Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XLIV.

Über dem Konzertunfall wuchs Gras. Auch Rosa beruhigte sich. Ebensowenig machte sie Miene, sich um Neles Ruf von neuem besorgt zu zeigen, nachdem allen Anzeichen nach ihre früheren Vorstellungen an dem Mädchen wirkungslos abgeprallt waren. Sie wälzte neue Pläne im Kopf, und eines Tages, als Nele mit einem Armvoll neuer schöner Bambusstäbe und einem Kranz Bast durch den Garten ging, um die Fingerhüte und den Phlox aufzubinden, trat sie zu ihr und sagte:

»Liebes Kind, es wird gut sein, wenn du alles hier so weit in 428 Ordnung bringst, daß du ends dieser Woche für etwa drei Tage abkommen kannst. Ich fahre schnell ins Tessin, und Zünd und du, ihr sollt mich als Berater begleiten.«

»Gut«, sagte Nele erwartungsvoll.

»Es ist mir dort etwas angeboten, bei Agno, der ehemalige Sommersitz eines Mailänder Seidenherrn, ein kleiner alter Palazzo, etwas verwahrlost, wie man mir sagt, aber guter Stil, mit Kastanienwald, Reben und Seeanstoß, in der Höhe ein kleines Pächterhaus, alles ziemlich verwildert. Wir wollen uns überlegen, was sich damit machen läßt. Es ist noch eine zweite Offerte da, aus einer Gegend, die mir freilich nicht so behagt. Auch diesem Besitztum machen wir einen Besuch.«

Rosa machte wieder ihr Fünfzigernotengesicht, als sie das sagte, und als Nele ihr Vergnügen nicht unterdrücken konnte, nickte sie ihr beifällig zu, beinahe süß, und ging weiter. Gleich danach, als Nele sich schon wieder über die jungen Pflanzen beugte, blickte Rosa noch einmal über die Schulter zurück, und ein spitzes Lächeln schoß aus den grünen Augen unter ihr rotes Haar.

Nele freute sich auf die Fahrt, zu der die Bahn benutzt werden sollte. Sie war um diese Jahreszeit noch nie im Tessin gewesen, und noch am Abend teilte sie das bevorstehende Ereignis Valär auf einem Zettelchen mit, weil es keine Möglichkeit gab, ihn noch vorher zu sehen. Er trug zwar wieder sein Zivilgewand, aber Arbeit hielt ihn ihr fern.

Nach der Rückkehr war Nele zwar glücklich, als Seline ihr sagte, daß Herr Valär auf dem Vorplatz im Garten sei, aber das Herz war ihr schwer, und als Valär sie besorgt fragte: »Kind, bist du krank?« entgegnete sie:

»Frau Dr. Streiff will das Gut bei Agno kaufen. Ich soll in nächster Zeit meine Koffer packen und meinen hiesigen Arbeitsplatz mit einem Arbeitsplatz dort unten vertauschen.«

»Gartenanlage und so?« fragte Valär.

»Zuerst mich einleben ins Ganze. Dann einen Plan entwerfen für eine gründliche Restauration. Das Terrain und die alten Baumbestände sind wirklich herrlich, und es ließe sich sehr viel machen damit. Wenn wir dann einig sind über die Herrichtung, 429 soll ich weiterhin unten bleiben und die Ausführung leiten. Natürlich würde das viele Monate dauern, aber sie sagt, auf Zeit käme es ja nicht an, Zeit gäb's immer neue . . . Herr Valär, ich glaube, Frau Dr. Streiff will mich von Ihnen trennen.«

Valär war nicht so aus den Wolken gefallen bei diesem Schlußbekenntnis, wie Nele erwartet hatte. Ueberrascht war er, das sah sie. Sein Gesicht verfinsterte sich. Etwas tat ihm weh, genau wie auch ihr. Aber irgendwo in dem weiten Gefüge von Vorstellungen, die sich mit dem Namen seiner früheren Verlobten verbanden, schien es einen Platz zu geben, den Nele nicht kannte, und dort fügte sich diese Neuigkeit offenbar ein, nicht ganz glatt, aber es gab doch die Möglichkeit, sie dort unterzubringen und damit eine Lücke im Gewebe zu schließen.

»So – Soso – –!« sagte Valär, und dann schwieg er lange.

Plötzlich ging er ins Zimmer, kam gleich danach zurück, mit einer Flasche und zwei kleinen Gläsern, schenkte ein, schob ihr eines der Gläser zu, forderte sie zum Anstoßen auf, trank und setzte sich ihr gegenüber. Während er sich hinsetzte, sagte er:

»Aber wie kommst du darauf, daß sie dich von mir trennen möchte?«

Nele hatte immer gehofft, daß sie nie genötigt wäre, etwas von jener peinlichen Auseinandersetzung verlauten lassen zu müssen, die an einem grauen Wintertag von Rosa heraufbeschworen worden war durch ihre Frage: »Aber, sag mal, Kind, fürchtest du nicht für deinen Ruf?« Denn seit dies geschehen war, hatte sie sich an Valär nur noch inniger angeschlossen, als wäre dieses ihr bester Schutz gegen mißvergnügte Verdächtigungen jeglicher Art, einerlei, woher sie kamen, und auch der beste Hort ihrer Freundschaft. Nun aber brach der Damm, und sie sagte ihm alles. Auch das mit dem Glück und den Spiegeleiern sagte sie ihm, und nur Rosas Aeußerungen über seine Herkunft verschwieg sie.

Valär dachte zurück an die Zeit, von der Nele sprach, und an das, was seither geschehen war. Und all die vielen kleinen, losen Begebenheiten, an die er sich entsann, die starkfarbigen und die mattgetönten, begannen sich zu etwas zu ordnen, was folgerichtig in sich zusammenhing: Neles wachsendes Bedürfnis nach 430 Zärtlichkeit . . . Daß sie einmal zu ihm gekommen war, nach einer sehr strengen Arbeitswoche, und ihm jauchzenden Mundes versichert hatte, alles sei so kinderleicht, wenn sie an ihn denke, ihre Ausdauer sei noch einmal so groß, ihr Schlaf noch einmal so gut . . . Daß sie sich eines Abends im Zimmer drin an jene Tischkante lehnte, die er jetzt, bei einer Drehung des Kopfes, im Halblicht verschwinden sah: den Leib prall nach vorn gewölbt, den Oberkörper straff nach hinten gebogen, den Mund voller Lachen, und daß sie so, mit schiefem Kopf, zu ihm herunterblickte, nicht ahnend, wie herausfordernd sie vor ihm stand – und wie sie mit einem Schlag doch ganz leicht befangen wurde und schließlich wegging vom Tisch, ganz rot und beinahe verwirrt, und in den Schatten trat, damit er ihre Verwirrung nicht sähe.

Und dann die Zettelchen, die sie ihm während der Dienstzeit geschickt: wenige Sätze, hingeworfen auf ein Fetzchen Papier, das sie gerade zur Hand gehabt hatte, oft nur mit Bleistift geschrieben, ohne jegliche Aufmachung, und gerade dadurch so bestechend – wie hatte er sie als liebe Boten begrüßt! Wie war er stolz und glücklich gewesen, daß es auf dem Höhenrücken, auf dem er sich angebaut hatte, ein Mädchen gab, ein junges, kräftiges, zukunftsvolles Geschöpf, das ihn auf solche Weise im Herzen trug und ihm dadurch Freude um Freude schuf, daß es ihm davon ein Zeichen sandte. Ihre Gefühle, das wußte er jetzt, gehörten ihm, er war ihr der Nächste. Er bezweifelte auch nicht mehr, daß das mit ihren Gefühlen immer so gewesen war, seit sie überhaupt Gefühle hatte und etwas für männliche Wesen empfand. Aber er hatte Nele ihre Aufmerksamkeit bisher nur mit einer warmen Zuneigung, mit gleichbleibender Aufmerksamkeit, mit Treue und einer gewissen geduldigen Güte vergolten – bis auf ein einziges Mal . . .

Jetzt ging er auf Nele zu, und während er sich nicht mehr scheute, sein Gefühl für das Mädchen Liebe zu nennen und dieser Regung nachzugeben, bloß weil es herrlich war, ihr nicht zu widerstehen, nahm er sie in seine Arme und küßte sie, so wie sie war und vor ihm stand, noch ganz bestürzt von ihrem Bericht über den Vorfall mit Rosa. Dann lockerte er seinen Griff um ihren Rücken, faßte jeden ihrer Oberarme, die sie eng an sich preßte, 431 von vorn mit einer Hand, und während sie sich Brust an Brust gegenüberstanden, Nele in einem blaßgrünen Strickkleid mit kleinen Knöpfen, die gefärbt waren wie ihr Haar, sagte er mit warmer ruhiger Stimme:

»Du könntest das Richtige mit deiner Vermutung getroffen haben. Ich bin sogar überzeugt, daß es so ist, wie du sagst. Auch mich hat sie einmal gegen dich scharfmachen wollen, auf sehr kindische Weise, nur um mich zu verletzen . . . Was wirst du nun tun?

»Ich werde das tun, was Sie für das Beste halten.«

Er blickte sie aufmerksam an, trat ein wenig zurück, blickte sie abermals an, schüttelte sie ganz leicht und erwiderte:

»Jetzt machst du dir etwas vor. Du weißt genau, was du willst, und wärst wenig erbaut, wenn ich dir zu etwas riete, was dir nicht genehm ist.

Langsam ließ er sie los, blieb aber stehen.

Nele senkte den Kopf und erwiderte ungezaudert:

»Allerdings. Was ich möchte, das weiß ich.« Sie errötete leicht, und als sie seinen Blick immer noch auf sich ruhen fühlte, fuhr sie fort: »Am liebsten lehnte ich ab und sagte ihr das schon morgen.«

»Dann wirst du entlassen. Verlaß dich darauf. – Was dann?«

Neles Kopf sank noch tiefer. Sie zupfte an ihren Fingern und schwieg.

»Du mußt damit rechnen, daß sie über die Menschen nur so weit herrschen kann, als ihr Machtapparat das erlaubt. Sie unterwirft sich vieles damit, nur nicht ihre Herzen«, sagte Valär. »Du mußt auch damit rechnen, daß sie das weiß, und daß sie das kränkt. Es ist deswegen auch nicht ihre Art, mit offenen Waffen gegen andere anzutreten. Vielleicht würdest du ihr daher nur den größten Gefallen tun, wenn du dich widersetzest.«

»Sie meinen also, ich solle mich fügen?«

»Liebling, ich meine, daß etwas da ist, was fortgeführt werden muß«, entgegnete er, jedes Wort sorgsam erwägend. »Hindernisse hin oder her: – jenes Etwas muß fortgeführt werden. Vielleicht türmen noch viele Hindernisse sich auf. Keines von uns kann das wissen. Es muß trotzdem fortgeführt werden.« 432

Abermals blickte ihn Nele erwartungsvoll an.

»Ich meine deswegen, daß es am besten ist, wenn du deine Entscheidung noch offen läßt, bis sie wirklich von dir verlangt wird. Denn du weißt nicht, was vorher noch geschieht.«

Nele fühlte, daß sie zu dieser Erklärung etwas ganz Bestimmtes meinte und sagen wollte. Aber sie konnte sich nicht verständlich machen, weder sich selber noch ihm. Nie hatte es ihr so an Worten gefehlt wie jetzt, und sie spürte, daß auch die Muskeln ihres Gesichts und ihres Körpers, diese Instrumente einer tonlosen Sprache, versagten. Aber sie vertraute seiner größeren Klugheit, und deswegen sagte sie: »Ja!«

 

Rosa kam nicht mehr auf ihr neues Vorhaben zurück, und Nele setzte mit altem Eifer ihre geliebte Tätigkeit fort. Auch an ihren Besuchen bei Valär strich sie nichts ab. Einmal ritten sie sogar zusammen aus, jedes auf einem Bauerngaul. Es waren die Gäule von Selines Bruder.

Und ihr Herz wuchs weiter in der Richtung auf ihn. Es wuchs darin die Glut, aber es wuchs auch eine leise verworrene Traurigkeit, die sie nicht meistern konnte. Das war ihr neu.

Nele ging mit sich zu Rat und prüfte sich, ob ihre Traurigkeit etwas mit Dinah und einer heimlichen Eifersucht auf dieses Mädchen zu schaffen habe. Sie hatte Dinah auf einem Postgang getroffen, unten in der Gemeinde, hatte sie begrüßt und mit ihr gesprochen. Dinah hatte ihr gesagt, daß sie ihren Pflegerinnenkurs hinter sich habe; sie sei jetzt Sprechstundenhilfe bei ihrem Vater. In dringenden Fällen springe sie auch den beiden Gemeindekrankenschwestern, die mit Arbeit überlastet waren, als Helferin bei. Augenblicklich fuhr sie auf ihrem Rad mit einer gefüllten Eßgarnitur zu einer Wöchnerin, die Zwillinge hatte. Sie hatten beide mit den Augen Maß voneinander genommen, Dinah und sie. Dinah war beinahe gesprächig gewesen. Etwas hatte Nele auch jetzt wieder an diesem Mädchen gefallen, das mit seinem dunklen Scheitel ihr selbst nur bis ans Kinn ging: Dinah schien so fest und frei heraus auf ihren Beinen zu stehen, daß es 433 Kümmernisse und unlösbare Probleme für sie nicht gab. Auch hübsch und frisch sah Dinah aus; sie hatte eine wunderbar glatte Haut mit einem edlen gelblichen Elfenbeinschimmer, und das braune und das blaue Auge gaben ihrem ganzen Wesen einen fremdartigen eigenen Reiz. Mit einemmal hatten sie sich nichts mehr zu sagen gehabt, und jedes war seiner Wege gegangen.

Vor kurzem hatte Dinah abermals ihren Weg gekreuzt. Nele war auf dem Weg zu Valär. Er hatte geklagt, daß die Schnecken fast alle seine jungen Sonnenblumen gefressen hätten. Nun war sie, trotz des Sonntags, in aller Frühe in die Gärtnerei gegangen und hatte aus den Restbeständen ihrer eigenen, für Rosas Garten bestimmten Kultur die kräftigsten Stücke ausgelesen, um sie bei ihm einzupflanzen. Nele befand sich mit ihrem töpfchengefüllten Henkelkorb schon nahe bei Valärs Haus, als sie Dinah auf ihrem Rad von der Gegenseite her in den Zufahrtsweg einbiegen und eilig dem Eingang zustreben sah. Da machte sie kehrt, versteckte den Korb im nahen Wald und ging auf einem Umweg wieder heim: sie wollte nicht stören. Aber als sie am Abend wiederkam, waren der Korb und die Töpfe verschwunden. Die Pflänzchen hingen verwelkt im Gebüsch oder lagen verdurstet am Boden umher, und als sie am Haus drüben läutete, wurde ihr der Bescheid, daß Herr Valär zum Nachtessen bei Dr. Elmenreich sei. Also ein verpfuschter Tag, zweimal verpfuscht, am Morgen verpfuscht, am Abend verpfuscht – – auch für ihn? Sie zuckte zusammen. Aber mit dem besten Willen konnte sie in Dinah keine Nebenbuhlerin wittern, obgleich Dinah gewisse Ansprüche auf diesen See oder diesen Stuhl und diese Tasse in Valärs Haushalt deutlich genug vor ihr zur Schau trug: wahrscheinlich auch heute noch, sobald sie ihre Rechte bedroht sah. Alle Elmenreich-Kinder waren ja von jeher bei ihm daheim gewesen; ebenso war er bei ihnen daheim. »Du hast nur wieder einmal vor alten Ansprüchen zurücktreten müssen«, versuchte sich Nele zu trösten. Aber weh tat es dennoch.

Nein, die wachsende Traurigkeit rührte von woanders her. Sie rührte, wie sie allmählich entdeckte, her von dem Gefühl, daß auch Valär seine dunklen und unguten Stunden habe, und daß er 434 dann schwer mit sich kämpfen müsse – ja sie bildete sich sogar ein, daß sie wisse, worum dieser Kampf ging.

Denn es konnte geschehen, wenn sie beisammen waren, daß er mit einemmal sehr erregt war. Sie bemerkte seine glühenden Augen – fast gepeinigt saugten sie sich an ihr fest. Sie spürte, wie die Nähe ihres Körpers verschulden konnte, daß ihm alle Gedanken zu schwinden drohten, weil ihr Körper plötzlich das einzige von ihr war, womit sie für ihn noch existierte, und durch seine seltenen Küsse ergoß sich fast immer eine so hungrige Glut in ihren Leib, daß in ihr alles wankte. Sie versuchte oft, das alles nicht zu bemerken. Sie bemerkte es dennoch, ja nun erst recht. Aber während ihr die Gedanken dann wirklich versiegten, geschah das bei ihm nie. Sie wußte zwar nicht, was wirklich mit ihm geschah. Aber sie spürte, daß sein Geist ihn plötzlich zurückziehen konnte – von allem – in eine für sie unbetretbare Ferne hinein – und sie spürte auch, daß sie dann jedesmal vor Elend über ihre Verlassenheit hätte aufheulen müssen, hätte sie nicht gesehen, daß er ihr trotzdem nicht entglitten war. Denn obgleich die Fetzen der ungeheuren Ueberwindung, die ihn seine Selbstbeherrschung gekostet hatte, oft noch längere Zeit entstellend und schwer an ihm herunterhingen, fühlte sie gut, wie er weiter nach ihr verlangte.

Mußte das sein, daß er so um sie litt? – Sie wußte es nicht. Aber es machte sie traurig, daß es so war. Das ging ihr nah, und sie wünschte, daß diese Traurigkeit keine Nahrung mehr fände in dem Boden, auf welchem sie wuchs.

 


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