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In öffentlichen Bauten gibt es immer Wandflächen, die mit Bildern bedeckt werden sollen. Sie sollen zeugen für Wohlhabenheit und Geschmack und eine festliche Stimmung im Besucher erregen.
Auch für das von Valär erbaute Konzert-, Ball- und 461 Ausstellungshaus waren fünf solcher Wandflächen vorgesehen, teils im Treppenhaus, teils in Sälen. Ein unter den ansässigen und im Kanton heimatberechtigten Malern dafür ausgeschriebener Wettbewerb war inzwischen abgelaufen und hatte zur Einsendung so zahlreicher Entwürfe geführt, daß das aus Valär und vier andern Herren bestehende Preisgericht erst nach einigen Tagen jene fünf Arbeiten ausgeschieden hatte, die es für die besten hielt. Jeder dieser fünf Künstler sollte einen Preis und einen Auftrag erhalten.
Nach einer letzten anstrengenden Sitzung waren auch die Ränge unter den fünf Auserwählten verteilt, und die Preisrichter atmeten auf. Denn jetzt mußten nur noch die mit einem Kennwort versehenen Briefumschläge geöffnet werden, um die Namen der Urheber zu ermitteln.
Die Preisrichter saßen in einem luftigen großen Saal des neuen Hauses um einen mit Protokollen und andern Papieren bedeckten Tisch, die einen trinkend, die andern rauchend, alle erlöst und ohne Rock, denn es war warm. Nur die fünf gekrönten Entwürfe waren noch aufgehängt, alle an einer Wand. Diener waren mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt; von draußen hörte man aus der Luft Motorengeräusch, bald näher, bald ferner.
Zum Erstaunen des Komitees stammte die in den zweiten Rang erhobene Arbeit von einem Künstler, der den ganz unbekannten Namen Charles Dormond trug. Niemand war diesem Namen bisher in Ausstellungen oder Gesprächen begegnet. Nur in Valär wurde es hell. Denn der Unbekannte war der älteste, jetzt etwa 24jährige Sohn des Apothekers Dormond in Escholzwil. Der junge Mann lebte teils in Paris, teils in der Gascogne oder Provence; dahin wies auch die beigelegte Adresse. Valär kannte ihn gut, ohne daß er aus ihm bisher hätte ganz klug werden können. Er war ein stiller Mensch mit abfallenden Schultern, rundem katzenhaftem Gesicht und einem Paar dunkler, kluger, sehr wachsamer, aber nicht ungefährlicher Augen. Wenn er sprach, konnte er sehr mitteilsam sein, ganz unvermittelt aber sehr gleichgültig oder sehr zynisch werden. Das hing wohl damit zusammen, daß er leicht verkrüppelt war und nicht in jeder Lage mit denselben Waffen kämpfen konnte wie ein normaler gesunder Mann. Der Schaden saß an 462 seinem linken Bein. Infolge eines von der Kinderlähmung zurückgebliebenen Defektes stand die Ferse zusammen mit dem Hinterfuß hoch in die Luft, so daß er nur mit den Zehen und Zehenballen auftreten konnte und dauernd am Stock herumhinken mußte. Trotzdem konnte er unglaublich beweglich sein. Als Künstler hatte er bisher weder etwas gezeigt noch versprochen. Nur sein Vater hatte unentwegt an ihn geglaubt.
Jetzt hatten sich die Erwartungen des Vaters aufs Schönste erfüllt. Das freute Valär um so mehr, als auch er von der Leistung betroffen war. Das Bild hatte einen großen, beinah homerischen Zug und war, als Malerei, dennoch ein Stück bester Gegenwart, unverquält, voll Poesie, und trotzdem sehr überlegt und mit hellstem Bewußtsein gestaltet.
Sein Inhalt war einfach. Man sah eine stark in die Länge gezogene, ganz flache Strandlandschaft, die klar und sauber gegliedert war. Links war sie überhöht von einem felsigen Ufer, desgleichen rechts, doch stiegen die Felsen hier weniger hoch. An der Grenze von Vorder- und Mittelgrund, links und rechts von der Mitte, ungefähr dort, wo die Linien des Goldenen Schnittes sich trafen, saßen zwei Menschengruppen auf Blöcken am Boden, die eine zwei, die andere drei Personen umfassend, Männer und Frauen in jeder, alle vom Rücken oder halb von der Seite gesehen. Sie wirkten wie Symbole des Lebens, das im Zustand der Reife angelangt ist. Durch die leere Mitte des Bildes ging der Blick zwischen ihnen hindurch frei in den Hintergrund auf eine Stelle, wo das flache Land und das Wasser ganz ohne Wellenschlag sich berührten. Hier stieß der Blick abermals auf eine Gruppe, diesmal eine bewegte. Sie bestand aus zwei weißen schweren Pferden ohne Geschirr, die eben im Schritt dem sonnigen Wasser entstiegen. In ihrer Mitte ging ein großes Mädchen und führte sie; es hielt jedes der Pferde mit der Hand am Halfter fest. Das Mädchen war eben erblüht und goldbraun in seiner Nacktheit. Mädchen und Pferde strebten dem Lande zu. Was weiter geschähe, blieb ungewiß.
Das ganze Bild war in sehr lichten, sandigen, grauen und gelben Tönen gehalten. Nur in den Körpern und losen Gewändern der Menschen und in einigen Büscheln Gras traten starke Farben in 463 wohlabgestimmten Akkorden hervor. Alle künstlerischen Aussagen waren auf das Wesentliche beschränkt, dieses aber war bestimmt, breit und überzeugend herausgearbeitet. Als Ganzes wirkte das Bild wie eine Sage von Erde, Wasser, Himmel und Luft, von Mensch, Tier und Pflanze und ihrer kummerlosen Begegnung. Bei der Mädchengestalt mit dem goldrotblonden Haar dachte Valär unwillkürlich an Nele, und er hatte großes Heimweh nach ihr.
Etwas mußte mit dem jungen Dormond allerdings noch besprochen werden: ob er die Freskotechnik, nach der das Bild schrie, genügend beherrschte, um die Ausführung in ihr zustande zu bringen. Da Valär ihn kannte, erhielt er den Auftrag, die nötigen Auskünfte einzuholen.
Aber zunächst ging er ans Telephon, um dem Apotheker Dormond vom Erfolg seines Sohnes Charles zu berichten. Dormond gurrte vor Vergnügen und Stolz wie ein balzender Täuberich, und seine Stimme war so, daß Valär die gefühlvolle Carusonase des Apothekers und sein kahnartig vorstehendes Bäuchlein ebenso gut in ihr finden konnte wie seine Baskenmütze und seine lustigen Spatzenaugen. Der Vater sprach auch von einem Telegramm, das er sofort an den Sohn absenden werde. Telegramme würden an alle Preisträger geschickt, sagte Valär, der Protokollführer setze sie eben auf. Das für Charles gehe nach Sanary. – Bitte, nicht dorthin, sagte der Apotheker, Charles sei nicht mehr dort, seit einigen Wochen lebe er im Tessin. Adresse: Magliaso, Casa Taboni.
Valär kam mit dieser Nachricht zurück, und der Vorsitzende des Preisgerichtes meinte, daß damit ja auch die Rücksprache wegen der Freskotechnik bedeutend vereinfacht werde. Ob Valär nicht Lust hätte, über das Wochenende ins Tessin zu fahren und sich die nötigen Auskünfte persönlich bei dem jungen Dormond zu holen? Die Spesen könnten in diesem Fall noch zu Lasten des Preisgerichtskontos verrechnet werden.
»Schön, verrechnen wir!« erwiderte Valär. Und er dachte, während er seine Zustimmung zu diesem Vorschlag gab, ebenso sehr mit Schrecken wie mit neuem Heimweh daran, daß 464 Magliaso ja ganz nahe bei Agno war, wo Nele jetzt lebte, und daß er bei dieser Gelegenheit vielleicht ein Stück von ihr zu sehen bekäme.
Kurz, nachdem Valär das Sitzungszimmer verlassen hatte und auf dem großen vor ihm liegenden und sehr verkehrsreichen Platz, das Tram erwartend, vor einem Schaufenster mit Perserteppichen stand, berührte ihn jemand an der Schulter. Rosa stand hinter ihm.
»Guten Tag, Andrea! . . . . Bitte, kannst du mir sagen, wo hier eine Kapfstraße ist?«
Er übersah ihre dargebotene Hand. Jawohl, wenn sie ihn für etwas ausbeuten konnte, und wenn es nur eine Auskunft war, die ihr jeder Trämler geben konnte, dann war er ihr recht . . . Nicht einmal ihren Gruß erwiderte er. Er musterte ihr Gesicht mit einem Blick, von dem er selbst fühlte, daß er nicht eben freundlich war, und erst als ihr das alles gar nichts zu machen schien, erinnerte er sich an das, was er gefragt worden war. »Kapfstraße –?« wiederholte er.
»Seit zehn Minuten irre ich hier in diesem Durcheinander von Straßen und Gassen umher und suche nach einer Kapfstraße 7. Man hat mir gesagt, hinter dem Konzerthaus müsse es die zweite oder dritte Straße nach Westen sein. Aber ich habe auch die andern Richtungen abgelaufen, und von einer Kapfstraße kann ich mit dem besten Willen nichts finden.«
»Eine Kapfstraße ist mir nicht bekannt«, sagte Valär. »Aber eine Napfgasse, das gibt's, falls du die meinen solltest. Die ist gleich dahinten, links. Es ist eine enge Querverbindung zwischen dem Kräutermarkt und der Säumerstraße.«
»Na, so etwas!« rief Rosa. »Wie hat sich das in meinem Kopf nur so verwirren können, daß ich Kapfstraße sage! Die Napfgasse such ich natürlich!« – Sie zog das »natürlich« so unnatürlich in die Länge, daß Valär lächeln mußte, weil es ganz offenkundig war, daß die Kapfstraße ihr nur ein Vorwand gewesen war, um ihn anzusprechen, und während er lächelte, betupfte sie zuerst an der einen, dann an der andern Schläfe ihr unter dem 465 grünen Hütchen leicht hervorquellendes kupfriges Haar. »Und du bist im Begriff, heimzugehen?« fragte sie mit verwandelter Stimme.
Valär antwortete nicht. Sie sah auch sofort, daß er an etwas ganz anderes dachte. Er war nicht, was man abwesend nennt. Er war auch nicht mehr abweisend wie im Augenblick ihrer Begegnung, oder in irgendeiner Weise verlegen. Aber sie hatte wohl bemerkt, daß die Züge in seinem Gesicht immer härter geworden waren, seit sie bei ihm stand, und um seinen Mund zuckte ein bald betrübter, bald spöttischer Zug, während er fortfuhr, sie kühl und gelassen zu mustern.
Rosa lehnte sich ein wenig zurück, zog ihre Handtasche hoch und öffnete sie. Sie griff in ein Seitenfach und schien einen Schlüssel zu suchen. Als sie ihn dort fühlte, schien sie befriedigt zu sein, und während sie die Tasche wieder schloß, sagte sie:
»Jaja, Andrea! Wir sind uns ein wenig aus dem Wege gegangen in letzter Zeit, du mir und ich dir . . . Wir müssen das wohl zu unserm Schicksal rechnen, daß es mit uns immer so hin- und hergeht . . . Aber vorhin bist du mit einem so vergnügten Gesicht und so unternehmend um die Ecke gekommen, daß ich dachte, du seist jetzt wieder besser mit dir daran als bei unserm letzten Gespräch. – Weißt du, daß schon mehr als ein Jahr darüber verflossen ist?«
In diesem Augenblick kam Valär wirklich der Zorn, und er kam ihm so stark, daß es schien, als wolle er, ohne Rücksicht auf die umgebende Oeffentlichkeit, jede andere Regung und jede Ueberlegung ersticken. Denn er verstand ihre Anspielung gut. Aber Rosa war mit ihrem damaligen giftigen Hetzgerede ja unterlegen. Nele hatte Rosas Bosheit durch ihr Verhalten Lügen gestraft. – Der stürmische Aufruhr in seinem Innern legte sich bei dieser Erinnerung wieder und mit einem kurzen abschätzigen Lächeln erwiderte er:
»Ich war wirklich froh, als ich dort um die Ecke kam. Ich war froh, ohne zu wissen, daß du den Versuch machen würdest, dieser Freude durch dein unerwartetes Erscheinen noch einen besondern Akzent zu geben. Auch wir tun nämlich manchmal ein gutes Werk, nicht bloß du!« 466
»Ich – oh – Andrea – wie du das sagst! Es kann einem bei deinen Worten vor guten Werken ja geradezu schaudern! – Was Schönes habt ihr euch denn geleistet?«
Er lenkte ein. Es waren der Bitterkeiten genug. Er erwiderte:
»Wir haben einen unbekannten jungen Künstler entdeckt. Wir haben ihn auch gleich aus der Taufe gehoben.«
»Ei, was! Auch Architekt?«
»Nein, nichts für deine Protektion . . . Maler.«
»So. – Na, ich werde jetzt in die Napfgasse gehen und sehen, was ich tun kann für einen alten.«
»Habe ich es dir nun angesehen oder nicht, daß du wieder auf den Pfaden der Vorsehung wandelst?«
»Vorsehung! – Neles Mutter und Vorsehung«, entgegnete Rosa. »Sag selbst – nicht einmal die versammelte heilige Dreieinigkeit würde da Meister.«
Neles Name weckte sofort seinen Heimwehkummer von neuem, aber auch seine Neugier.
»Was ist mit Frau Ellegast los?« fragte er.
»Ach, eine ziemlich unschuldige und eigentlich blöde Geschichte, mit der aber doch nicht zu spaßen ist. – Hat dir Nele nichts davon mitgeteilt?«
Sie begann also wieder zu sticheln.
»Nein«, sagte er barsch.
»Frau Ellegast hatte doch im Frühling dieses Konzert. Ein Agent hat sie damals engagiert, gegen ein ziemlich ansehnliches Honorar. Auch hintennach hat er ihr aus Gutmütigkeit allerlei Komplimente gemacht. Sie hat das alles sehr ernst genommen und hat seitdem in der Hoffnung gelebt, das ginge im kommenden Winter mit Auftreten in allen möglichen Städten so weiter. Sogar von Auslandkonzerten hat sie geträumt. In dieser Hoffnung hat sie ganz riesig geschafft. Aber als sie neulich zu dem Agenten kam, um die Sache in Gang zu bringen, hat er ihr abgewunken. Nun droht die Frau wieder aus allen Fugen zu gehen. Das muß natürlich verhindert werden, und nun will ich sehen, was sich da machen läßt.«
»Aber dahinten ist doch keine Konzertagentur?«
»Der Mann hat dort seine Privatwohnung. Er ist 467 augenblicklich ans Zimmer gebunden, und mit den Angestellten kann man über so etwas nicht sprechen. Also geh ich zu ihm. Schon um Neles willen muß verhindert werden, daß das alte Durcheinander mit ihrer Mutter wieder beginnt. Nele steht ja auch nicht ganz so fest auf den Beinen, wie es manchmal auf den ersten Blick scheint.'
Etwas würgte ihn. Eine tiefe Falte zeigte sich auf seiner Stirn.
»Was hörst du von ihr?«
Schon während er sprach, bereute er seine Frage. Aber sie war nicht mehr aufzuhalten.
Rosa tat, als ob sie seufze.
»Nele ist sehr sparsam in ihren Mitteilungen«, sagte sie langsam und nicht ohne Genuß. »Sie schien sich gar nicht gern von hier zu trennen. Ich glaube aber, sie ist nach allerlei Kümmernissen zuletzt doch mit einer gewissen Erleichterung weggegangen – von mir und auch von dir, und ich kann das verstehen. Sie hat sich im Umgang mit dir eben doch nicht – ja wie soll ich sagen? – sagen wir: so stark fühlen können, wie es ihr Bedürfnis war. Du warst ihr zu überlegen . . . Und ich war ihr vermutlich manchmal zu peinlich besorgt . . . Aber sie ist doch ein sehr tapferes tüchtiges Mädchen. Sie hat einen ganz prächtigen Plan für die Neuanlage der verlotterten Gärten da unten gemacht. Sie scheint allmählich auch nette Gesellschaft da unten gefunden zu haben. Sogar von einem jungen Mann aus Escholzwil hat sie neulich geschrieben, der mit dabei ist – so klein ist schließlich immer wieder die Welt! – Ist das nicht komisch, Andrea?«
»Dann kannst du dir ja nur wünschen, daß du auch weiterhin von Nele Nachrichten erhältst, die dich so freuen wie diese. – Adjö, Rosa!«
Er maß sie noch mit einem kurzen undeutbaren Blick und dann ging er. Dabei zog sich sein Herz in grimmem Schmerze zusammen. 468