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Abgottspon reiste ab, wieder nach Spanien, und mit ihm reiste, wenigstens ein Stück weit, Valär.
Valär hatte schon seit längerer Zeit ein starkes Bedürfnis nach Ausspannung verspürt. Nach Beendigung des Generalstabskurses ließ er sich daher militärischen Auslandsurlaub geben und trat eine auf zweiundzwanzig Tage berechnete Seereise an, die aus der Nordsee ins Mittelmeer führte und ihm schon darum verlockend erschien, weil er auf diese Weise mit Abgottspon bis Lissabon zusammensein konnte. Zum Abschied am Bahnhof waren auch Bruno und Dinah erschienen. Bruno war wiederholt mit Abgottspon zusammengetroffen, und der so unbändig freie Mann hatte auf ihn gewaltigen Eindruck gemacht. In seiner Offenherzigkeit und in einer gewissen Abwehr gegen etwas Unbestimmtes, was ihn an Abgottspon störte, hatte er diesem jedoch erklärt, daß es kein Beruf wäre für ihn, auf solche Weise dem Krieg nahe zu sein, nur so als Schlachtenbummler. Wenn schon, dann doch lieber gleich mitten drin, als Soldat, und selber ein Wörtlein mitgesprochen. Worauf ihm Abgottspon mit großer Gefaßtheit erwidert hatte, es könne nicht lauter Männer geben, die Tod austeilen oder empfangen, und die man deswegen Helden nennt, weil sie es tun, wie die Wolke regnet und wie die Erde den Regen schluckt. Es 229 müsse auch Männer geben, die den Ruhm der Helden und die Schande der Feigen verkünden. Außerdem höre man das Mahlen der Mühlen Gottes viel besser am Rande des Baches, der die Mühle treibt, als mitten drin im Geklapper. – Dieses Wort vom Tod-Austeilen und vom Tod-Empfangen war Bruno so zärtlich erschienen und war ihm so nahegegangen in der behutsamen Art, mit der es für Augenblickslänge den Schleier von einem vielumstrittenen Antlitz hob, daß er eigens zum Bahnhof gekommen war, um sich selbst zu bezeugen, er habe Abgottspon in gebührender Form für seine Unterweisung gedankt. –
Sie reisten über Straßburg und Brüssel. In Rotterdam bestiegen sie einen Frachter, der mit Stückgut für viele Häfen nach Niederländisch-Indien fuhr und nur Spanien mied. Es war ein Motorschiff neuester Konstruktion und hatte auch Platz für eine Anzahl von Passagieren, die fast alle Holländer waren. Wie Kleinbürger, die angeheitert von einem Familienfest kommen und diesem eine noch viel ausgedehntere Nachfeier folgen lassen, schnatterten sie unter sich unentwegt von den Brautwochen, die es jüngsthin im Haag für ihre Kronprinzessin Juliana gegeben hatte, und erzeugten mit ihrem weltfernen Heimatgedenken eine Art von Nebelwand, hinter der das Schiff, von den Sturmvögeln des Tages unbemerkt, still dahingleiten konnte. Am Pier von Lissabon sagten die Freunde sich Lebewohl. In Neapel ging Valär wieder an Land und fuhr heim.
Kaum, daß er sich der Festlandwelt wieder eingereiht sah, überkam ihn das bestimmte Gefühl, diese Auslandsreise sei für lange Zeit seine letzte gewesen. Er spürte es an vielen kleinen Zeichen, daß die Unruhe in Europa inzwischen gewachsen war. Das Wort von einer Achse Rom-Berlin ging in den Gesprächen der Männer um, bald hoffnungsvoll, bald besorgt, und überall wurde zu erraten versucht, was diese Liaison für die Gestaltung der Zukunft bedeute. Es überraschte ihn auch, in seinem Römer Hotel schon allein darum wie ein angesehener Mann behandelt zu werden, weil er als Schweizer einem Land angehörte, das die Sanktionen gegen Italien nicht mitgemacht hatte. Eine solche Mitbewertung 230 des Politischen bei der Abwicklung privater Ansprüche war ihm neu und nicht sehr behaglich. Es drängte ihn heimwärts.
Da der erste Tag nach seiner Rückkehr ein Donnerstag war, nahm er sich vor, nach alter Gewohnheit mit Dinah zu Mittag zu essen. »Mann, komm mir gut wieder heim und bring mir aus Afrika keine Schwarze mit«, hatte sie zum Abschied gesagt, »denn du weißt, daß ich dich liebe.« Daß sie ihn im Büro abholen würde, war jedoch nicht zu erwarten, weil sie das genaue Datum seiner Heimkehr nicht kannte. Er beschloß deswegen, sie am Eingang des Schulhauses abzufangen, und machte sich dahin auf den Weg. Aber wer mit einemmal vor ihm stand, das war Nele.
»Du –?« rief er verwundert. Er glaubte zu spüren, wie ihm heißer Schweiß aus den Poren brach, und daß er einen innigen Duft von Himbeeren roch. Und abermals überfiel ihn ein Gefühl gänzlicher Unwirklichkeit, als habe ihn eine unbekannte Strömung aus seinem gewohnten Leben abseits getragen an einen Ort, wo er nie hingewollt hatte, und doch war es schön.
»Du –?« fragte er noch einmal.
Sie bestätigte ihm lachend, daß sie es sei, und gab ihm die Hand.
»Aber wie kommt's, daß du hier bist?«
»Ferien – halt so – Osterferien – ganze acht Tage!« rief sie, die Schultern hebend und rasch wieder fallen lassend, als könne sie selbst nicht begreifen, daß es so war, und als sei sie trotzdem dabei, ihr Glück in vollem Zug zu genießen. Drei Tage sei sie im Tessin bei ihrer Mutter gewesen. Seit vorgestern sei sie bei Frau Doktor Streiff im Schwedenhäuschen. Die Frau Doktor habe sie eingeladen. Uebermorgen fahre sie wieder weg.
»Und jetzt?« fragte er.
Sie habe sich dadrin soeben ihr Mittagessen gekauft, erwiderte sie, zuerst auf einen Papiersack in ihrer Hand weisend, dann auf den Laden, vor dessen Eingang sie sich begegnet waren, als sie diesen gerade verließ. Jetzt wolle sie in die Anlagen gehen und dort auf einer Bank das da verspeisen.
»Wunderbar!«
»Ja.«
»Und dann?« 231
Ja dann werde sie sich mit ihrer ehemaligen Schulfreundin treffen, pünktlich um zwei, und dann wollten sie zusammen ein Kleid kaufen gehen und noch allerlei anderes besorgen.
Erst bei dem Wort Ferien war Valär eingefallen, daß man sich in der Woche nach Ostern befand, und daß er dann ja auch Dinah ganz umsonst hätte an der Schule abholen wollen. Im Augenblick, da er dieses bedachte, spürte er auch, daß es für ihn eine große Enttäuschung gewesen wäre, wenn er sein Mittagsmahl hätte allein einnehmen müssen. Denn er hatte sich nach den nur mit fremdem Menschengebrösel bestreuten Wochen, die hinter ihm lagen, auf Dinahs vertrautes Geplauder und auf das Zusammensein mit etwas Jungem gefreut. Wie wäre es, wenn er nun Nele einlud, sich bei den Göttern bedankend für die Entschädigung, die sie ihm so unverhofft schickten?
Er blickte das Mädchen an, das noch immer froh überrascht vor ihm stand, aber doch auch zu bemerken schien, wie sehr ihn diese Begegnung beschäftigte, und das nun seinerseits von dieser Entdeckung ebenfalls so beansprucht wurde, daß alle seine Pläne mit einemmal in immer größere Ferne entschwanden. Ihre Augen verfingen sich, lösten sich wieder und begegneten sich von neuem. Da sagte er:
»Ich nehme an, daß die Herrlichkeiten in der Tüte da nicht unwiderruflich verderben, auch wenn sie nicht auf der Stelle gegessen werden.«
»Gewiß tun sie das nicht. Es ist nur Obst, ein Sandwich und etwas Kuchen«, antwortete Nele.
»Wie wäre es also, wenn du das Paket wieder in den Laden brächtest, mit der Bitte, es dir aufzubewahren, bis du es später abholen wirst, – und du kämst jetzt zum Essen mit mir?«
»Wollten Sie essen gehen?«
»Ich war auf dem Weg zu Simondo.«
»Und Sie meinen, daß ich mitkommen soll?«
»Du würdest mir ein großes Vergnügen machen.«
Die frühere Nele hätte wohl unterwürfig gelächelt und sich dann einfach treiben lassen von dem Wind, der sie anfiel. Die jetzige sagte entschlossen und mit sehr überlegter Stimme: 232
»Gut!« – Sonst sagte sie nichts.
Im nächsten Augenblick stürmte sie in den Laden.
Es zeigte sich beim weiteren Zusammensein schnell und auf sehr einnehmende Weise, daß Nele nicht mehr die heimatlose magere Katze war, die das mißleidige Herumgestoßenwerden als ihr unabänderliches Schicksal auffaßte und es scheu, aber geduldig ertrug. Sie war während der dreiviertel Jahre ihrer Abwesenheit ein lebensfrisch und gesund aussehendes, strammes großes Mädchen geworden, dessen eckige Formen von einst sich ausgefüllt hatten, ohne daß das angeborene Zarte, dabei aber doch auch Zähe ihrer Erscheinung von der Entwicklung weggewischt war. Auch ihr inneres Wesen hatte Kraft angesetzt und sich gefunden.
Das mochte vielerlei Gründe haben, schien aber in der Hauptsache darauf zurückzugehen, daß sie in dem Beruf, für den sie sich auszubilden im Begriffe stand, die Stelle gefunden hatte, an der das Leben sie trug, kummerlos wie die Luft einen Vogel, der seine Segelflügel ihrer Strömung entgegenbreitet, und daß sie darüber sehr glücklich war. Sie beklagte sich nicht mehr wie in der Zeit, in der sie ihrer Mutter das Dienstmädchen machte, daß sie ein Perpetuum mobile sei, das Zimmer aufräumen und Geschirr waschen mußte, nur damit die Zimmer und das Geschirr wieder in Unordnung gebracht und beschmutzt werden konnten. Jetzt gab es das alles ja auch. Aber daneben wurde sie eingeweiht in die Geheimnisse eines Prozesses, der dem Aufbau von etwas Weiterdauernden galt, und darauf war sie stolz.
Mit Wärme und Ueberzeugung sprach Nele von dem schönen, an das Glück vorausschauender Tätigkeit glaubenden Geist, der unter den nicht sehr zahlreichen Zöglingen der Schule und den Lehrkräften herrschte, und insbesondere freute sie sich, daß in freien Vorlesungen auch das musische und das weltanschauliche Element seine Pflege fand. Den Hauptbeitrag dazu leiste ein Arzt aus der Nachbarschaft, der wegen eines körperlichen Leidens nicht mehr praktiziere. Das Allerschönste aber sei für sie der 233 Kurs über Gartenarchitektur und über die Kunst, in ein noch rohes Terrain die ihm angemessenste Grünanlage hineinzuschauen. Ihr komme das einstweilen noch unermeßlich schwierig und geheimnisvoll vor, besonders, wenn man nur wenig Platz zur Verfügung habe. Aber gerade das möchte sie einmal ganz entschieden verstehen und fehlerlos machen können.
Valär brauchte mit einer Frage oder einer Bemerkung nur irgendwo anzutippen, so sprudelte das alles, von einem schönen Ernst getragen, wie aus einem übervollen Brunnen, aus Nele hervor und suchte sich zu ihm seinen Weg. Dabei entging ihm nicht, daß außer dem Bedürfnis, ihm Rechenschaft abzulegen, noch etwas anderes ihr die Zunge entband. Dieses andere mochte seinen Anlaß vor allem darin haben, daß es ihr beliebte, in ihm einen Menschen zu sehen, der mit beiden Füßen sicher und fest in jener Welt der Erfüllungen stand, der sie selber entgegenstrebte. Außerdem merkte er am Spiel ihrer Augen, daß er, als männliches Wesen, für ihr Empfinden keineswegs mehr so ganz am andern Ufer lag wie noch bei der letzten Begegnung mit ihr, damals im Wald, als er den Mörderbock zur Strecke gebracht. Sogar zu einem Glas prickelnden Waadtländer Weines ließ sie sich verführen, – obgleich ihr, wie sie versicherte, der Sinn für solche Genüsse fehle –, nur damit sie zur Feier des Wiedersehens mit ihm anstoßen konnte. Nachdem sie davon getrunken hatte, schüttelte sie sich denn auch ganz ungeniert, als hätte sie Tinte geschluckt, und behauptete, Wein steige ihr sofort in den Kopf. Aber sie lachte dazu klingend auf und drängte das Wasser, das ihr heimtückisch in die Augen schoß, mit heftigem Blinzeln tapfer unter die Wimpern.
Auch an sich selber bekam Valär es wieder einmal zu spüren, daß Freude ein Fluidum ist, das sich im Menschen über alle Organe verteilt und, wie ein Sonnenaufgang, die ganze innere Landschaft mit einer angeregten, hellen und warmen Stimmung behaucht, so daß er bereit wird, nur zu sagen oder zu tun, was der Erhaltung seines Zustands förderlich ist. Nele hatte schon von Rosa gehört, daß er auf einer Seereise war. Sie war daher auf eine Begegnung mit ihm so wenig gefaßt gewesen wie er auf eine 234 solche mit ihr. Nun bat sie ihn zu erzählen, wo er gewesen war. Er tat es gern, und es ging um so leichter, als er sich beim Weggang von daheim für Dinah mit einem ganzen Bündel von Photos, selbstverfertigten und gekauften, versehen hatte, die von allem möglichen handelten, was sich ihm teils auf dem Schiff, teils beim Besuch der Hafenstädte und ihrer nächsten Umgebung als besonders bemerkenswert eingeprägt hatte. Nun breitete er diese Bildchen vor Nele aus und flocht in seine Berichte manches kleine Erlebnis mit ein, an dem die fremde Welt bald als etwas sehr Gefälliges, bald als etwas Fragwürdiges oder Widriges aufleuchten konnte.
Schließlich saßen sie sich schweigend am Tisch gegenüber, und Valär fühlte nur noch ein stilles Bezaubertsein davon, daß es so war. Nele hatte ihren Wein nun doch noch getrunken, er hatte ihr sogar noch ein zweites Glas nachfüllen dürfen. Die Haut in ihrem Gesicht, am Hals und an den Armen glühte ganz leicht, und ihre die Farbe immer wieder wechselnden Augen waren voll Gold. Es war dasselbe Gold wie in ihrem Haar, das jetzt in erhöhten Schlingen sehr kunstvoll um den Hinterkopf herumgelegt war, nur war das Gold der Augen feuchter und dunkler.
»Und was treibt deine Mutter?« unterbrach Valär nach einer Weile das Schweigen.
Nele senkte sofort den Blick, und ihre Unterlippe schob sich leicht vorwärts. Etwas Unergründliches trat in ihrem Gesicht hervor, und es dauerte einige Zeit, bis sie, mit hörbarer Bitterkeit, aber auch mit einem gewissen Erschrecken, entgegnete:
»Mutter geht es unverschämt gut. Sie hat wieder Geld. Sie kann wieder prassen.«
»Australienpfunde?« fragte Valär.
»Wieso? Wie kommen Sie auf Australien?«
»Dein Vater hat ja seine Plantagen verkauft. Vielleicht hatte sie noch Anteile dort?«
Nele begegnete seinem Blick mit fast erschrockenen Augen:
»Verkauft? Woher wissen Sie das?«
»Weißt du es nicht?«
»Nein!« 235
»Ich habe es von meinem Patensohn. Dein Bruder hat es ihm geschrieben. Im Landerziehungsheim Wartenweiler sind die beiden dicke Freunde gewesen. Schon vor etlichen Monaten hat er mir's erzählt.«
»Ach so! Ist das der Arztsohn aus Escholzwil, der Junge mit dem Motorrad und den dunklen langen Augenwimpern?« fragte sie interessiert.
»Ja, der Bruno! – Du kennst ihn also?«
»Ich war gestern mit Frau Doktor Streiff unterwegs. Da kam jemand auf einem Motorrad an uns vorbeigeknattert. Frau Doktor Streiff hat ihn angerufen, und so wurden wir miteinander bekannt. Er fuhr aber gleich wieder weiter.« – Sie hielt einen Augenblick inne, schüttelte dann ernsthaft den Kopf und fuhr, beinahe aufgebracht, fort: »Nein, aus Australien hat meine Mutter kein Geld bekommen. Die Sache ist anders. Sie ist geradezu düster.«
Ihre Stirnhaut runzelte sich in finstere Falten, und nach einigen weiteren sehr bedrückten und zunächst nur zögernden Aeußerungen bekannte sie, sie wäre sehr froh, wenn sie ganz offen mit ihm darüber sprechen könnte.
Auch dafür war er zu haben.
»Mutter ist doch einmal bei Ihnen gewesen, mit einem Landkaufbrief?« fragte sie.
»Gewiß, das war sie.«
»Sie haben ihr damals gesagt, daß der Brief eine Fälschung sei?«
»Die Fälschung lag ja auf der Hand.«
»Ich wußte lange Zeit nichts von dem Brief. Ich wußte auch nicht, daß Mutter bei Ihnen war und sagte, sie wolle bauen. Erst später hat Frau Doktor Streiff mir alles erzählt. Gott, wie ich mich schämte, ich kannte Sie damals ja schon! Natürlich war das mit dem Kauf nur ein Hirngespinst. Mutter hätte das Land ja gar nicht bezahlen können. Ach Gott, sie hatte damals ihre ganz wilde Zeit, sonst hätte sie sich ja auch nicht so mir nichts, dir nichts um fünftausend Franken prellen lassen. Aber das Tollste kommt ja nun erst.«
»Stoßen wir zuvor noch einmal an«, sagte Valär, sein Glas ergreifend. 236
»Ja, stoßen wir an! Denn erraten würden Sie's niemals.«
Sie trank, blickte sich um, und dann sagte sie mit ihren feuchtroten Lippen und fast flüsternder Stimme:
»Denken Sie, Herr Valär, Mutter behauptet, der Gauner habe ihr alles Geld wieder zurückgeschickt und sogar noch etwas dazu.«
»Nicht möglich!«
»Vor einigen Wochen sei ein Brief gekommen, ganz gewöhnlicher Umschlag, erzählte sie mir, nicht einmal eingeschrieben, aus einem Ort hier in der Schweiz, mit dem Geld darin und einem Zettel: Hier sei das seinerzeit empfangene Geld. Da sich der Betrag in der Zwischenzeit durch eine glückliche Bankoperation vervielfacht habe, gebe er ihn ihr mit bestem Dank und den landesüblichen Zinsen wieder zurück. Hochachtungsvoll: Carlo Meyer, zurzeit Bethalden. – Und nun soll ich das glauben!«
»Eine prächtige Geschichte! Nein, was deiner Mutter fortgesetzt für Sachen passieren! – Hast du Bethalden gesagt?«
Valär lachte laut auf und griff abermals nach seinem Glas, über dessen Rand hinweg das Mädchen mit großem Vergnügen betrachtend.
»Gewiß«, bestätigte Nele verdutzt. »Bethalden hat Mutter gesagt.«
»Prima! Bethalden ist das Beste daran! Die Geschichte riecht zwar nach Angebranntem, wenn man sie so hört. Aber wenn das Geld aus Bethalden kam – prost Osterhäschen! – es lebe das Leben!«
Valär sah es Nele an, daß sie seinen Gedankengängen so wenig folgen konnte wie seiner wachsenden Heiterkeit. Aber nachdem er ihr auseinandergesetzt hatte, daß er habe lachen müssen, weil in Bethalden eines der größten Zuchthäuser sei und es sich bei der Wahl dieses anrüchigen Namens nur um eine vergnügliche Mystifikation handeln könne, weil ein wirklicher Insasse dieses Grand Hotels ja keine Ausflüge zum nächsten Briefkasten oder zu seinem Bankier machen könne, begann ihr auch Valärs Gesamtmeinung über das Vorkommnis mehr und mehr einzuleuchten. Diese Meinung ging dahin, daß irgendein ihnen beiden unbekannter Jemand, der wußte, wie ihre Mutter betrogen worden war, ihr 237 etwas Gutes tun und ihr über ihren Verlustkummer hinweghelfen wollte. Da er nicht wußte, wie er seine Gabe auf andere Weise in schicklicher und doch zugleich Aufsehen erregender Form hätte anbringen können, habe der Unbekannte diesen etwas sonderbaren, aber auf jeden Fall witzigen Weg zur Ausführung seines Vorhabens gewählt.
Valär war überzeugt, daß sein Geflunker mit dem wirklichen Sachverhalt nicht das geringste zu schaffen habe. Aber im Augenblick kam es ihm ja nur darauf an, Nele über ihren Kummer hinwegzuhelfen, und er war daher froh, daß ihm dieser harmlose Einfall gekommen war.
Die Wirkung blieb nicht aus. Nele atmete auf und fühlte sich sehr getröstet, weil sie nun nicht mehr zu befürchten brauchte, ihre so unberechenbare Mutter habe wieder einmal etwas recht Unüberlegtes getan und sich mit ihrem vielleicht nicht ganz reinen Gewissen hinter einem phantastischen Märchen versteckt. Als das Dessert kam, konnte sie sogar schon wieder lachen. Aber nun war es für sie auch Zeit, um sich mit der Freundin zu treffen, und sie brachen auf.
Ein paar hundert Schritte gingen sie noch zusammen die Straße entlang. Manchmal blieben sie vor einem Schaufenster stehen, sie war ja auf der Jagd nach einem Kleid, und bald da, bald dort priesen sich solche Gebilde zum Gekauftwerden an; vor einem Buchhändlerladen, an dem sie schon beinahe vorüber waren, zuckte Nele sogar wieder zurück, als ob sie etwas gesehen hätte, was wert war, daß sie es noch einmal in Augenschein nahm und sich vergewisserte, ob sie sich auch nicht getäuscht. Mit einemmal rief sie:
»Herrje, da ist ja das berühmte Gartenbaubuch von Lange! Unsere Lehrerin sagte, daß es vergriffen sei, und nun ist es hier antiquarisch zu haben. Ui, aber teuer!«
Mit begehrlichen Augen stand sie davor und glühte nach dem Buch wie nach einem Schatz, der nicht für sie bestimmt war.
Da erfaßte Valär plötzlich der süße Drang, dem Mädchen etwas zu schenken, was sie an ihn denken machte, auch wenn er nicht in ihrer Nähe war. Er nahm Nele am Arm, sie stutzte, er sagte etwas, 238 und während sie lachend die Schultern hob und schnell wieder fallen ließ, zog er sie mit sich in den Laden.