Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Das Heim lag in bergiger Gegend mit kleinbäuerlicher Bevölkerung, viel Heimindustrie und mit viel Raum für die Augen. Es war in einem alten Landschloß mit steilem Treppengiebel untergebracht. Viele Schlösser der Schweiz nahmen seit einem Jahrhundert diesen Weg aus den Samtschatullen der Feudalzeit in den bürgerlichen Verbrauch. Sie wurden in Sanatorien, Heimatmuseen, Krüppelheime oder in Herrensöhnchenschulen für Gute und Böse verwandelt.

Dieses hier hieß noch immer Schloß Wartenweiler. Es hatte beim Wechsel seiner Bestimmung die alte Vornehmheit nicht abgestreift. Valär wußte das aus den üppig aufgemachten Prospekten, die in fünf Sprachen, mit lockenden Photos geschmückt, hinausreisten in die weite Welt, um für die Schweiz als das Land Pestalozzis und der Mustererziehung zu werben. Wem mußte nicht das Herz aufgehen, wenn er las von lebendiger Schulgemeinschaft und 31 gegenseitiger Achtung als der Grundlage alles wirklichen Glückes, oder wenn er vernahm, daß in diesem Haus die Kenntnisse nicht erlernt, sondern erarbeitet würden, und daß alles Bemühen auf die Heranbildung der Knaben zu willensstarken Menschen gerichtet sei, die angeleitet würden, auch die drängenden Fragen von Wirtschaft und Politik zu beachten, damit sie nicht haltlos jedem Schlagwort verfielen? – Eltern, die sich in Erziehungsangelegenheiten ohnmächtig fühlten, gab es überall auf der Erde; auch an bösen oder eifrigen Buben fehlte es nicht, und daher hatte sich das Heim über regen Zuspruch aus allen Erdteilen nicht zu beklagen.

Auch Bruno, Sohn des praktischen Arztes Elmenreich, eines eingebürgerten Deutschen, mit dem Valär seit seiner Studienzeit durch eine niegetrübte Freundschaft verbunden war, hatte zu den bösen Buben gehört und war deswegen in die bessere und schönere Welt der vorbildlichen Schloßschule eingezogen.

Bruno war von klein auf ein schwieriger Knabe gewesen und hatte seinen Eltern Sorge gemacht, weil er sich den Geboten der Erwachsenen nur schwer unterwerfen konnte. Er war selbstherrlich, aufbrausend und rücksichtslos, besaß aber die Gabe, zu faszinieren und andere zu sich heranzuziehen. Diese Gabe mißbrauchte er, indem er diejenigen, von denen er wollte, daß sie ihm verfielen, rasch zu seinen Hörigen machte und nun alles von ihnen verlangte.

Dieses unleidige Wesen des Knaben hatte zu einer kleinen Katastrophe geführt.

In dem Bezirksort Escholzwil, in dem Brunos Vater als sehr erfolgreicher Arzt praktizierte, amtete Josua Leuthold als Pfarrer. Aber Leuthold machte auch in Politik. Unter anderem schwur er darauf, daß jede Ehe zwischen Schweizern und Ausländern zu verdammen sei, weil der echte Schweizergeist dadurch untergraben werde, was sich besonders in den Nachkommen räche. Ganz ungeniert brachte er das Thema auch auf die Kanzel. In flammenden Worten nannte er die Gegenwart eine Gott entfremdete Welt, die auf grausamen Wegen wieder an Christus herangeführt werden müsse, und einen dieser grausamen Wege ging er selbst, indem er zu einem wahren Kreuzzug gegen alles Landfremde aufrief. In 32 Brunos Elternhaus – seine Mutter war Schweizerin – blieb diese Haltung nicht unbemerkt. Bruno schnappte davon etwas auf, und seitdem begann er den Pfarrer zu hassen wie eine ihm feindliche Macht.

Nun unterhielt der streitbare Mann auf einem zur Pfarrei gehörigen Baumstück nebenbei auch eine bedeutende Schneckenfarm. Er selbst aß die Tiere nicht. Aber er mästete sie. Er mästete sie mit Löwenzahn, Kohl, Kabis, Salat, abgeernteten Erbsen- und Bohnenstauden sowie mit dem Laub der Tombinambur, die er zu diesem Zweck rund um sein Haus in dichten Beständen pflanzte. Im Herbst, wenn die Schnecken vollfett waren und sich verdeckelt hatten, wurden sie von ihm nach Frankreich versandt, viele an Klöster, und dort wurden sie nach berühmten Rezepten hergerichtet, um während der Weihnachtszeit von den Kennern verspeist zu werden. Der Pfarrer erzählte jedermann, daß er im besten Jahrgang über fünfzigtausend dieser Tiere abgesetzt habe, und daß darunter viel erstklassige Ware gewesen sei mit nur zweitausend Stück auf den Zentner.

Doch bevor er die Tiere in seinem Schneckengarten einsperren und fettmachen konnte, mußten sie im Freien gesammelt werden. Dazu bot Pfarrer Leuthold alljährlich die Schuljugend auf, und zwar machte er anfangs Juni in der Sonntagsschule mit ermunterndem Zungenschnalzen bekannt, daß die Schneckenjagd wieder eröffnet sei. Für die abgelieferten Tiere bezahlte er, je nach der Größe, pro Stück einen bis einundeinviertel Rappen. In trockenen Jahren ging er bis anderthalb. Auch die Jugend benachbarter Dörfer ging für ihn auf die Suche.

Bruno machte, trotz seines Hasses, ebenfalls bei der Schneckenjagd mit, fand aber bald heraus, daß er auch ohne die mühselige Sucharbeit sich hübsche Schneckengelder verschaffen und dem Pfarrer noch obendrein eins auswischen konnte. Als auf der Schneckenweide wieder einmal so viele Tiere durcheinanderkrochen, daß nicht einmal des Pfarrers scharfe Augen von einer Veränderung der Kopfzahl etwas hätten bemerken können, wenn man achtzig bis hundert Tiere wegnahm oder hinzutat zu dem Gewimmel, wußte Bruno den ihm sehr ergebenen einzigen Sohn des 33 Pfarrers zu überreden, daß er jeden zweiten Tag sechzig bis achtzig Schnecken der Herde entnahm und über den Drahthag heimlich in die Büsche spedierte. Zu verabredeter Stunde las Bruno sie auf und tat sie in einen alten Konfitüreneimer. Dieser wurde an einer versteckten Stelle im Erdreich versenkt, damit die Tiere unter der Hitze nicht litten. Anderntags lieferte Bruno den Kessel beim Pfarrer ab, und jedesmal, wenn die Szene vorüber war, spuckte er aus. Vieh, sagte er. Den Erlös teilte er mit seinem Helfer, jedoch verwendete Bruno keinen Rappen des ihm verbleibenden Geldes für sich, sondern kaufte davon einem andern Knaben im Dorf, an dem er aufrichtig hing, und der in sehr ärmlichen Verhältnissen aufwachsen mußte, allerhand schöne Sachen, die jenem begehrenswert waren. Bald war es ein Kasten, mit farbigen Zeichenstiften gefüllt, bald ein Reißzeug, ein Zeichenbrett, Glanzpapier und viel, viel Karton, damit jener daraus alle möglichen geometrischen Körper herstellen konnte. Und als Bruno in den Besitz seiner ersten Armbanduhr gekommen war, da trug er sie erst, als er so viel Geld beisammen hatte, daß er seinem Freund ebenfalls eine verehren konnte.

Das ging so zwei Sommer lang. Als aber Bruno auch im dritten Jahr das einträgliche Geschäft wieder aufnehmen wollte, empfand der Sohn des Pfarrers Gewissensbisse und lehnte eine Fortsetzung ab. Bruno drohte ihm Rache und schwere Verfolgungen an, erreichte damit aber nur, daß der verängstigte Knabe zu seinem Vater ging und ihm alles gestand.

Der betrogene Pfarrer war außer sich, verlangte von Brunos Vater Entschädigung und verzeigte Bruno beim Rektor des städtischen Gymnasiums, das der Knabe mit der Bahn täglich besuchte. Außerdem gab er in einer Art von Verwirrungszustand die Schneckenzucht auf, die Gründe, weshalb er es tat, vor niemand verbergend und seine ganze Kraft und ganze Zeit von da an für die Rekrutierung seines Fremdenkreuzzugs verwendend.

Unter diesen Umständen meinten die Eltern, daß eine Luftveränderung Bruno nicht schaden könne. Ein Versuch mit einem Alpenlyzeum sagte nicht zu und wurde nach einem Jahr wieder abgebrochen. Schließlich setzte Brunos Mutter es durch, daß er 34 nach Wartenweiler kam. Denn der Direktor und Besitzer dieser Anstalt war entfernt mit ihr verwandt.

 

Vor dem Haus trieben sich bei Valärs Ankunft Schüler aller Altersstufen umher, aber seinen Patensohn Bruno konnte er nirgends entdecken. Er strebte daher dem Eingang zu, nur für kurze Zeit noch aufgehalten durch eine Inschrift, die über dem Portal auf die Wand gemalt war. Sie wies sich selbst als Pestalozzi-Wort aus und lautete:

»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den Staub, der draußen wallet, emporhebt, ist noch schöner als Himmel und Erde.«

Als Valär jedoch vor dem Direktor stand und von diesem Auskunft über Bruno empfing, da hatte er's mit der Schönheit der Seele und mit der Erhebung über den Staub! Denn Bruno war abermals in eine üble Geschichte verwickelt, und gerade war der Kantonspolizist im Haus, um ihn zu verhören.

Aus dem eiligen und nicht wenig verlegenen Bericht des Direktors ergab sich folgendes:

Vor zwei Tagen, nach dem Abendessen, hatte sich Bruno mit seinem Freund Ellegast ohne Erlaubnis aus dem Hause entfernt, und sie waren ins Dorf hinuntergegangen. Dort gab's einen lustigen Tessiner mit einem Delikateß- und Südfrüchteladen. Die Knaben des Instituts gingen oft dorthin, um Obst und Naschwerk zu kaufen und im Winter heiße Marroni zu essen. Außer seinem Laden hatte der Mann jedoch auch ein Motorrad mit Seitenwagen. Damit sollte der Mann am fraglichen Abend Bruno und seinen Freund schnell nach St. Gallen fahren und später wieder zurück. Denn sie wollten ins Kino. Am Motor war jedoch etwas kaputt, so daß sie auf die Dienste des Mannes verzichten mußten.

Ellegast schlug vor, wieder heimzugehen, und Bruno schien sich, wenn auch widerwillig, zu fügen. Da kamen sie an einem Wirtshaus vorbei, und im schwachen Licht der nächtlichen Straßenbeleuchtung entdeckte Bruno ein am Gartenhag lehnendes Rad. Sofort nahm er es an sich und forderte seinen Freund auf, vorn 35 bei ihm aufzusitzen. Der Freund tat nicht mit, und Bruno fuhr allein stadtwärts davon.

Um nicht entdeckt zu werden, fuhr er ohne Licht. Auf einem abschüssigen Straßenstück, nachdem er schon beinahe die Hälfte der Entfernung zurückgelegt hatte, prallte er in scharfer Fahrt plötzlich gegen einen großen, harten Gegenstand, der sofort umfiel.

Es war ein Mann, neben dem auch Bruno kurz darauf am Boden lag. Der Mann fluchte gewaltig, und zunächst begannen sie, an der Erde kugelnd, sich regelrecht zu verhauen. Plötzlich lachte der Mann laut hinaus, und sie standen auf. Zunächst wurde die Fahrradlaterne angedreht, und als sie im Licht ihre Gesichter sahen, erklärte der meuchlings zu Fall Gebrachte, anscheinend ein Wanderbruder, daß er den jungen Herrn nun ja am Kragen nehmen und im nächsten Dorf dem Polizeidiener abliefern könne. Falls der junge Herr ihn jedoch mit einem gebührenden Schmerzensgeld privatim entschädigen wolle, könne alles auf der Stelle in Güte abgemacht werden.

Bruno bot jenem sofort seine Barschaft an, nicht ganz acht Franken. Dafür könne er es unmöglich tun, sagte der Fremde. Eine zerrissene Hose, der Schrecken und hinterher auch noch Rippenstöße und Leberhaken – nein, er erwarte ein besseres Geschenk. Schließlich forderte er das Rad und erhielt es.

Als er aber am nächsten Tag das Rad in Herisau bei einem Händler verkaufen wollte, wurde er wegen Diebstahls verhaftet. Denn das Verschwinden des Rades war inzwischen von seinem Besitzer gemeldet worden. Der Verhaftete erzählte, wie er zu dem Rade gekommen sei, aber man glaubte ihm nicht. Immerhin transportierte man ihn an den Ort, wo sich, seinen Angaben nach, der Zusammenstoß und der Kampf abgespielt hatten. Der Mann hatte Glück: man fand im Gras Spuren der Balgerei und einen Schlüsselbund. Auf einigen der Schlüssel stand: Schloß Wartenweiler, Zimmer 27.

Bei der Darstellung des Radhandels, so bemerkte der Direktor, sei er der Schilderung Brunos gefolgt. Nach den Aussagen des inzwischen freigelassenen Vaganten habe sich die Sache nicht ganz so zugetragen. Bruno habe vielmehr von sich aus gesagt, daß er 36 ihm das Rad schenke. Seine Mutter sehe ohnedies nicht gern, daß er radle. Außerdem sei er kurz hinter dem Waldrand daheim, so daß er das Rad nicht mehr brauche.

Im übrigen habe, fuhr der Direktor fort, Bruno sofort alles gestanden. Soeben werde ein Protokoll aufgesetzt. Sobald das Protokoll unterschrieben sei, stehe Bruno Herrn Valär zur Verfügung.

»Na!« sagte Valär, »als einen Erfolg Ihrer Erziehungsmethode werden Sie dieses Vorkommnis ja nicht gerade betrachten wollen.

Der Direktor wiegte daraufhin allwissend den Kopf und erklärte:

»Wir rechnen wohl noch immer zu wenig mit der großen Unbekannten des lebendigen menschlichen Materials. Uebrigens verstehe ich das alles nicht. Bruno ist sonst ja das reinste Unschuldslamm unter all diesen Wölfen.«

Valär wurde vom Direktor in ein abgelegenes Zimmer geleitet. Hier könne er mit dem Knaben ungestört sprechen.

 

Bruno trat sehr angeregt ein. Er war einer jener hochwüchsigen jungen Leute, die mit siebzehn Jahren schon bei einem Meter fünfundsiebzig Längenmaß angelangt sind und ihre Eltern, auch wenn diese zu den großen Leuten gehören, zuletzt um eine gute Faust überragen. Dabei war er ziemlich kräftig gebaut. Anmut konnte ihm nicht nachgesagt werden. Dazu waren seine Züge zu unregelmäßig. Aber er hatte einschmeichelnde, wundervoll dunkle Augen mit ebensolchen Wimpern daran; in seinen Bewegungen war etwas Weiches, und wenn er lächelte, konnte er sehr gewinnend sein.

»Ah, der Götti!« rief Bruno aus. »Meinst du, der Stinker hätte mir gesagt, wer auf mich wartet?«

Valär blickte ihn wortlos an. Er wünschte nicht, daß Bruno vom Direktor noch einmal so zu ihm spräche, wie er es eben getan. Aber er wußte auch, daß er durch einen offenen Verweis nichts erreicht haben würde. Denn bei aller Selbstherrlichkeit war Bruno ein zärtlichkeitsbedürftiges, überempfindliches Menschenkind, 37 das, hart angefaßt, noch härter wurde, dagegen mit einem ruhigen Blick leicht zu bändigen war, wenigstens für eine Weile. Valär wartete daher schweigend, bis Bruno ganz nahegetreten war und seine sorgenmachende Sorglosigkeit, die freilich auch etwas Schönes hatte, von der Spitze weiter nach hinten nahm. Dann streckte er ihm langsam die Hand entgegen und hielt jene des Jünglings fest.

»Grüß Gott, Bruno!«

»Kommst wie gerufen, Götti! Doch endlich ein Mensch, mit dem man reden kann . . . Gefreut haben wird's dich ja nicht gerade, als du hörtest, was los ist. Aber wie dich kenne – –.«

Der Junge sprach hastig. Er versuchte entgegenkommend und unbefangen zu sein. Aber ganz wohl war ihm nicht, und er gab sich Mühe, hinter dem Schutz seiner munteren Maske mit seinen schönen Augen herauszubekommen, wie er mit Valär daran sei.

Dieser nahm ihn am Arm und nötigte ihn zu einem Stuhl.

»Wir wollen uns setzen, Bruno«, sagte er ruhig. »Du nimmst am besten hier Platz – ich dort . . . Du hinkst ja, wie ich sehe?« –

Beim Eintreten hatte Bruno den Gehschaden unterdrückt. Jetzt verbarg er ihn nicht mehr.

»Von der Keilerei im Straßengraben. Nicht der Rede wert, Götti! Es muß ein Tritt ins Schienbein gewesen sein. Der Kerl hatte Nagelschuhe.«

»Verbunden?«

»Gesäubert, gejodet und zugewickelt. Der Sportlehrer hat's nachgesehen. Alles in Ordnung.«

»So! Und nun erzähle mir zuerst einmal das, was du den andern verschwiegen hast.«

Bruno zeigte sein gewinnendes leutseliges Lächeln und blickte Valär frei ins Gesicht.

»Man merkt doch immer sofort, daß man es bei dir mit einem hellen Kopfe zu schaffen hat«, sagte er anerkennend, und seine Stimme klang frei durch den Raum. »Die beiden, die bisher an mir herumgequetscht haben, der . . . Direktor und der Landi, 38 weißt du –, die waren ja meistens rein zum Verzweifeln. Was doch ganz klar war, danach fragten sie immer wieder und suchten daran noch irgend etwas ganz Unerforschtes herauszufinden. Was mich aber wirklich in Verlegenheit hätte bringen können, wenn sie es hätten wissen wollen, daran stolperten sie ahnungslos wie dumme Hunde vorbei.«

Wunderbar eingefädelt! Der Junge ging geradeswegs darauf aus, ihn zu seinem Komplizen zu machen und sich so aus der Patsche zu ziehen. Oder war seine Aeußerung nur ein Ausdruck uneingeschränkten Vertrauens?

»Ich bezweifle, ob ich deine Komplimente verdiene«, erwiderte Valär und wich ein wenig aus. »Als ganz angebracht kann ich sie – in diesem Augenblick! – jedenfalls nicht betrachten. Fest steht einstweilen nur, daß in dem, was mir von dem Direktor über deinen neuen Streich erzählt worden ist, für mich ein paar unklare Stellen sind. Ueber diese möchte ich mit dir ganz freundschaftlich und offen gesprochen haben, bevor ich deine Kommentare über die andern und über mich selber annehmen kann.«

»Verstehe, Götti! – Also, bitte, ja, frage!«

»Dein Freund und du, ihr wolltet ins Kino. Ist das so?«

»Ja!«

»Habt ihr das schon öfter gemacht?«

»Im Vertrauen: ja! Dem Italiano macht's Spaß, uns gefällig zu sein. Außerdem verdient er etwas an solchen Fahrten.«

»Du hättest dir aber doch sagen können, daß dir das Kino nicht davonlaufen wird, und daß ihr ebensogut am nächsten oder übernächsten Tag hinfahren könntet, wenn das Motorrad wieder in Ordnung war.«

»Am nächsten oder übernächsten Tag – daran lag mir gar nichts.«

»So! Woran denn?«

»Mein Wort zu halten!« entgegnete Bruno stolz und ohne einen Anflug von Eitelkeit zu unterdrücken. »Es ist Ehrensache, ein gegebenes Wort nicht zu brechen. Du bist Soldat und kannst das verstehen.«

»Dein Wort nicht zu brechen – ach so! Ja, wieso denn?« 39

»Ja, mein Wort. – Davon habe ich den beiden da vorn natürlich nichts verraten.«

Valär stutzte. Ihm schien etwas nicht zu stimmen. Er erwiderte:

»Halt einmal, Bruno! Du sagst ›Wort‹ und sagst ›Ehrensache‹ und begründest damit, daß du mit dem Kinobesuch nicht noch einen oder zwei Tage gewartet hast. Aber du bist doch mit deinem Freund zunächst umgekehrt und warst bereit, mit ihm wieder nach Hause zu gehen.«

»Nicht eine Sekunde lang war ich das, Götti! Im Gegenteil: ich war entschlossen, zu Fuß in die Stadt zu gehen, und ich bin nur deswegen ein Stück weit mit ihm zurückgegangen, weil ich ihn zum Mitkommen überreden wollte.«

»Aber Bruno – zu Fuß ins Kino – höre doch, was du da sagst! Zu Fuß ist der Weg reichlich drei Stunden weit. Und bis dahin wäre die Vorstellung ja längst zu Ende gewesen.«

»Wenn wir liefen, hätten wir den Weg in der Hälfte gemacht und wären nach neun Uhr dort gewesen. Daß es so spät werden könne, hatte ich dem Mädchen schon vorher erklärt. Ich hatte ihr gesagt, daß ich nicht genau wüßte, wann ich abkommen könne. Es möchte deswegen vielleicht später werden als Viertel nach acht. Da hat sie erwidert: ›Und wenn es Mitternacht wird, ich werde warten‹.«

Ein Mädchen also! Nun war es heraus . . .

Valär brauchte gar nicht stark auf den Busch zu klopfen, damit er Näheres über diese Beziehung erfuhr. Bruno erzählte gern davon und auf sehr nette, die Sache hitzig und wichtig nehmende Art.

Der Ticinese habe in St. Gallen, so sagte Bruno, Verwandte und Bekannte, Landsleute, Handwerker, Händler, lebhafte, fröhliche Menschen. Fast jeden Sonntag komme ein kleiner Schwarm zu ihm auf Besuch, und dann seien in seiner Bude ein Lärm und ein Gezwitscher wie in einem Vogelhaus. Am vorigen Sonntag seien wieder einige dagewesen, darunter ein Mädchen, das zum erstenmal kam, ein hübsches, lustiges, schwarzes Ding, ein wenig älter als er, Lehrmädchen in einer Papeterie, eine Amelia. Man habe 40 Kaffee getrunken, Kuchen und Obst gegessen; auch eine Flasche Asti spuckumenandi habe der Comestibile zwischenhinein spendiert, und plötzlich habe das Mädchen erklärt, daß es nächsten Dienstag Geburtstag habe.

»Fräulein, das muß gefeiert werden, rief ich in die Gesellschaft hinein«, erläuterte Bruno. »Ich komme am Dienstagabend in die Stadt, und dann gehen wir ins Kino, ich lade Sie ein. – Alle waren einverstanden, und als man auseinanderging, sagte sie mir unter vier Augen das mit dem Warten bis Mitternacht.«

»Schön! Aber dein Freund hielt es trotzdem für ratsam, lieber nach Hause zu gehen«, unterbrach Valär den Bericht.

»Er hatte ja nichts versprochen und konnte tun, was er wollte . . . Während wir deswegen stritten, wurde mir übrigens klar, daß er mich nur erproben wollte. Er wollte mit seinem Zureden herausbekommen, ob ich ein Mensch war, der lieber ein Verbrechen beging als ein gegebenes Wort nicht zu halten – und ob ich seiner Freundschaft würdig war, oder ob ich ein Lump war und sie nicht verdiente . . . Als nun das Rad plötzlich vor meinen Augen stand, wußte ich sofort, was zu tun war.«

Valär ließ die Hitze in Brunos Kopf ein wenig versausen und antwortete deswegen nicht sofort. Er wußte, daß Bruno, wenn man ihm mit etwas ungeschickt in die Quere kam, plötzlich trotzig verstummte und sehr überlegen über die Köpfe der andern hinweg in die Ferne schaute. Mit dem Zugang-zu-ihm-Finden und Ihn-Ausforschen-Können war's dann vorbei. Valär ließ Bruno denn auch ruhig weiter berichten, sein Freund habe ihn, als er hinkend nach Hause kam, stürmisch umarmt und erklärt, er sei aus Eisen.

Als Bruno jedoch auch damit zu Ende war und eine Weile geschwiegen hatte, sagte Valär:

»Bruno, ich begreife, daß du in einer Zwangslage warst. Der Freund – das Mädchen – gewisse Verantwortlichkeiten – sogar Ehrensachen, wenn du so willst. – Daß es aber auch Ehrensache sein könnte, dich an fremdem Eigentum nicht zu vergreifen, das kam dir anscheinend nicht in den Sinn.«

»Aber, Götti, ich wollte das Rad doch nicht behalten! . . . Ich wäre darauf zurückgefahren und hätte es wieder hübsch an seinen 41 Platz gestellt. Wäre ich nicht unterwegs diesem Erpresser in die Hände gefallen, so wäre es auch so gekommen, und kein Hahn hätte nach der ganzen Geschichte gekräht.«

»Aber Bruno!«

Valär lachte laut auf.

»Na ja«, meinte Bruno ein wenig betreten, »dummerweise lag mir daran, nicht gesehen zu werden. Ich stellte die Radlaterne daher wieder ab, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß sie funktionierte. Daß das ein Mißgriff war und außerdem ein Verstoß gegen die Polizeivorschriften, und daß persönliche Kenntnis des Weges das von mir verbrochene Dunkelfahren nicht entschuldigen kann – siehst du, Götti, das hat der Landjäger sofort ganz richtig erfaßt und hat es mir sehr ausgiebig als äußerst frevelhaft vorgehalten. Deswegen wird mir auch eine saftige Polizeibuße sicher sein. Leider habe ich nachher, als das Unglück geschehen war, mich verdattern lassen und habe nicht fest genug zugehauen. Sonst wäre der Kerl bewußtlos im Straßengraben liegengeblieben, und alles andere wäre nicht mehr passiert.«

»Na, höre!«

»Doch, Götti! Ich hätte ihn erledigen sollen. Darüber bin ich mit mir und meinem Freunde vollkommen im reinen. Wozu lernen wir boxen?«

»Bist du dir auch darüber klar, daß du dich jetzt wegen Diebstahls wirst verantworten müssen?«

»Ich habe dir ja schon gesagt«, erklärte Bruno, »daß ich das Rad wieder an seinen Platz bringen wollte. Außerdem –« Er hielt einen Augenblick inne, wechselte die Beine, und während er Valär scharf und siegesgewiß in die Augen blickte, fügte er mit kaum unterdrückter Erregung hinzu: »Erlaube – darf ich dich jetzt auch etwas fragen?«

»Bitte!«

»Bist du so rein, daß du von dir sagen könntest, du hättest niemals etwas mitgehen lassen, was nicht dein Eigentum war?«

»O nein!« entgegnete Valär ohne Zögern. »Erst heute früh ist mir eine solche Knabenverfehlung wieder siedendheiß eingefallen. – Ich war, du sollst alles wissen, heute früh in dem Ort, 42 wo ich geboren bin. Bei dieser Gelegenheit schaute ich schnell auch in den kleinen Bahnhofgarten hinein, in dem ich manchmal sehr glücklich war, und sah dort den Schopf, in dem ich für meine Mutter regelmäßig das Holz gesägt habe. Einmal war meine Großmutter bei uns zu Besuch. Sie kam in den Schopf, zog ihr Geldsäcklein hervor und sagte, ich solle ihr im Dorf Schnupftabak holen. Bei dieser Gelegenheit glitt ihr ein Zweifrankenstück unbemerkt aus der Hand und fiel lautlos ins Sägemehl, wo es verschwand. Ich sagte nichts und machte den Gang. Aber als ich zurückkam, habe ich das Geldstück gesucht und an mich genommen. Ich habe mir davon Aepfel und Orangen gekauft, bis es verbraucht war.«

»Da hast du's!« rief Bruno, und sein Gesicht war grausam verzerrt. »Trotzdem bist du doch ein hochanständiger Mensch geworden und nicht der größte Lump des Jahrhunderts, wie es dir von dem kotzigen Schneckenpfarrer prophezeit worden wäre, hätte er von deiner Verfehlung etwas gewußt.«

Im Grunde freute Valär diese Antwort, und er hätte zu Brunos verzichtloser Bitterkeit am liebsten Bravo gesagt. Aber er verbiß seine allzu offene Zustimmung und entgegnete nur:

»Man wächst langsam aus dem Unkraut hinaus und kommt ans Licht, in der Absicht, es nie mehr zu verlassen. – Bruno, ich hoffe das auch von dir, und deswegen wollen wir über deinen Fall jetzt nicht mehr sprechen.«

»Oh, mir ist's einerlei, ob sie mich in den Käfig sperren werden oder mir glauben, daß ich das Rad nicht behalten wollte«, erwiderte Bruno, während er aufstand und die Hosen am Riemen nach oben zog. »Mein Freund und ich, wir werden ja doch in die Südsee gehen! Dort kräht kein Hahn nach so einem Quark.«

Valär vermied es, sich überrascht zu zeigen. Bruno war immer reich an Illusionen gewesen und befand sich, sobald er sich durch ein Gedränge durchgerauft hatte, irgendwohin auf der Flucht, wo er sich unbeschwert fühlen konnte. Er sagte ruhig:

»Dein Freund. – Ist das der Junge, von dem du mehrfach nach Hause schriebst?«

»Eben der! Thornton Braestrup. Er ist anderthalb Jahre älter 43 als ich und weiß ganz genau, daß Europa ein beschissenes Land ist.«

»Der Direktor hat mir gegenüber einen andern Namen gebraucht. Er sagte, glaube ich, etwas wie Ellegast«, versetzte Valär.

»Das ist eine ganz verdammte Schweinerei seiner Mutter, der Wanderniere«, brauste Bruno auf und vermochte sein zornrotes Gesicht kaum zu beherrschen. »Sie ist geschieden, und mit ihrem Mädchennamen heißt sie Ellegast. Diesen Namen hat sie jetzt wieder angenommen, und sie will, daß auch die Kinder so heißen. Der Direktor, der allen schöntut, die ihm den Kassenschrank füllen helfen, macht natürlich den ergebenen Diener und sagt zu meinem Freund ›Ellegast‹, weil sie es so wünscht. Aber Thornton erkennt diese Schiebung nicht an. Er will wie sein Vater heißen, und der heißt Braestrup. Sein Vater ist Pflanzer und nimmt uns auf. Im einen Ohr werden wir eine glitzernde Zahnpastentube als Schmuckstück tragen und im andern einen Haifischzahn – herrlich wird das sein. Hier lernt man ja doch nichts als auf alle herunterschauen, die es nicht so geschwollen geben können wie wir.«

Valär mußte wieder einmal an etwas Gelesenes denken, was ihm großen Eindruck gemacht. Er mußte daran denken, daß das Leben der Vorraum zur Unendlichkeit ist, in dem die Seelen geprüft, gestreckt und gebogen werden. Er versetzte daher:

»Du scheinst also doch zu fühlen, daß deine hiesige Lage nicht ganz befriedigend ist.«

»Scheußlich ist sie! Die Eltern tun mir leid, und du tust mir auch leid. Denn ich hab's gewiß nicht euch zum Verdruß getan. Aber es gibt ja Gegenden, wo man weniger anstoßen wird, und deswegen gehen wir, wenn wir hier fertig sind, nach Bougainville, und lieber sogar noch vorher.« – Mit einem heftigen Ruck schüttelte Bruno den letzten Rest von Unbehagen, der in diesen Worten noch mitgetönt hatte, wie ein zudringliches Insekt von sich ab, warf stumm den Kopf empor, daß die Haare flogen, hinkte ein paar Schritte nach vorn und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu:

»Natürlich hast du keine Ahnung, was du dir unter Bougainville vorstellen sollst.«

»Stimmt!« 44

»Weil es französisch klingt, denkst du, es müsse in Westindien oder in den amerikanischen Südstaaten liegen. Dort haben sie ja auch solche Namen . . . Ja«, fuhr er überlegen fort, »aber es ist nicht in Westindien und nicht in Amerika, sondern ist eine Insel, die zu den Salomonen gehört.«

»Südsee – nehme ich an.«

»Zufällig hast du's erraten, weil ich es vorhin schon sagte. Wenn hier Australien ist«, erläuterte er, mit dem Finger einen Kreis auf die Tischplatte ziehend, »und hier Neu-Guinea, so liegt es östlich davon, ungefähr zehn Längengrade, in den nördlichen Salomonen. Vor dem Krieg gehörte Bougainville zum deutschen Schutzgebiet. Nachher wurde es von den andern gestohlen und dem australischen Mandat angegliedert. Thorntons Vater hat große Plantagen dort. Es ist nämlich alles Mist, wenn es heißt, der Europäer gehe in jenem Klima zugrunde. Das sind lauter Engländerlügen, bloß, damit niemand hingeht und sie alles allein ausbeuten können.«

»Ei, ei! Und woher weißt du das alles?«

»In einem deutschen Buch haben wir es gelesen..

Das war eine Kurzlektion, und es wäre wohl ziemlich hoffnungslos gewesen, gegen sie etwas einzuwenden. Valär blickte daher auf die Uhr, und dann stand er auf:

»Bruno, ich habe unten ein Taxi stehen, und die Wartezeit läuft ins Geld. Es ist Zeit, daß ich wieder gehe.«

»Ach, bist du nicht in deinem Wagen gekommen? Ist er kaputt? Du hast doch einen ganz neuen?« – Bruno sprudelte.

»Ich wollte heute nicht der Sklave einer Maschine sein.«

»Schade! Du hättest sonst Thornton und mich noch ein wenig spazierenführen können. Wir haben heute freien Nachmittag, und ich kann nicht sehr gut gehen. Es hätte mir ausgezeichnet gepaßt, eine Weile herumzugondeln.« – In diesem Augenblick schien Bruno über sich selber zu stutzen, wurde verwirrt, zupfte etwas am Hosenbein, war im nächsten Augenblick aber wieder gefaßt und fügte mit unverschämt gleichmütigem Ton in der Stimme hinzu:

»Na, jedenfalls bin ich froh, daß du den Eltern nun alles berichten kannst. Ich hätte sonst in den nächsten Tagen einen ekligen 45 Brief schreiben müssen, und den bin ich jetzt los. – Darf ich dich hinunterbegleiten?«

Valär fand die Unverfrorenheit, mit der Bruno von ihm Gebrauch machen wollte, fast imponierend.

Aber nun riß ihm doch die Geduld. Seinen Zorn nur mühsam beherrschend, trat er vor den Patenbuben, und als ob er es mit einem ungezogenen Rekruten zu schaffen habe, fuhr er ihn an:

»Bildest du dir wirklich ein, über mich in dieser Weise ganz einfach gebieten zu können, um dich selbst jeder Verantwortung zu entziehen? Mich dünkt es bis dahin noch weit, mein Freund! . . . Das ist für heute mein letztes Wort, das ich in dieser kopflosen Sache an dich zu richten habe – merke dir das! Und nur eines möchte ich jetzt von dir noch erfahren: Wohnt der Mann, dessen Rad du entwendet hast, hier im Dorf?«

»Ja! sagte Bruno kleinlaut.

»Weißt du, wie er heißt?«

»Ja!«

»Hast du dich schon für deine Verfehlung bei ihm entschuldigt?«

»Nein!«

»Du wirst heute noch zu ihm gehen und Abbitte leisten! Zur Abwechslung beweisest du deinen Mut jetzt einmal auf diese Weise. – Hast du verstanden?«

»Ja!«

»Ich werde jetzt den Direktor aufsuchen und ihn veranlassen, daß er dir die Zeit für diesen Gang freigibt . . . Nein, du kommst nicht mit mir zu ihm! Du bleibst hier, überlegst dir, was du deinen Eltern schreiben wirst, und wartest, bis man dich ruft. Du wirst jetzt ganz einfach gehorchen. Ich hoffe sogar, daß du ein wenig auch deiner eigenen inneren Stimme folgst, wenn du jetzt tust, was ich von dir verlange.«

 


 << zurück weiter >>