Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XX.

Sofort nach Brunos Heimkehr wurde es seinem Vater und Valär klar, daß der ganze Lebensprozeß, auch der geistige, in Bruno stürmischer und schneller ablief als in andern Naturen. Aeußerlich merkte man davon nicht viel. Pünktlich fuhr er jeden Tag in die Stadt, zu seinen Kursen. Sie fielen bald in den Vormittag, bald in den Nachmittag, bald in die späteren Abendstunden. Aber der Fahrplan des Bähnleins war diesem unregelmäßigen Hin und Her nicht sehr günstig. Durch Wartenmüssen hätte er an manchen Tagen große Zeitverluste gehabt. Man hatte ihm deswegen zu Weihnachten ein Motorrad geschenkt. Das machte ihn unabhängig, und er war sehr dankbar dafür. Er belohnte das Entgegenkommen der Eltern, indem er jeden Mißbrauch seiner Freiheit vermied. Nach Erfüllung seiner Obliegenheiten fuhr er pünktlich wieder nach Hause. Daß zu diesen Obliegenheiten auch Zusammenkünfte mit ehemaligen Schulkameraden gehörten, solchen aus der Gemeinde und aus der Stadt, sah man sogar gern. Sie schützten ihn vor Vereinsamung. Außerdem gab es ja so viel zu diskutieren!

Manchmal hatte Bruno unterwegs auch ein Erlebnis, von dem er daheim dann erzählte, und das später für ihn sogar Bedeutung gewann. So begegnete er einmal auf der Heimfahrt einem Rekruten, der jämmerlich talaufwärts hinkte. Er hielt an und fragte, ob er ihn mitnehmen dürfe, man möge nur sagen, wohin. Das Angebot wurde hocherfreut angenommen, und als Ziel wurde das Schwedenhäuschen genannt.

Der Hinkende war der junge Freddy Streiff, Sohn des Doktors aus erster Ehe – das reinste Mädchen in Uniform, unglücklich über den wehen Fuß, aber scharmant. Er machte seine Rekrutenschule drin in der Stadt und wollte schnell seine Eltern besuchen. 206 Bei einem ungeschickten Sprung aus dem Bähnlein hatte er sich den Fuß verstaucht.

Bruno fuhr ihn den Berg hinauf. Am Schwedenhäuschen lud er ihn ab. Bei dieser Gelegenheit lernte er auch Rosa kennen. Sie sei sehr nett zu ihm gewesen, berichtete Bruno, und habe ihn eingeladen zu einem Schwimmbadbesuch: bitte, er könne jederzeit kommen. Weiter sprach er sich über Rosa nicht aus. Sein Fall schien sie nicht zu sein. Das merkte man an seinen Mienen.

Dagegen hatte der junge Streiff Eindruck auf ihn gemacht. Er sei bisher in einem großen Wiener Verlagshaus tätig gewesen, einige Jahre als Lehrling, zuletzt als Angestellter. Nach Erledigung seiner Dienstpflicht, mit der er übrigens infolge seines Auslandaufenthalts drei Jahre im Rückstand sei, kehre er aber nicht mehr dorthin zurück, sondern werde in einer Buchhandlung der Stadt volontieren, um auch das Sortimentsgeschäft kennenzulernen. Später gründe er dann hier ein eigenes Verlagsgeschäft, in dem vor allem die junge Generation zu Wort kommen solle. Ihr eine Plattform zu schaffen, sei geradezu eine Notwendigkeit, die in einigen Jahren wahrscheinlich noch viel dringlicher werde. O ja, Verleger sei ein verantwortungsvoller Beruf: malerisch, vielseitig, spannend. – Bruno glühte. Bereits am nächsten Tag besuchte er den jungen Streiff, und sie gingen zusammen baden.

Nachdem Bruno das zweite Mal im Sanatoriumsschwimmbad gewesen war, erzählte er von einer Unterhaltung mit der Aufnahmeschwester. Sie sei Studentin der Medizin, die wegen Familienverhältnissen im zweiten Semester ihr Studium habe aufgeben müssen. Nun verdiene sie hier ihren Unterhalt, bis die Zeiten sich wieder besserten. Die Unterhaltung habe damit geendet, daß er ihr versprach, an ihrem freien Wochennachmittag eine oder anderthalb Stunden mit ihr spazierenzugehen und englische Konversation mit ihr zu machen. Wirklich Englisch lerne man nur auf diese Weise, habe sie ihm erklärt. Sie spreche diese Sprache perfekt und wolle ihn drillen.

»Ist das die schmächtige kleine Person mit den Katzenaugen, die man manchmal hier durchs Dorf radeln sieht?« fragte Nany, die Mutter. 207

Bruno blickte weg.

»Wieso diese?«

»Nun, manchmal radelt sie in einem gelben Lammfellmantel durchs Dorf, und dazu pfeift sie. Dann sieht sie jedesmal aus, als wäre sie die Geliebte des Chefs.«

»Das muß eine andere sein«, erwiderte Bruno. »Die Aufnahmeschwester ist ein ziemlich kräftiger Brocken, und ich weiß noch nicht einmal, wie sie heißt.«

»Auch das ist verdächtig«, schnatterte Nany. »Zum einen sagt man, daß man Ida heiße und Studentin gewesen sei, und beim andern ist man die Gret und hat einen Generaldirektor zum Vater. Drillen, drillen – dabei stelle sich eine Mutter etwas Vernünftiges vor!

»Ich fürchte mich nicht vor ihr«, versicherte Bruno. »Und wenn sie mir so kommt – na, dann drille ich sie eben auch.«

Diese Antwort freute ihn selber, und er unterrichtete von dem Gespräch auch seinen unzertrennlichen Jugendfreund Kari Bösch. Das war der Knabe im Dorf, für den er einst das Schneckengeld so großzügig angelegt hatte, anfangs in Zeichenmaterial, später in einer Uhr. Diese Freundschaft hatte nie eine Trübung erfahren. Inzwischen war Bösch Möbelschreiner geworden, ein Beruf, in dem er seinen hochentwickelten Formensinn und seine Zeichenbegabung nutzbringend anwenden konnte. Er hatte sich zu einem starken Burschen herausgemacht, der am Zeitgeschehen sehr kampflustig teilnahm.

Nany sah diesen Umgang nicht gern, so wenig wie früher. »Arme Leute!« stellte sie fest.

»Meinst du nicht, daß sie von jeher gern besser gewohnt und besser gegessen hätten, wenn sie es vermöchten?« fragte Bruno.

Nany schüttelte sich: »Die Klassen gehören nicht durcheinander.«

»Du hast eine Ahnung, was alles noch kommen wird. Glaubst du nicht, die Klassen, diese Relikte aus dem Erwerbszeitalter, werden der gebührenden Vernichtung entgegengehen?« gab Bruno zurück. Und er ging, wie üblich, zu Kari. Denn es war Samstag, und immer an diesem Tag trat er bei dem Freunde an, in einem 208 Schuppen, um mit ihm zu boxen. Ab und zu kam Bösch auch zu ihm. Dann saßen sie auf Brunos Zimmer und disputierten, oft bis tief in die Nacht. Sie hatten es wichtig zusammen.

Von einem Rückverlangen nach dem verabschiedeten bäurischen Leben war in dieser für Brunos Angehörige so ungewohnt friedlichen Zeit nie etwas zu bemerken. Die Erde, die Jahreszeiten, die Saat, die Ernte – auf alles das ließ er sich jetzt nicht mehr ein. Seine Hauptspeise waren die Menschen geworden – die Menschen und ihre Gedanken über sich selbst, soweit sie in Gesprächen, bei Vorlesungen und in literarischen Werken von anerkannter Bedeutung zum Vorschein kamen, oder soweit sie in umstrittenen Werken um Anerkennung noch rangen. Bei Autoren, die sich ihm als unergiebig erwiesen, hielt er sich nicht lange auf. Alles aber, wovon er das Gefühl hatte, daß es ihn stärker machte, verschlang er. Es war viel Andacht, Begeisterung und auch Zärtlichkeit in diesem besessenen Tun, und oft, wenn er, zu einer Mahlzeit gerufen, aus seinem Zimmer kam, noch ganz abwesend im Geist und mit einem Gesicht wie ein Fuchs, dessen Schnauze blutig ist von den eben gefressenen Eingeweiden eines glücklich erlegten Beutestücks, konnten Brunos Angehörige an seinen erhitzten Augen es sehen und es da und dort auch seinen Gesprächen entnehmen, daß immer nur der Wille einzelner entschlossener Männer die Menschengeschichte um ein Stück vorwärts gestoßen habe, und daß dies nie ohne Grausamkeit gegen andere geschehen sei. Deswegen stand Bruno manchmal auch plötzlich mitten in der Gegenwart drin, und dann konnte er beinahe maßlos auffahren über irgend etwas, was im Lande geschehen war, und konnte in heftigster Form sich empören darüber, daß das Geschehene anscheinend niemand in ähnlicher Weise wie ihn selber bewegte.

 

Etwas dieser Art geschah an einem Februarabend in Gegenwart Valärs und Herrn Bubikofers.

Der Großvater Bubikofer hatte bei seinem vorausgegangenen Besuch an der Westwand des Speisezimmers eine leere Stelle entdeckt, an der eine herrliche Flußlandschaft Otto Fröhlichers, 209 die er seit kurzem besaß, sich seiner Meinung nach sehr gut ausnehmen würde. Nun war er gekommen zu einem Uebernachtbesuch und hatte das Bild als Geschenk für seinen Schwiegersohn mitgebracht: noch eine Scharteke mehr, hatte Nany gekichert und war gegangen. Man hatte das Bild sofort aufgehängt, hatte das Speisezimmer dann aber verlassen müssen – das Zimmermädchen wollte dort decken. Die Männer hatten sich daher in die Halle begeben. Ausnahmsweise befand sich auch Elmenreich mit dabei, denn der letzte Patient war gegangen. In der Halle saßen sie um das Holzfeuer am Kamin, wartend der Dinge, die kommen sollten; ein Glas Vermouth half das Warten verkürzen.

Da zog Herr Bubikofer ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und sagte:

»A propos – habt ihr schon einmal von einer ›Umbruchbewegung‹ etwas gehört?«

Allen war dieses Wort fremd.

»Dann lesen Sie einmal das«, sagte er, Valär das entfaltete Blatt überreichend. »Am besten lesen Sie's vor, ich kann hier nicht genug sehen.

Valär las:

»Zur Abklärung gewisser einstweilen noch strittiger Fragen, die das Landesinteresse an einer sehr empfindlichen Stelle berühren, erlaubt sich das unterzeichnete Aktionskomitee bei Ihnen anzufragen, ob:

  1. ausländische Angestellte und Arbeiter in Ihren Betrieben beschäftigt sind; wenn ja
  2. wie viele;
  3. wie sie sich auf die einzelnen Nationen verteilen.

»Namen brauchen keine genannt zu werden. Es genügt, die einzelnen Fälle zu numerieren. Dagegen wären für jede Person Mitteilungen über ihre Rangstufe im Betrieb und über die bisherige Dauer des Anstellungsverhältnisses wertvoll und sehr erwünscht, sowie eine Angabe über die ungefähre Gesamtsumme, die von Ihnen jährlich in Form von Gehältern und Löhnen an die fraglichen Personen ausbezahlt wird. Aus dem beiliegenden Fragebogen sind diese Details hinreichend ersichtlich. Die vorliegende Umfrage 210 wird in gleicher Form an alle im Handelsregister eingetragenen Unternehmerfirmen des Landes versandt.

»Wir wären Ihnen für eine vollständige und baldige Beantwortung sehr verbunden und danken Ihnen zum vorherein für Ihre Mühe.

»Unsere Adresse: Aarau, Postfach 73.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Aktionskomitee der Umbruchbewegung:
Rudolf Aeschlimann, Kulturingenieur, Aarau.
Josua Leuthold, Pfarrer, Escholzwil.
Arnold Schäfer, Kaufmann, Weinfelden.«
       

Alle schwiegen. Alle blickten sich an. Dann griff Bubikofer nach seinem grauen Kinnbart und begann ihn ganz vorschriftswidrig nach oben zu drehen und sich die Haarspitzen dabei in den Mund zu stopfen; aber es gelang ihm nicht, die Spitzen mit den Zähnen zu fassen, sooft er es versuchte. Denn die Spitzen waren zu kurz. Elmenreich schaute ihm aus seinem großen blassen Gesicht und seinen blauen, immer leicht verwunderten Augen mit einer gewissen Besorgnis zu, und Bruno klapperte erregt mit seinen langen dunklen, seidigen Wimpern. Dazu starrte er finster in das knisternde Feuer, das sich von Scheit zu Scheit weiterfraß.

Schließlich sagte Valär:

»Der Josua! Hat er's also erreicht . . . Er kann vorgeben, nicht mehr allein zu stehen . . . Umbruchbewegung!« – Und das Blatt zurückgebend: »Was für ein verdrehter armseliger Teufel schaut schon allein aus diesem Wort!«

Bruno war aufgesprungen:

»Erreicht?« rief er. »Das scheint mir gar nicht so sicher. Wer weiß, ob es diese zwei andern Kerle überhaupt gibt? Ich schlage mal nach. Im Telephonbuch müßten sie ja zu finden sein. Darf ich den Zettel haben?«

Er bekam ihn und verschwand.

»Was für eine üble Gesellschaft!« knurrte Bubikofer. »Und dieser vorschriftswidrige sachblinde Gottesmann! Wenn er schon glaubt, sich außerdienstlich nützlich machen zu müssen: – warum kämpft er dann nicht dafür, daß die Bauern seiner Gemeinde ihr 211 Land besser bestellen? Es ist ja ein Jammer, wenn man die Kulturen in der Nähe des Sanatoriums sieht: Streue statt Getreide oder Kartoffeln – so sieht's da aus. Aber Getreidefelder und Kartoffeläcker müßte man pflegen, und die Streu wächst von selbst. Dafür kann man inzwischen ins Wirtshaus hocken, zu einem Jaß. Aber natürlich kann er den Bauern nicht Dinge in Vorschlag bringen, die ihnen unbequem sind. Bei der Wahl braucht er ja ihre Stimmen.«

»Leuthold ist wirklich ein armer Teufel«, bestätigte Elmenreich. »Daß er nach Geltung strebt, ist ja zu verstehen. Jeder behängt sich gern mit Kostbarkeiten und Ausnahmedingen, die Ansehen und Glanz verleihen. Mancher ist schon zufrieden, wenn er Aufsehen macht. Wir alle sind darin immer noch wie die Wilden. Daß er aber auf so etwas verfällt: auf Bespitzelung und Verfolgung des Fremden, das ist schon Verhängnis.«

»Ich bin überzeugt, er bildet sich ehrlich ein, es sei seine patriotische Pflicht, sich um diese Dinge Sorgen zu machen. Es ist natürlich ein Wahn. Aber im Gefolge der überspitzten Nationalismen und Rasseverdächtigungen unserer Tage ist dieser Wahn überaus zeitgemäß«, bemerkte Valär.

»Und zu aller Besessenheit und Anmaßung hin sind die Herren noch dumm«, sagte Herr Bubikofer. »Oder nehmen sie wirklich an, daß irgend jemand ihren Wisch beantworten werde? Es ist ja doch mit Händen zu greifen, daß das Unternehmertum nur wieder einmal als unpatriotische Bande an den Pranger gestellt werden soll: nur von einer neuen Seite beleuchtet.«

Bruno war zurückgekehrt.

»Den Aeschlimann gibt's. Den Schäfer habe ich nicht im Telephonbuch gefunden«, meldete er.

»Meine Antwort ist fertig«, sagte Herr Bubikofer. Er nahm das Schreiben samt Fragebogen aus Brunos Händen zurück, zerriß es und warf die Streifen einzeln ins Feuer. »So! . . . Außerdem hat diese ganze politische Fastnacht im Volk ja gar keinen Boden. Wir sind doch Schweizer, zum Donnerwetter! Wir schwitzen solche Giftbazillen doch aus!«

Valär drehte den Kopf und senkte die Stirn. 212

»Tun wir das wirklich, Herr Bubikofer?« – Seine Stimme war plötzlich recht düster.

»Na, Sie wollen doch nicht sagen, daß wir Derartiges lieben?«

»Sicher nicht. Aber es scheint mir doch auch, daß wir mit den einheimischen Giftbazillen immer schwieriger fertig werden. Wilhelm wird euch das Nähere sagen. Bazillen gehören ja zu seinem Fach.« – Er wandte sich an Elmenreich: »Oder möchtest du nicht?«

Elmenreich hatte sich aus seinem Sessel ganz langsam weit nach vorn gebeugt. Seine Beine waren auseinandergespreizt und, von den Ellbogen gestützt, hing sein Oberkörper zwischen den Knien herunter. Sein Gesicht war gegen den Boden gerichtet, und unruhig lief der tanzende Feuerschein aus dem Kamin über seine große dunkle Gestalt.

»Heute abend hätte ich lieber nicht mehr davon gesprochen , sagte er langsam und tauchte aus seiner Versenkung auf. »Es paßt aber gut in den allgemeinen Zusammenhang unseres Gesprächs. Deswegen teile ich es euch mit – mit Andrea habe ich schon darüber gesprochen. Ich setze aber voraus, daß es unter uns bleibt, und daß niemand im Haus davon etwas erfährt«, bemerkte er mit einem Blick auf Bruno.

Bruno setzte sich leise an seinen Platz. Valär nippte an seinem Glas. Herr Bubikofer griff wieder nach seinem Bart und mißhandelte ihn.

Elmenreich sagte:

»In der Gemeinde geht das Gerücht, das Kind der Lina Dübi sei nicht durch einen Unglücksfall umgekommen. Die Mutter habe aus ihm gewaltsam einen Engel gemacht. Und die Lina säße auch heute im Zuchthaus dafür, heißt es weiter, hätte ich nicht einen falschen Totenschein ausgestellt und verhindert, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm. Diese Schwaben! Sie hielten eben zusammen.«

»Toll!« stieß Bruno hervor.

»Was ist das für eine Räubergeschichte?« fragte Herr Bubikofer. »Aber davon weiß ich ja gar nichts.«

»Hab ich dir's seinerzeit nicht erzählt?«

»Nie! – Wie heißt die Frau?«

»Dübi.« 213

»Kenne niemand hier, der so heißt.«

»Natürlich kennst du sie.«

»Gut sogar, Großvater«, mischte Bruno sich ein. »Du hast ihr zur Hochzeit eine ganze Wagenladung Wäsche geschenkt.«

»Und auch gleich die Kommode dazu.«

»Eure frühere Lina?«

»Ja – die.«

»Herrgott, wenn man zusah, wie die über den Rasen ging und Wäsche aufhing«, entfuhr es Herrn Bubikofer. »Vom bloßen Zuschauen wurde man noch einmal jung.«

»So ist sie nicht mehr, jetzt. Das Lachen ist ihr vergangen, seit sie ihr erstes Kind auf so elende Weise verloren hat.« – Elmenreichs Atem wurde beschwerlich. »Es ist ihr erstickt.«

»Gott-o-Gott! Ja, wie ist das möglich?«

»Sie fuhr zu Besorgungen in die Stadt, nur schnell zwischen zwei Zügen. Sie hatte das schon ein paarmal gemacht, weil das Kind ja stundenlang schlief, wenn es vorher seine Nahrung bekommen hatte. Grad im letzten Augenblick merkte sie dann, daß sich das Kleine naßgemacht hatte und sein Bett auch. Zum Wechseln des Bettzeugs hatte sie nicht mehr die Zeit. Sie wäre nicht mehr auf den Zug gekommen. Sie zog ihm deswegen nur frische Leibwäsche an und steckte es in ihr eigenes Bett. Dort schlief es weiter. Als sie heimkam, war das Kind tot. Es war unter die Decke geraten. Im Kampf mit ihr hatte es sich außerdem ins Leintuch verwickelt und war hilflos erstickt.«

»Wie kann man! Ein kleines Kind in ein großes Bett! Und dazu ohne Aufsicht!«

»Wie kann man – natürlich! Heute täte sie's nicht mehr. Aber damals war sie eben sorglos und tat es.«

Herr Bubikofer verfiel ins Brüten.

»Du hast den Fall in Händen gehabt?«

»Sie hat mich rufen lassen. Ich habe das Leichlein im Wagen sofort nach der Stadt gebracht. Im Gerichtsmedizinischen Institut wurde eine Sektion gemacht, in Gegenwart der Mutter natürlich. Als Todesursache ist Ersticken ohne fremde Einwirkung festgestellt worden.« 214

»So. Ja. – Wann war denn das?«

»Vor ungefähr anderthalb Jahren, genau am Tag der Kremation deines Oberrichters. Wir haben uns damals unerwartet in der Stadt drin getroffen.«

»Und jetzt erst kommt das Gemunkel?«

Elmenreichs immer leicht verwunderte Augen bekamen einen schwermütigen Glanz:

»Es ist gewissen Leuten offenbar nicht länger wohl, wenn sie eine rechtschaffene Frau wie die Lina nicht in niederträchtigster Weise verleumden können.«

»Bloß weil sie keine Hiesige ist«, bellte Bruno.

»Wie hast du denn von der Geschichte erfahren?« wollte Herr Bubikofer von seinem Schwiegersohn wissen.

»Der Mann der Lina ist heute morgen bei mir gewesen. Er ist außer sich. Seinen Kollegen, den Briefträger Aebersold, hat er schon krumm und klein geschlagen, weil der Aebersold mit seinem geschwätzigen Maul den Klatsch von Haus zu Haus weitertrug. Verderbnis bis in die höchsten Kreise hinein, habe der kleine Leisetreter gesagt, genau, wie es der Herr Pfarrer so oft schon behauptet habe.«

»Soso, der Pfarrer! Wieder der Pfarrer . . . Jedenfalls hast du dein amtliches Sektionsprotokoll und bist damit aus der Sache heraus.«

»Gewiß bin ich heraus. Aber der Vorfall ist doch recht niederschmetternd. Alles, was nach Korruption riecht, nach öffentlicher oder privater, das wird bei uns nachgerade geglaubt, als stünde es in der Bibel. Das war früher nicht so.«

»Es wird auch nicht anders werden, bis man den Korruptor unschädlich macht.«

Es war Brunos Stimme, unnatürlich gellend und hoch. Mit weißem Gesicht stand er hinter seinem Stuhl, dessen Lehne mit beiden Händen umkrallend und ihn so vor sich niederdrückend, daß der Stuhl auf den hinteren Beinen nur noch knapp Halt fand. Plötzlich hob er ihn hoch und stieß ihn zu Boden.

Alle schauten ihn an.

»Hört, hört!« murmelte schließlich Herr Bubikofer. 215

»Es ist doch klar, daß sich das Gerücht nicht gegen die Lina wendet«, stieß Bruno hervor. »Es richtet sich gegen Vater!«

»O Gott, ich kann solche Roßbollenwürfe ertragen, mein Sohn«, erwiderte Elmenreich. »Ich habe schon anderes heil überstanden.«

»Gewiß, Vater!« erwiderte Bruno mit einemmal ganz ruhig geworden. »Ich bin auch ganz einverstanden, daß du wegen dieser Drecksgeschichte nicht einen kleinen Finger rührst. Es ist dir einfach zu wenig. Aber ich bin jung, und mir braucht es nicht zu wenig zu sein. Begreift ihr?«

»Ebenfalls einverstanden!« entgegnete Elmenreich, nachdem er sich von seiner Ueberraschung erholt. »Aber, sag mal, was hast du denn vor?«

»Man kann sich denken, wer wieder diesen Gestank gemacht hat«, antwortete Bruno. »Entweder ist er es persönlich, oder es ist einer aus seiner Clique. Auf jeden Fall werde ich zu ihm gehen und werde ihn warnen.«

Valär stand auf:

»Und wenn er erklärt, wir hätten Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit und Redefreiheit in unserem Land? Bist du dann nicht geschlagen?«

Ein zitterndes Lächeln lief über Brunos Gesicht. »Ja, das ist immer eine wirksame Waffe. Aber nur bei denen, die sich verblüffen lassen.« – Abermals lächelte er.

»Gut! Aber was wirst du dagegen tun?«

»Ich werde ihm zu verstehen geben, daß er und seine Anhänger diese Freiheiten schändlich mißbrauchen, und daß er sich nicht wundern dürfe, wenn der Ruf dieser Freiheiten mit der Zeit ein so schlechter wird, daß sie, wie in andern Ländern, beseitigt werden.«

In diesem Augenblick bat Nany zu Tisch. 216

 


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