicken konnte, bekam einen Anteil, wer zwei hatte, zwei und so weiter, und zwar unbekümmert um den hohen oder niederen Grad, den er in der Lohnliste einnahm. Wer später einmal vierzig Dienstjahre hatte, würde also vierzig Anteile des Reingewinns beziehen. Daneben empfing jeder seinen vertragsmäßigen Lohn und die vereinbarten Leistungen an Wohnung oder Verpflegung. Später eintretende Angestellte sollten jeweilen nach Ablauf von zwei Jahren ebenfalls die Rechte als Genossenschafter 503 erhalten. Wer ausschied aus dem Dienst, schied damit auch aus der Genossenschaft und allen Ansprüchen aus. Rosa selbst verzichtete auf jede Beteiligung am Ertrag. Nur den Anspruch auf gewisse Naturalbezüge hielt sie sich offen. Sie behielt auch das Recht der Anstellung und Entlassung.

Wieder zwei Fliegen mit einem Schlag! Denn auf der einen Seite schied Rosa damit aus der persönlichen Steuer für ein großes Besitztum, das sich nicht verbergen ließ, aus und mußte deswegen künftighin im Abgabenregister wieder um einige Klassen zurückgesetzt werden. Auf der andern Seite aber glänzte sie noch heller denn bisher als jene Arbeitgeberin von idealem Format, die dem Gedanken der sozialen Solidarität ein greifbares Opfer brachte und der von allerlei tödlichen Krämpfen geschüttelten Gegenwart vorauseilte als Schrittmacherin einer neuen Zeit, der die eigensüchtige Ausbeutung der wirtschaftlich Schwachen nur noch als üble Legende bekannt war.

»Bei ihr muß man nicht mit Arbeitsniederlegung und ähnlichem drohen, bis man schließlich eine Lohnaufbesserung von vier oder fünf Rappen in der Stunde bekommt wie bei gewissen Großunternehmen, wo die Herren Aktionäre außer fünfzehn und zwanzig Prozent Dividende auch noch Gratisaktien einstecken müssen, damit der Gewinn überhaupt einen Unterschlupf findet«, sagte der Verwalter beim Bier in der »Rose«. »Sie weiß, was Kameradschaft heißt – und deswegen wissen auch wir, was wir ihr schulden.« –

 

»Und was machen wir nun mit dieser Frau Ellegast?« fragte Rosa den Rechtsanwalt Heß, nachdem die Genossenschaftssache im reinen war.

Der Rechtsanwalt, den der Gedanke an das heiße Blut, das auf den Schlachtfeldern täglich floß, manchmal wirklich ganz kopflos machte, blickte auf seine Armbanduhr und schüttelte sie, weil er den Eindruck hatte, daß sie schon wieder nicht ging.

»Ich wundere mich, daß die Dame noch nicht da ist«, sagte er aufs Geratewohl. »Ich habe sie auf elf Uhr bestellt. Sie hat auch zugesagt. Ich wundere mich wirklich.« 504

»Es ist noch nicht elf«, erwiderte Rosa. »Es ist ein Viertel davor. – Glauben Sie, Sie finden eine erträgliche Lösung?«

»Ich muß zuerst mit ihr gesprochen haben.«

Rosa erhob sich.

»Dann denken Sie, bitte, daran, daß ich wirklich nicht noch für beliebig viele dieser Radaukonzerte die Kosten bezahlen kann und dazu noch das Honorar. Jetzt habe ich für drei im ganzen bezahlt. Ich möchte nicht noch weitere Skandale finanzieren, ausschließlich ihr und den hinteren Rängen zur Freude.«

»Ja, auch Wohltaten machen mitunter Grundlawinen«, sagte der Rechtsanwalt leise und wiegte den Kopf. »Längst weiß ich das. Aber ich hoffe, daß ich mich mit der Dame werde abfinden können in einer Art, die Ihnen gefällt.«

Rosa ging, und mit verträumten Augen schaute ihr der Rechtsanwalt nach . . . Nein, der Verwalter hatte mit seinem Urteil über Rosa doch wohl übertrieben. Die Perspektive des Nahen verwirrte seinen gesunden Blick. Der Rechtsanwalt sah sie aus größerer Distanz und glaubte zu bemerken, daß sie eher etwas wie eine jener bunten Insektenmaden war, die sich oft häuten und bei jeder Häutung dem ätherischen Insekt, dessen Vorform sie sind, scheinbar ein wenig näher kommen. Aber jedesmal fallen sie in ihre von toten und kranken Gebilden sich nährende, ewig hungrige Freßform zurück, und bei der letzten Häutung ersticken sie, weil sie so stark am Moder kleben, daß ihnen die vollständige Ablösung von ihm nicht gelingt. Sie sind ein Uebergang, aber ohne die Fähigkeit, sich zu vollenden.

 


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