Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XV.

Valär kam es vor, als habe er sich durch ein ganzes Rudel in ihm herumrumorender Gründe zur blitzartigen Annahme von Rosas Vorschlag verleiten lassen. Aber nur ein Grund, ein einziger, schoß als deutlich erkennbares Gebilde aus dem Rudel hervor.

Im Augenblick, in dem er von Rosa erfuhr, daß jene Lily Stadler, die er als Kind ein paar Mal gesehen hatte, die zweite Frau Saxers geworden war, hatte er sich eines Zusammenstoßes erinnert, den es während der verflossenen Herbstmanöver zwischen ihm und ihrem Bruder Heinrich gegeben hatte.

Heinrich war ein frischgebackener Hauptmann und Kompanieführer in dem Regiment, mit dessen Interimskommando Valär aus besondern, ihm bis vor kurzem unbekannt gewesenen Gründen betraut worden war. Schon in der Morgenfrühe des dritten Manövertages, noch vor dem Ausrücken des Regiments, hatte er sich genötigt gesehen, den Hauptmann Stadler zu sich zu befehlen und ihm, nach zwei schon früher erteilten dienstlichen Rügen, zu sagen:

»Hauptmann Stadler, Sie haben die Wahl, sich sofort krank zu melden und bis zur Entlassung der Truppe im Lazarett zu bleiben. Das Sanitätsauto führt Sie hin. In diesem Fall übernimmt von jetzt an Oberleutnant Schindenholz die Führung Ihrer Kompanie. Oder Sie haben die Wahl, auf Ihrem Posten zu bleiben. In diesem Fall werde ich den Divisionskommandanten telephonisch um Ihre sofortige Enthebung vom Kommando ersuchen. Dienstliche Meldung erfolgt ohnedies. Den Grund kennen Sie. Seine Erörterung mit Ihnen lehne ich ab.« 149

Stadler hatte während der Nacht sein Quartier verlassen und deren größten Teil in Gesellschaft einer Frau in ihrem Auto verbracht. Die beiden hatten unvorsichtigerweise mit ihrem Wagen ein Gehölz bezogen, das noch im Bereich der Vorposten lag. Der die Runde machende Leutnant hatte bei der Postenkontrolle das Auto entdeckt, seine Insassen festgestellt und Meldung erstattet. Valär hatte sofort mit dem Bataillonskommandanten, dem Stadler unterstand, alles besprochen, und dieser war mit ihm über das vorläufige Vorgehen ganz einer Meinung gewesen.

»Was werden Sie wählen?«

»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant, ich melde mich zum weiteren Dienst«, hatte Stadler erwidert.

Schon ein paar Minuten später hatte der Divisionär Stadlers sofortige Suspendierung verfügt.

Nun hatte die Sache aber noch ein ziviles Nachspiel gehabt: Gabathuler, der Bataillonskommandant, war Chefingenieur in dem Unternehmen von Hauptmann Stadlers Schwiegervater. Dieser hatte dem Chefingenieur kurz nach dem Manövervorfall gekündigt. Anscheinend lag dabei ein von dem Hauptmann angestifteter Racheakt vor, der Gabathuler schwer traf. Denn er hatte seither keinen passenden Wirkungskreis mehr gefunden.

Valär hatte erst vor knapp einem Monat von diesem Nachspiel erfahren, und er hatte damals spontan an Saxer gedacht. Bei ihm wäre für einen Mann wie Gabathuler der richtige Platz gewesen. Sollte er sich überwinden und Saxer schreiben, um jenem zu helfen? – Jetzt, wo er wußte, daß die Schwester des Hauptmanns Stadler Saxers zweite Frau geworden war, war Valär froh darüber, daß er es nicht getan hatte. Saxer hätte ein solches Schreiben wahrscheinlich als Nadelstich aufgefaßt, weil es Anklage gegen einen Mann seiner Verwandtschaft erhob. Aber persönlich wollte Valär die Angelegenheit jederzeit gern vor Saxer vertreten. Denn er kannte ihn als einen in solchen Geschichten unbedingt rechtlich denkenden Mann.

 

Am Bahnhof von Ragaz wartete eine junge Frau, von der Rosa, schon bevor der Zug ganz hielt, behauptete, es sei Lily. Sie mußte 150 es ja auch wissen. Denn sie hatte Valär auf der Herfahrt gestanden, früher Verschwiegenes nicht länger verbergend, daß sie, bald nach ihrer Rückkehr in die Schweiz und hinter dem Rücken Saxers, sich schon einmal mit Lily getroffen habe.

Die beiden Frauen umarmten sich; die Bekanntschaft mit Valär wurde erneuert, und während man zum Auto ging, wo ein livrierter Chauffeur die Türe aufriß, sagte Lily zu Rosa:

»Dein Vater hat sich über dein Telegramm sehr gefreut. Er wäre auch gern mit zum Bahnhof gekommen. Aber er hat gerade den Masseur hinter sich und muß ruhen. Immerhin: bis wir im Hotel sind, ist er mobil.«

Es wurde vereinbart, daß Rosa zuerst allein zu ihrem Vater hineingehen solle. Auch auf Valärs Anwesenheit sollte sie ihn bei dieser Gelegenheit vorbereiten.

Valär hatte Durst. Er ließ sich mit Lily bei einem Aperitif unter einer Baumgruppe im Hotelgarten nieder. Es war jetzt Mitte des Vormittags und schon ordentlich heiß.

Schon nach kurzen Präliminarien lenkte Valär das Gespräch auf Saxers Augenleiden.

Lily, eine dunkle weiche Brünette, etwas nervös, mittelgroß, warme nachgiebige Augen und eine Stimme, die ebenso nachgiebig, beinahe wollüstig war, unsicher, wie weit sie gehen dürfe, dann rasch Vertrauen fassend, sagte, nach Worten suchend:

»Die Wahrheit ist, daß er einen leichten Schlaganfall hatte, vor fünf Monaten schon. Aber es soll davon nicht gesprochen werden. Auch Rosa soll es nicht wissen. Er hat sich ja auch von den kleinen Lähmungen so gut erholt, daß niemand mehr auf so etwas schließen würde.«

»Dann ist das Augenleiden eine Folge davon?« fragte Valär.

»Nein. Von einer zunehmenden Schwäche seiner Sehkraft hat er schon länger gesprochen – schon vor mehr als einem Jahr. Er ist damals auch zum Arzt gegangen und hat auf dessen Rat schließlich den vielleicht hervorragendsten Spezialisten auf diesem Gebiet konsultiert. Aber damit ist es sehr sonderbar. Die Aerzte finden von einem Augenleiden nicht viel. Um es gerade herauszusagen: sie finden gar nichts. Er hat ja auch keine Schmerzen.« 151

»Ah!«

»Nein, sie finden nichts. Im ganzen ist er nun dreimal bei dem genannten Spezialisten gewesen. Auch in der vorigen Woche hat er auf mein Drängen hin diesen Arzt wieder aufgesucht: mit demselben Ergebnis. Trotzdem behauptet er steif und fest, es gehe mit seinem Augenlicht immer weiter bergab.«

Valär neigte den Kopf und nahm die junge Frau noch ein wenig schärfer ins Auge.

»So, sie finden nichts. – Wissen Sie, daß Aerzte keineswegs immer die Wahrheit sagen?«

Dieser Einwurf schien sie zu überraschen. Ihre Augen wurden ganz groß, und interessiert fragte sie:

»Glauben Sie?«

»Ein Fall ist hoffnungslos«, erläuterte Valär. »Es gibt kein Mittel dagegen. Auf den ersten Blick sehen sie es. Aber sie verraten ihr Wissen nicht, obgleich sie ihren Ruf damit gefährden. Sie verraten es nicht, weil der Kranke dabei nur gewinnen kann.«

»Wieso gewinnen?«

»Ein Geschenk an den Kranken. Jeder arglos verbrachte Tag ist in einem solchen Fall ein Geschenk. Wenn Schmerzen vorhanden wären, müßten sie reden. So können sie schweigen.«

Um sein Leben gern hätte Valär gewußt, was auf diese Erklärung hin hinter der weißen Stirn der jungen Frau vorging. Irgend etwas schien sie sich vorzustellen und zu erwägen. Aber sie verriet mit keiner Miene, ob ihre Gefühle dabei für sie beschwerlich oder angenehm waren. Zurückhaltend sagte sie schließlich nur:

»Mir fehlt da jedes Urteil.«

Dabei schien es auch bleiben zu wollen. Aber plötzlich schlug sie die Augen zu ihm empor und fügte hinzu:

»Trotzdem habe ich über diese zunehmende Erblindung ebenfalls meine Meinung. Nur geht sie nicht vom Medizinischen aus. Sie geht aus von seiner Person.«

Sie blickten sich an.

»Darf ich diese Meinung kennen?« fragte Valär.

Lily beugte sich über den Tisch, zupfte mit zwei Fingern an dessen Decke und antwortete flüsternd: 152

»Ich sage sie Ihnen, weil ich von Rosa und Ihnen Hilfe erwarte – und weil Sie beide sicher auch helfen können.«

Valär schaute einer Amsel nach, die mit einem Schnabel voll zerdengelter Regenwürmer für ihre Brut in den Büschen entschwand.

»Bitte?«

»Ich glaube, daß er tatsächlich immer weniger sieht, weil er nicht mehr sehen will. Er will nicht sehen, was um ihn her vorgeht. Denn was er sieht, ist Zusammenbruch. Wenn er aber nicht sieht, kann er noch hoffen.«

Valär erinnerte sich in diesem Augenblick an das, was ihm Rosa über die Gründe der späten Wiederverheiratung ihres Vaters anvertraut hatte. Er wußte nicht, ob eine freie Kombination Rosas dahinter steckte, oder ob sie aus heimlichen Geständnissen der jungen Frau ihre große familiäre Weisheit bezog. Jedenfalls hatte Rosa gesagt: »Aber bis jetzt ist kein Nachwuchs da. Und wenn das gute Ding nicht eines Tages einen Seitensprung macht, wird wohl auch keiner mehr kommen.«

Jetzt saß Valär da, überrascht von dem Bescheid, den er soeben erhalten hatte, und durchging mit verhaltener Aufmerksamkeit Lilys Gesicht wie ein Buch, um womöglich herauszubekommen, was alles in ihrer Vorstellung in das Nichtsehenwollen, von dem sie gesprochen hatte, hineingehen könne. Aber das Buch sprach sich darüber nicht aus.

Schließlich entgegnete er:

»Das ist kühn, was Sie da sagen.«

»Ich habe Gelegenheit gehabt, ihn kennenzulernen, seit ich mit ihm verheiratet bin. Früher hat er es leicht gehabt, mit dem Leben auf gutem Fuß zu stehen und den andern ein Gebieter zu sein. Denn er hatte Erfolg. Er hat den Erfolg auch verdient. In seinem Fach ist er genial, und gearbeitet hat er wie keiner. Er hat sich daraufhin oft sehr viel gegen andere herausgenommen. – Später ging nicht mehr alles gut für ihn ab, und heute ist zum Frohlocken überhaupt kein Grund mehr vorhanden: ein Sohn, der unter dem Boden liegt – eine Tochter, die sich ihm entfremdet hat – niemand auf weiter Flur, niemand aus seinem Blut, der sein 153 Werk weiterführt, wenn er nicht mehr kann. Und dieses Werk ist doch zugleich auch das Werk seines Vaters und Vatersvaters. – Einen wirklich frommen Menschen könnte das nicht aus der Fassung bringen. Er würde allen diesen Schlägen sich unterwerfen, sogar mit Lust. Ich sage das, weil er manchmal von göttlichen Ordnungen spricht oder auch in die Kirche geht, und weil dann die Leute glauben, daß er sich daraus etwas mache. In Wirklichkeit macht er sich nur etwas daraus, daß es außer den Dingen, die man beherrschen kann, auch Mächte gibt, an die er nicht herankommt. Mit ihnen liegt er jetzt im Streit. Er will sich dem Schicksal, das sie ihm bereiten, nicht beugen. Er lehnt sich auf. Aber zur vollen Revolte fehlt ihm doch auch der Mut. Er geht daher einen Mittelweg: er stürzt sich in eine großartige Ungewißheit hinein, indem er um sich selbst und um die Welt eine Nebelwand legt, die alles verschleiert. Das ist seine Erblindung. Ich habe mit einem Psychologen darüber gesprochen. Er sagte, daß solches wohl möglich sei. – Ich meine nun, Herr Valär, wenn ihm etwas widerführe, was sehr gut für ihn ist, so würde das alles schnell anders werden.«

»Ja, hat sich Herr Saxer denn ganz von seinen Geschäften zurückgezogen?« fragte Valär.

»Oh, das dürfen Sie nicht von ihm glauben«, erklärte die junge Frau. »Die Aerzte verordneten ihm ein paar Monate Ausspannung, und die ersten vierzehn Tage seines Hierseins hat er auch wirklich nur seiner Gesundheit gelebt. Aber dann bäumte er sich auf wie ein Stier. Er vermißte die Tätigkeit, vermißte den Geruch der vielen Menschen, die von ihm abhängig sind, vermißte die täglichen Bezeugungen von Unterwürfigkeit, die er auf seinen Kontoren und auf einem Gang durch seine Maschinenhallen empfing – und vor allem plagte ihn der Verdacht, daß ihn jemand bemitleiden könnte. Seitdem ist ein ganzer Stab von Mitarbeitern hier im Hotel mit einquartiert. Alle paar Tage hat er eine neue Maschine im Kopf, und deswegen ist zwischen daheim und hier ein beständiges Kommen und Gehen. – Nein, das Gute, das ich meine, liegt auf einem andern Feld, Herr Valär. Beispielsweise sagte er zu Rosas Telegramm nur: ›Lily, sie kommt!‹ – Und dann liefen ihm die Tränen nur so über die Wangen – – denken Sie, ihm!« 154

»Ich glaube zu ahnen, was Ihnen vorschwebt«, erwiderte Valär. »Ich bezweifle jedoch, daß mit meiner Macht etwas getan ist.

 

Später wurde Valär zu Saxer gebeten. Rosa sagte ihm im Vorübergehen: »Er ist noch immer nicht ungefährlich. Sieh zu, daß du ihn nicht reizt.«

Valär wurde in einen halbdunklen Raum geführt, wo Saxer, schon wartend, im Hintergrund stand, vor einem breiten Stuhl, das Gesicht nach der Türe gerichtet und die Fingerspitzen der linken Hand auf einen Tisch gestützt. Statuenhaft und gespannt stand er an seinem Platz, eine massive Gestalt, an der jedoch etwas Hilfloses war, und Valär hatte sofort das Gefühl, daß dieser Mann ihn nicht sah, obgleich er sich die größte Mühe gab, ihn mit seinen Augen zu finden. Als Saxer hörte, daß die Türe sich wieder geschlossen hatte, machte er zwei oder drei kurze tappende Schritte nach vorn, ließ die Tischplatte aber nicht los, sondern fühlte sich mit den Fingerspitzen an ihr entlang und blieb stehen, nachdem sie zu Ende war, als fürchte er die Berührung mit ihr zu verlieren. Gleichzeitig begann er mit den Fingern fast lautlos auf der Tischkante zu trommeln.

Valär war unterdessen nähergetreten, und plötzlich hellte das starre Gesicht Saxers sich auf und kam in Bewegung. Offenbar sah er ihn jetzt und vermochte ihn zu erkennen. Denn er griff mit Sicherheit nach Valärs Hand und sagte mit seiner rauhen trockenen Stimme, sichtbar bemüht, unbefangen und frei zu erscheinen:

»Herr Valär, es ist mir immer gewesen, als ob wir Freunde sein sollten, und als ob wir es unausgesprochen auch immer geblieben wären – trotz dieser bösen Geschichte mit Rosa, die es einmal gegeben hat. Ich habe Ihren stolzen Aufstieg durch all diese Jahre mit Freuden verfolgt, auch den bei der Truppe. Mit Rosa haben Sie sich – hm! – ja auch wieder zusammengerauft, wie sie sich vorhin ausgedrückt hat. Zwischen uns wird das nicht nötig sein, nehme ich an. Sie wären sonst vermutlich gar nicht gekommen.« 155

Was für ein Wunder! Der Mann, der immer nur »man« gesagt hatte, wenn er von sich sprach, sagte mit einemmal »ich«! Aber Anzeichen dafür, daß ihm etwas wehgetan hätte, als er von der Vergangenheit sprach, waren nicht zu bemerken gewesen; nur ein Hauch von sich selbst nicht begreifender Trauer, wie bei einem verwundeten Wild, schien ihn zu umwehen.

»Ich gedenke sogar, Ihre Freundschaft sofort recht kräftig in Anspruch zu nehmen«, erwiderte Valär, als wäre er einverstanden mit allem, was Saxer geäußert hatte. Dann nahm man Platz, und Valär begann sein Anliegen wegen des entlassenen Ingenieurs ohne Umschweife vorzutragen.

Saxer sagte nur: »Jaja, der Heinrich! Seinem Vater schlägt er nicht nach.« – Aber es schien ihm gar nicht unlieb zu sein, daß er von dieser Sache erfahren hatte, und daß er Valär gefällig sein konnte. – Dann drückte er auf einen unsichtbaren Knopf unter dem Tisch, worauf aus einer Seitentür ein Mann erschien und dort stehenblieb.

»Brüngger, sind Sie's?' fragte Saxer. Als der Mann bejahte, sagte er: »Notieren Sie: Brief wegen Ingenieur Gabathuler, Spezialist für Schaltapparate. Zehn Minuten nach zwei sind Sie bei mir. Ich werde Ihnen diktieren.«

Und er winkte ihm ab. Damit war diese Sache erledigt.

 

Nachher saßen sie alle vier in demselben Zimmer beisammen, und Valär hatte das ironische Gefühl, daß die ganze Familie, samt allen Gespenstern der Vergangenheit, ja nun glücklich versammelt sei. Was Saxer betraf, so fand Valär, daß dieser, auch in seiner Erscheinung, sich sehr stark verändert habe. Er war beinahe fett geworden, sein Schädel war vollkommen kahl, und alles in allem sah er ein wenig gewöhnlich aus, jedoch nicht in einer Widerwillen erregenden, sondern eher in einer nachdenklich machenden Art. Die viereckigen Kiefer traten stärker und schwerer als früher hervor, oder es schien wenigstens so, und die weit auseinanderstehenden Augen waren hinter der wächsernen Haut tiefer in ihre Höhlen zurückgesunken. Welches das Glasauge war, konnte 156 Valär immer noch nicht unterscheiden. Ganz unnatürlich wirkten die stark gestopften, brettartig hinausgezogenen Schultern seines hellgrauen Sommeranzugs. In der Herrenkleidung war das bei jungen Leuten jetzt Mode, aber es steckte ein bemitleidenswerter Krampf darin, daß Saxer in seiner Lage sich auf so etwas einließ, und es schien Valär ein Zeichen dafür zu sein, daß der mächtige Mann die Fühlung mit sich selber weitgehend verloren hatte, auch im übertragenen Sinn.

Man sprach jetzt offen über das Augenleiden, und daß sich die Sehkraft in jüngster Zeit von neuem merklich verschlechtert habe.

Rosa sagte:

»Es ist klar, Vater, daß du es mit einer Kur bei Doktor Streiff versuchen mußt. Zunächst machst du deine Kur hier zu Ende. An deiner Stelle würde ich den hiesigen Aufenthalt sogar noch verlängern, da dir die Baderei und das andere so gut gefällt. Aber sobald wir eingerichtet sind, ziehst du zu uns. Wenn es dir recht ist, könnte Doktor Streiff ja in den nächsten Tagen schon zu dir kommen, zu einer ersten Konsultation.«

»Du bist immer ein gutes Kind gewesen, solange man dich in der Nähe hatte und unter der Fuchtel hielt. Noch heute kannst du dir nicht vorstellen, daß mir etwas Böses geschieht, außer dem, was du mir antust«, gab Saxer zurück. »Es ehrt dich auch, daß du in die Wissenschaft deines Mannes so unbegrenztes Vertrauen hast. Du darfst mir aber nicht übelnehmen, wenn ich nicht sehr viel Zuversicht habe in das, was menschliche Kunst in einem Fall wie dem meinen vermag.«

»Dein Fall ist nicht anders als hundert und tausend andere auch«, ließ sich Lily vernehmen. »Du hast mit deinen Kräften gehaust, als ob sie etwas Unerschöpfliches wären. Das hat sich gerächt. Aber du hast dich hier ja schon sehr gut herausgemacht. Und was das Auge angeht, so muß man eben etwas anderes versuchen. Du hast ja andeutungsweise gehört, wo Doktor Streiff mit seiner Methode hinauswill. Vielleicht wäre das auch für dich ganz das Rechte.«

Saxer versank in Grübeln.

Valär schreckte ihn daraus auf. Er sagte: 157

»Auch ich meine, Herr Saxer, daß Sie nicht nachgeben dürfen. Nachgeben – das ist doch etwas, was überhaupt nicht zu Ihnen paßt. Es liegt Ihnen ja gar nicht.«

»Es liegt mir wirklich nicht« bestätigte Saxer, »und es freut mich, daß Sie das sagen. Wie sollte es auch! Herrje, ich bin ein einfacher Mensch. Für mich ist das höchste Wesen der Gott der Arbeit gewesen. Ihn habe ich stets vor mir gesehen als einen harten und unerbittlichen, aber auch wohlmeinenden Mann – ihm bin ich gefolgt, ihm habe ich gedient, und ich habe darin meinen Genuß und meinen Gewinn gefunden. Denn ich habe schon früh erkannt, daß das Feld der Arbeit in unseren Tagen das einzige ist, auf dem sich die menschlichen Freiheitsrechte in vollem Umfang ausnutzen lassen. Ich habe es auch nie als eine Schande betrachtet, so zu sein, wie ich war. Nie habe ich mir andere Gaben und andere Fähigkeiten gewünscht als die, die ich besaß. Nie wäre ich lieber geboren worden in einem andern Haus als in dem meiner Eltern. Nie wäre ich lieber in eine andere Zeit, in einen andern Aufgabenkreis und in andere Verhältnisse hineingestellt worden als in die, die ich vorfand. Nichts habe ich mir ausgesucht, und doch war ich einverstanden mit allem. Ich fühlte auch, daß die Natur mich stark gemacht hatte, und ich habe diese Stärke genutzt. Wenn einer so war, daß er mich herausforderte zum Getretenwerden, so habe ich ihm einen Tritt versetzt – und wenn einer durch seine Tüchtigkeit und seine Intelligenz die andern überragte, so habe ich ihn auch besser bezahlt und über die andern erhoben. Die soziale Frage war dadurch für mich gelöst. Das übrige war Sand in die Augen. Wenn man mich angriff deswegen, so war mir das recht. In einer Welt ohne Feuer und Wasser, ohne Pfeffer und Salz, ohne Kämpfe und Widerstände – nein, danke, nicht eine Stunde lang wäre mir in einem solchen Süßmostpfuhl wohl gewesen. Wenn ich auf zu wenig Widerstand stieß, habe ich deswegen die Widerstände vermehrt, bevor ich zum Sturmangriff überging, und wenn ich gar keinen Widerstand fand, so habe ich ihn geschaffen. Ich habe mich auch nicht verpflichtet gefühlt, besser oder dümmer als die andern zu sein – nirgends gibt es ein Papier dieses Inhalts, unterschrieben von mir. Auch heute noch würde ich ein solches 158 Papier nicht unterschreiben und mich dadurch erniedrigen unter mich selbst. Aber nun soll das alles gar nichts gewesen sein! Es soll nichts gelten und kein Gewicht haben dürfen. Ich werde einfach ins Dunkel gestoßen von einer Macht, die ich nicht fassen kann und nicht kann zur Rechenschaft zwingen. Lange habe ich es nicht glauben können, daß dies das Ziel sei, an das ich hingeführt werden soll. Aber zuweilen höre ich eine finstere Stimme, die es bestätigt. Die Stimme sagt: Dich niederschmettern, das wollte ich. Denn ich trete lieber etwas in den Staub, was sich stark und groß gefühlt hat und sicher in meiner Gunst, als ein elendes Wesen, das zeitlebens ein Wurm war.«

Saxer wischte sich mit der Hand quer über die Augen und setzte unvermittelt hinzu:

»Herr Valär, was würden Sie in meinem Fall tun?«

Valär war betroffen. Ein in seinen Grundfesten erschüttertes, von Katastrophenbereitschaft durchzogenes Leben hatte sich vor ihm aufgetan. Aber dieses Leben war noch keineswegs abgekämpft, das hatte die junge Frau ganz richtig gesehen. Saxer war noch immer ein Mann der Träume, und auch jetzt noch machte er sich nichts daraus, wenn er in den Augen anderer schwarz und zweideutig aussah.

Valär ließ nichts von seiner Betroffenheit merken.

Einem blitzartigen Einfall folgend, antwortete er, fast ohne zu überlegen und nicht eben sanft:

»Ich würde Ihnen empfehlen, dasselbe Rezept anzuwenden, das auch mir in bedrängter Lage einmal geholfen hat.«

Rosa lehnte sich tief in den Sessel zurück und blickte zu Valär hinüber, als ob sie sehr hilflos wäre – Lily preßte den Mund zusammen und hing mit ängstlicher Spannung am Gesicht ihres Mannes.

»Was für ein Rezept?« fragte Saxer, und seine Zunge war schwer.

»Als ich das Gymnasium hinter mir hatte und meine Zukunft in Frage stand«, erklärte Valär, »da ließen Sie mich durch einen Ausläufer zu sich rufen. Sie sagten mir, man habe eine Stiftung gemacht, zur Förderung begabter Kinder aus der Gemeinde. Wenn ich eine Eingabe mache, so wolle man das Gesuch an den 159 Stiftungsrat weiterleiten und mich für die Ausrichtung eines Stipendiums den Herren empfehlen. – Herr Saxer, erinnern Sie sich?«

Saxer wischte mit dem Arm an seinem nackten Kopf vorbei durch die Luft wie nach einer Fliege, die ihn umsummte, und sagte mit einem pferdeähnlichen unwilligen Schnauben, wie man es von diesen Tieren hören kann, bevor sie über ein widriges Hindernis gehen:

»Theater, Valär! Die Stiftung hat nie existiert. Aber das Mädchen da« – er wies auf Rosa – »hat mir mit ihrem Kummer um Sie so süß in den Ohren gelegen, daß ich wirklich auf Sie aufmerksam wurde – schon damals war sie in Sie verliebt. Da hat man den Ausweg über die Stiftung gesucht, damit Sie niemand persönlich verpflichtet wären, und weil es so auch sicherer war, daß ich mein gutes Geld später wieder zurückerhielt. – Lang ist das her!« fügte er noch hinzu, mit einem kurzen, fast schmetternden Lachen.

»Vater, du bist ein entsetzlicher Mensch!« revoltierte Rosa und schnappte nach Luft.

»Das war ich immer, wenn ich gezwungen wurde, der Wahrheit vor einer gesellschaftsfähigen Lüge die Ehre zu geben.« – Abermals lachte er. »Weiter, Valär!«

»Sie waren damals sehr barsch zu mir, als ob Sie sich gegen andere ungestraft wirklich alles herausnehmen könnten«, fuhr Valär fort. »Ich hatte daher auch größte Lust, Ihr Angebot abzulehnen. Hätte ich es getan, so säße ich jetzt nicht hier, und in unser aller Leben wäre manches wohl anders geworden. Aber dann sagte ich mir: Wenn du wunde Füße hast, fährst du auch auf einem Güllewagen – und ich nahm Ihr Angebot an. – Auch Ihnen empfehle ich, auf den Güllewagen zu steigen, Herr Saxer, obgleich tausend viel flinkere Räder sich für Sie drehen, wenn Sie es befehlen.«

Während Valär sprach, hatte er ununterbrochen gedacht: Entweder er erträgt's – oder er erträgt's nicht. Aber hören muß er's, ob er will oder nicht, geschenkt wird ihm nichts. Und er hatte alles so gesagt, wie er es dachte. 160

Saxers Kopf war langsam sehr rot geworden. Aber der Ausdruck seines Gesichts war nicht der eines wütenden oder gekränkten, sondern der eines lauschenden Mannes. Er saß da, als hätte er abermals Stimmen gehört, nicht die Stimme Valärs, sondern abermals Stimmen von oben, aber nicht solche, die finster waren. Dann sank sein Kopf plötzlich nach vorn. Er sank, bis er mit dem Kinn gegen die Brust stieß, und so hielt der Mann still, während sein nackter eckiger Schädel wie ein Marmorblock glänzte. Auf jeder Lehne einen Arm, die Hände fest um die vordere Biegung geschlossen, so saß er da, breit, sinnend, die gestopften Schultern waagrecht hinausgeschoben, und niemand wagte die Stille zu stören.

Endlich hörte man ihn mit seiner belegten Stimme zu Rosa sagen, sehr zahm, aber auffallend interessiert:

»Also, wie ist das mit den Kuren bei euch dort oben? – Erzähle einmal.«

Und Rosa erzählte. Aber sie gab keine Geheimnisse preis. Sie begnügte sich damit, diese nur geschickt anzudeuten, und sie wob emsig an ihrem Garn.

Saxer, der Rosa wiederholt mit Fragen unterbrochen und zwischenhinein sogar behauptet hatte, er habe gehört, daß ihr Mann nur ein großer Windhund sei, tat es sichtbar wohl, daß Rosa so um ihn besorgt war. Seine Haltung bekam etwas Gelöstes, und zuletzt fragte er nach dem Preis pro Person und Tag, Behandlung mit inbegriffen.

Rosa gab Auskunft.

Ein schallendes Gelächter stob als Antwort aus seinem Mund, spöttisch und dennoch fast fröhlich.

Rosa verteidigte sich.

Abermals lachte er.

Das sei zu viel für einen Sitz auf dem Güllewagen, erklärte er und tat zugeknöpft. Außerdem brauche er ein großes Zimmer für Bürozwecke und mehrere Zimmer für Angestellte – das sei ein Vorteil für sie, und sie möge diesen Vorteil gefälligst in Rechnung stellen. Und nun hub zwischen Vater und Tochter nach allen Regeln der Kunst ein erbittertes Feilschen an: es war ein zähes gerissenes 161 Spiel, und jedes schien an diesem Spiel ein großes Vergnügen zu haben. Eines versicherte dem andern, daß es nicht zum Verschwenden geboren sei, und dieses Feilschen hörte erst auf, als Saxer den Preis für alles so weit heruntergehandelt hatte, daß er für sich und seine Begleitung nicht mehr bezahlen mußte als in dem feinen Hotel, in dem er hier weilte, und das war noch immer nicht wenig. Jetzt erst war er befriedigt, das aber auch ganz und in einer gewissen grimmigen Weise.

»Gut, dann besteigen wir also den Güllewagen, sobald er geschmiert und mit den zugehörigen Ochsen bespannt ist«, sagte er, indem er sich erhob. »Aber«, wandte er sich plötzlich an Rosa, und man hörte, wie seine Stimme gefror, »das versichere ich dir: wenn die Kur nichts nützt, werde ich dich enterben.«

 


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