Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXV.

Es wurde nie ruchbar im Hause Elmenreich, ob Bruno zu Pfarrer Leuthold gegangen war, um ihn zu warnen, und, falls es geschehen war, was er ausgerichtet hatte auf diesem Gang. Er selbst ließ davon nie etwas verlauten, und Elmenreich hatte mit Valär vereinbart, ihn nicht danach zu fragen. »Mach keine Geschichte daraus!« Es war das noch immer das beste Fiebermittel bei so empfindlichen und gespannten Naturen wie Bruno.

Nur seinem Freund Kari Bösch vertraute Bruno sich an. Diesem sagte er:

»Ich habe Leuthold erklärt, daß er es nicht wagen soll, noch einmal vor mir her über die Straße zu gehen. Ich würde ihn sonst mit meinem Motorrad ohne weiteres überfahren, wo es auch sei.«

Tag für Tag wartete Bruno seitdem darauf, daß er wegen Bedrohung angeklagt würde, und daß der Krach dann losgehen könnte. Aber Leuthold rührte sich nicht.

Dagegen sprach man in der Gemeinde plötzlich davon, daß Leuthold nicht mehr gewählt werden solle. Die Umbruchbewegung! Näheres über diese Bewegung wußte man in der Gemeinde nicht. Aber es war doch durchgesickert, daß Leuthold im Vorstand dieser neuen Partei oder, was es sein mochte, säße, und das wollte manchem Kirchlichgesinnten gar nicht zu Kopf. Und nun auch noch im »Escholzwiler Bezirksanzeiger« – unter »Eingesandt« und unterzeichnet von einem »Freund der Umbruchbewegung« – dieser bissige Angriff auf die lokale Spitalverwaltung, deren augenblicklicher Vorsitzender Elmenreich war, weil sie einen von einer ungenannt sein wollenden Dame zur Deckung des Betriebsdefizits gestifteten Scheck über Fr. 72 318.– nicht nur angenommen, sondern in einer öffentlichen Danksagung auch dessen Spenderin als hochherzige Freundin der Armen und leuchtendes Vorbild gepriesen hatte. Geld aus einem Freudenhause! Sogar die Annullierung des Beschlusses und die Rückgabe des Geldes hatte der giftige Kerl in seiner Zuschrift verlangt. – Manche meinten seitdem, wenn die Umbruchbewegung solche Früchte zeitige, dann stehe es schlimm mit ihr, und es sei gleichzeitig ein Segen, daß 250 Leutholds Amtsperiode im laufenden Sommer zu Ende ging. Ein Teil der Kirchenpfleger wollte ihn denn auch für eine Wiederwahl überhaupt nicht mehr in Vorschlag bringen. Andere fanden dieses Vorgehen zu scharf. Man solle ihn ruhig noch einmal auf die Liste nehmen. Dabei sei kein Risiko. Der allgemeine Unmut schwemme ihn weg.

Auch im Hause Elmenreichs wurde von diesem Stimmungsumschwung in der Gemeinde gesprochen, und eines Tages sprach Bruno davon auch zu Valär. Bruno kam jetzt recht oft auf die Baustelle des Konzert-, Ball- und Ausstellungshauses und zeigte ein sonderbares Interesse für alles mögliche, was dort geschah.

Valär entging es nicht, daß Bruno sehr zufrieden war über die Nachricht, daß die Gemeinde sich Leutholds entledigen wolle. Etwas wie ein schwerer Druck schien von Brunos Seele gewichen zu sein. Er habe, so sagte er zu Valär, schon alles Vertrauen zu diesen Leuten hier verloren gehabt. Denn es habe geradezu ausgesehen, als seien die Geister schon so versumpft und verfault, daß keiner mehr spüre, wie nötig es sei, für die Ehre des Landes etwas zu tun und diesem unangenehmen Kerl an den Kragen zu gehen. Begreiflich, daß ein Mann wie sein Vater es unter seiner Würde hielt, sich mit ihm einzulassen. Immer besser verstehe er das. Ein Edelmann, und ein Unflat daneben! Aber die andern? – Nun gefiel es Bruno, daß sie doch auf Sauberkeit halten und sich gemeinsam gegen Leuthold auflehnen wollten. Er sah sich nicht mehr in seinen Gefühlen durch ein weites wüstes Niemandsland von ihnen getrennt. Sie blickten – endlich einmal! – in der gleichen Richtung wie er.

Ein stolzes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er das sagte. Der Stolz schoß ihm auch in die Muskeln und straffte sie. Es war, als wäre für ihn die Welt allein schon dadurch schöner geworden, daß er im Umkreis der großen erwachsenen Männer mit seiner Empörung nicht mehr allein stand.

In der entspannten Atmosphäre, in der Bruno mit einemmal lebte, schien es ihm aber auf die Dauer nicht wohl zu sein, und – wie gerufen – stieß er alsbald mit einem neuen Konfliktstoff zusammen. 251

Bruno hatte sich mit Schulkameraden und andern ungefähren Altersgenossen zu einem Debattierklub zusammengetan: dem Dreitannenbund – so genannt, weil sie sich in der Kegelbahn von Dreitannen trafen; Zünd hatte sie ihnen zur Verfügung gestellt, und manchmal erschien er auch selbst in ihrem Kreis.

Im Begriff, dem Sohn des Apothekers Dormond, einem Studenten der Volkswirtschaft und Mitglied des Dreitannenbunds, beim Sammeln von Material für einen Vortrag zu helfen, in dem jener »Die Verquickung von Politik und Kapital in unserem Lande« behandeln wollte, hatte Bruno die Entdeckung gemacht, daß es einen Nationalrat gab, der 23 Verwaltungsratssitze in Unternehmungen verschiedenster Art mit seinem Mandat verband. Alle diese Unternehmungen waren nicht klein; Dormonds Erhebungen hatten ergeben, daß sie zusammen über ein Betriebskapital von rund eineinhalb Milliarden Franken verfügten.

Bruno breitete diese Neuigkeit mit einem entrüsteten Kommentar am Familientisch aus. Bei dieser Gelegenheit kam heraus, daß der unwahrscheinliche Schwerarbeiter einer der vielen entfernten Verwandten seiner eigenen Mutter war.

Seitdem war Bruno besessen von dem Verlangen, sich über diesen Mann persönlich Bescheid zu verschaffen. Er wollte ihm das den Zeitgeist Verletzende, das Suspekte und schlechthin Widernatürliche seines Verhaltens zum Bewußtsein bringen, wollte ihn aufrütteln, wollte in dem Mann eine Krise schaffen, wollte ihn knicken, bekehren. – Hatte er so gute Erfahrungen gemacht mit seinem Besuch bei dem Pfarrer?

Nany, die Mutter, kicherte, als sie das hörte – sie war ja »das Kind« in der Familie und hatte ein Recht dazu; niemand nahm es ihr übel, daß sie sich so unverständig benahm. Aber der Vater ermunterte Bruno. »Tu das, mein Sohn!« sagte er, »geh in die Höhle des Löwen – du hast ja Uebung darin. Es ist besser, ihr schafft euch auf diese Art Luft als durch eine Katzenmusik in der Zeitung.«

»Zeitung?« erwiderte Bruno verächtlich. »Für ein Sozialistenblatt wär's natürlich ein Fressen. Aber was hat dieser und jener davon, wenn er es weiß und sagen kann: dem hat man's gegeben? 252 Nein, dieses kleine giftige Fehdewesen hat gar keinen Spitz. Schon Jacob Burckhardt hat das gesagt. Auf den Mann kommt's an – darauf, daß er lernt, sich vor sich selber zu fürchten!

»Eben deswegen sage ich: geh in die Höhle des Löwen!

Nany kannte den angefochtenen Mann und kicherte abermals. »Löwe!« rief sie, »der und Löwe! Wo er als bulgarischer Zwetschgenkonsul begonnen hat! Wo ich das doch weiß!« Weiter sagte sie nichts. Bruno aber war entschlossen, dem Löwen oder was für ein Tier er sonst war, gewisse noch ungeschriebene Gesetzestafeln entgegenzuhalten, damit er sich vor ihnen beuge. Und er schrieb dem entfernten Verwandten einen verbindlichen Brief, sagte, wer er sei, behauptete, daß er demnächst »in jene Gegend« komme, und fragte, ob er sich bei dieser Gelegenheit vorstellen dürfe.

Der Mann war nicht unzugänglich. Er setzte einen bestimmten Nachmittag für die Zusammenkunft fest. Als Treffpunkt nannte er seinen Ferienort. Um genaue Einhaltung des Termins werde wegen anderweitiger starker Inanspruchnahme gebeten. Der Brief war eigenhändig und in französischer Sprache geschrieben.

»Spricht er nicht Deutsch?« fragte Bruno seine Mutter beklommen.

»Mach dir nichts draus! Es ist seine Altbasler Vornehmheit. Alle mehrbesseren Basler machen das so. Seine Familie war ziemlich verkracht, aber Mehrbessere sind sie trotzdem geblieben. Sie wollen mit ihrem Französisch zeigen, daß es ihnen im Blut liegt, nur sieben Schnellzugstunden von Paris geboren zu sein. Es ist jedem seine private Großmünsterfassade.«

 

Der Ferienort lag im Wallis. Bruno fuhr auf seinem Motorrad hin.

Der Hotelportier sagte auf Brunos Anmeldung hin untertänig: »Ah, Monsieur le Président!« und winkte einen Kellner herbei. Der Kellner, der Bruno geleitete, sagte ebenfalls: »Ah, Monsieur le Président«. Bruno tat bei der Begrüßung dasselbe. Er tat es nicht aus Achtung vor Rang und Stand, sondern weil er sich plötzlich auf fremdem Boden fühlte, und dieses Wort offenbar etwas wie ein Paßwort war. 253

Monsieur le Président saß in Hemdsärmeln unter einer Gartenlaube aus Weinspalier, ganz allein, und bekam gerade den Vieruhrkaffee serviert. Es war ein üppiger Kaffee komplett mit einem Berg frischgebackener, noch heißer Waffeln. Bruno wurde zum Mithalten eingeladen. Er war auf die Minute pünktlich gewesen, und das freute den Mann. Die Waffeln waren dick mit Zucker bestreut, und der Gastgeber begann sofort zu essen. Auf die erste schüttete er noch mehr Zucker, so daß ihre braune Kruste ganz darunter versank. Die zweite aß er so, wie sie war. Bei den folgenden klopfte er den Zucker auf den Erdboden ab und bestrich sie dick mit Butter und Honig. Er sah aus wie ein auf der höchsten Gehaltsstufe angelangter Kanzleisekretär, der sich etwas gönnte. Neben sich auf dem Tisch hatte er eine Kiste Zigarren. Als er sie später öffnete, waren aber nur Stumpen darin.

Monsieur le Président war ein sehr neugieriger Mann. Er hörte gut zu, aß viele Waffeln und trank viele Tassen Kaffee. Er schien seine eigene extragroße Kanne zu haben. Sie war aus getriebenem Silber. Offenbar entstammte sie dem Familienschatz. Wenn er es täglich so trieb, dann war das freilich ein Zeichen dafür, daß ihn alle die guten Dinge nicht mochten, die er verschlang, denn er war reichlich mager.

Als Bruno von den Zukunftsidealen der Jungen sprach, schien er großes Verständnis zu haben und gab wiederholt seinen Beifall kund. Offenbar gehörte er zu jenem gar nicht seltenen Menschentyp, der es darauf abgesehen hat, dadurch zu herrschen, daß er es mit niemand verdirbt. Jedenfalls wußte er mit dieser Formel umzugehen. Ja, die Jugend habe es gut. Schwärmen – prachtvoll – er kenne das. Wenn sie nur den Kopf voller Ideen habe, die ihr das Blut durcheinanderjagen, sei ihr gedient. Und weil sie sich wohl fühle in ihrem Rausch, stark, herrlich, gut, edel, selbstlos und schön, so sei sie auch schon überzeugt, daß die Welt ihre Ideen nur zu akzeptieren brauche, und der Welt sei geholfen. Warum auch nicht? Die Betriebskosten des Lebens bezahle ja einstweilen der Vater. – Hier machte er eine Pause und wusch sich die Finger in einer Wasserschale. – Wenn der Vater dann aber plötzlich nicht mehr bezahlt? Wenn 254 er vielleicht nie bezahlt hat, weil er nicht konnte? Wenn man auf dem Pflaster steht, in durchgetretenen Schuhen und im Sack keinen Rappen? Ja, dann sei man vielleicht schon zufrieden, wenn man mit einem Barvorschuß von fünf Franken sein Glück als Inseratenakquisiteur für die Bierbrauerzeitung versuchen dürfe, oder man versetze einige Ahnenbilder und werfe sich mit dem Erlös auf den Handel mit Zwetschgen. Denn bei hungrigem Magen seien die sublimsten Ideen nichts wert. Kurzum: an die Stelle der Ideale träten die Interessen und die Sorge um ihre Wahrnehmung. Damit aber werde das Leben zu einer reinen Verpflegungsfrage. Löse sie – und die Welt ist dein! Aber eben das sei die Kunst. Denn die Interessen seien stets Interessen von Gruppen. Es gäbe Interessen der Käsehändler, der Hausbesitzer, der Mieter, der Straßenkehrer, der Lumpensammler und der Großindustrie, und alle seien voneinander verschieden. Sie so unterzubringen im allgemeinen Verpflegungsprogramm der Nation, daß jede Gruppe auf ihre Kosten kommt, sei eine Kunst. Aber mit einiger Uebung gehe es doch. Nur brauche man dazu Praktiker und keine Schwärmer. Man brauche Wirtschaftslenker von Großformat, Verhandlungskünstler, Organisatoren, unter Umständen sogar ehemalige Zwetschgenhändler. Unter keinen Umständen eigneten sich dazu Wolkenschieber, Poeten.

Die Diskussion wurde lebhaft und währte lang. Sie verbissen sich ineinander. Bruno kniff immer fester. Schließlich fragte Monsieur le Président, was der Herr Vetter eigentlich wolle.

Bruno war voll bei der Sache. Fanatisch antwortete er:

»Wir wollen die Regierungsgewalt nicht in den Händen von Männern sehen, die als Vertreter von Gruppeninteressen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Art der Gefahr ausgesetzt sind, daß sie ihren Einfluß zugunsten dieser Gruppen bei der Gesetzgebung geltend machen und das Gemeinwohl dadurch verletzen. Solche Männer müssen aus dem Bild unserer Volksvertretung verschwinden. Sie sind blinde häßliche Flecken darin. Das sollen die Flecken begreifen lernen.«

»Aha! Oh! Aha!« rief Monsieur le Président. »Was erwarten Sie außerdem noch?« 255

»Wir erwarten von Ihnen, daß Sie entweder Ihr Nationalratsmandat niederlegen, oder die dreiundzwanzig Verwaltungsratssitze, und daß Sie dadurch Ihren Ratskollegen, die in ähnlicher Lage sind, ein Beispiel geben, das sie veranlaßt, Ihnen zu folgen. Es könnte sonst sein, daß wir den Geist der Freiheit, der solche Aemterverbindungen nicht als unanständig betrachtet, zu hassen beginnen, mit ganzer Kraft unserer Seele, und daß wir ihn verfolgen. Aber das möchten wir im Grunde ja nicht. Denn wir wollen die Freiheit nicht knechten. Wir wollen nur den Boden für Besseres und Schöneres schaffen, als jetzt da und dort auf ihm gedeiht. Der Wust muß ins Feuer.«

Monsieur le Président lachte vergnügt:

»Und was versprechen Sie sich persönlich für einen Vorteil davon, wenn ich das tu, was Sie von mir verlangen?« fragte er heiter.

Vor dieser unerwarteten Frage senkte Bruno den Kopf. Sein Geist war wie erschlagen. Vorteil? Hatte der Mann Vorteil gesagt? Vorteil für ihn persönlich? . . . Aber der Geist kam ihm wieder, und in plötzlicher Erleuchtung erwiderte Bruno:

»Sie sind ein Philister! Jeder Philister frägt so. Jeder frägt: Und was hast du davon, wenn das und das anders wird. Es ist seine Frage an jeden, der ihm mit etwas Neuem kommt. Aber wenn Sie so fragen können, dann bin ich beruhigt. Dann sind Sie ja ungefährlich.«

Monsieur le Président begann sich vor Vergnügen zu schütteln. Jetzt hatte der junge Mensch ihn für gefährlich gehalten! So etwas war ihm noch nie passiert. Was für ein Kompliment! Das mußte er weitererzählen.

Bruno stand auf und empfahl sich. Wütend fuhr er davon.

Am wütendsten aber war Bruno darüber, daß Monsieur le Président ihn genötigt hatte, die ganze Unterhaltung auf Französisch zu führen. Mit seinem Französisch stand es zwar nicht hoffnungslos schlecht. Aber es stand auch nicht so gut, daß er es fließend hätte aufnehmen und ebenso fließend hätte zurückgeben können. Wiederholt hatte er daher das Gespräch auf Deutsch weiterzuführen versucht. Comment? hatte dann Monsieur le Président in aller Unschuld gefragt, als könne er kein Wörtlein verstehen. Es 256 war die ausgesuchteste Altbasler Bosheit, daß er das tat, und Bruno saß schwitzend da und mußte die Zeche bezahlen. Nie mehr sollte ihm dergleichen passieren, im ganzen Leben nicht mehr, das schwor er.

Während einiger Tage war Bruno daheim sehr still und fast nicht zu genießen. Er sah aus, als trüge er Sprengpatronen im Sack, mit denen er sich selbst in die Luft jagen wollte. Manchmal fuhr er auf seinem Motorrad ein Stück weit ins Feld, stellte es an einen Baum und ging sinnend umher. Aber dann war der Kampf, der bittere, ausgekämpft, und als er sich eines Tages auf den Heimweg machte, war ihm so wohl und so leicht, daß er fast jauchzte. Am Abend ging Bruno zu seinem Vater und sagte:

»Bitte, Vater, hast du einen Augenblick Zeit?«

»So viele Augenblicke du willst.«

»Es kann mit mir nicht so weitergehen,« platzte Bruno heraus. »Ich muß daran denken, etwas zu werden.«

Elmenreich drehte sich mitsamt dem Stuhl, auf welchem er saß, vom Schreibtisch weg nach der Seite und richtete seine blitzblauen, immer leicht verwunderten Augen auf seinen Sohn. Es war gut, daß ihm Bruno so nahe stand, denn auf dem einen Ohr begann er immer schlechter zu hören.

»Glaubst du, daß ich mich anseilen muß, um dem kommenden Schock gewachsen zu sein?« – Er versuchte zu scherzen. Aber dabei sackte er doch ein wenig zusammen, weil die Ankündigung Brunos gar so überraschend gekommen war und ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte.

Bruno versuchte zu lächeln. »Hast du dich gesichert?« fragte er.

Wenn Bruno so ruhig war, konnte es kaum etwas Schlimmes sein. Schlimmes pflegte sich bei Bruno auf andere Weise zu melden. Es kam mit einer gewissen ehrgeizigen Unrast und Hast daher. Es war dann, als ob er aus Glasmasse wäre und klirrte.

»Von mir aus kann's losgehen«, sagte der Vater. »Was soll's also sein?«

Brunos lange seidene Augenwimpern schlugen wie dunkle flatternde Nachtfalterflügel vor ihm auf und nieder, und plötzlich standen sie still. 257

»Architekt«, sagte er.

Es verging eine Weile. Elmenreich nickte. »So!« sagte er.

Bruno nickte ebenfalls. »Das hast du nicht erwartet gehabt.«

»Nein«, gab der Vater zurück. Aber die Art, wie sein großes, blasses Gesicht sich nach oben wandte, und wie er dem Sohn abermals in die Augen sah, verriet, daß er nichts mehr hätte billigen können als diesen Entschluß, mochten die Beweggründe heißen und sein, wie sie wollten. Vor allem: es war doch ein Entschluß, ein Versuch, nicht mehr ziellos herumzupaddeln, sondern sein Lebensschifflein einzulenken in die Fahrrinne eines bestimmten Berufs.

»Ich wußte, daß ich etwas sagen würde, was dich überrascht«, fuhr Bruno fort, indem er sich halbseits auf das Fensterbrett setzte. »Aber ich wußte auch, du würdest froh sein darüber nach all dem Kummer, den ich dir mit meinem Zögern leider gemacht.«

»Aber wie bist du darauf gekommen?«

»Weil Architekt einfach etwas Edles ist. Architekt, das hat mit der Erde zu tun – und ist doch wieder nicht identisch mit dem verabschiedeten bäurischen Leben meiner Lüscherzeit, wo alles nur auf sie sich bezog. Auch mit dem Geist hat es zu tun – und doch nicht mit jener krausen Sorte von Geist, die einen Löwen, der nur ein Philister ist, dahin bringen möchte, daß er vor sich erschreckt. Es ist etwas, wo man sich zwischen Himmel und Erde bewegt, und eben das und nur das ist, wie ich glaube, für mich das Rechte. Auch mit Menschen hat man dabei zu tun, und man kann auch reisen.«

Abermals nickte Elmenreich stumm. Er nickte, aber er nickte gleichsam vorbei an dem sonderbaren Latein, das er soeben vernommen hatte, stand plötzlich auf und machte Front gegen Bruno. Er sagte fest:

»Du weißt, daß du als erstes dann die Maturität machen mußt.«

»Ich weiß es, Vater. Ich will es auch tun. Ich werde den Hundekuchen hinunterschlingen! Es lebe der Bildungskonsumverein, bei dem man ihn kauft! Wenn ich mich fest auf die Hosen setze, so glaube ich, für das Examen nach Jahresfrist reif zu sein. Aber vorher habe ich noch einen andern Wunsch: ich möchte fließend Französisch lernen und ebenso Italienisch. Denn solang ich mich nicht 258 mit jedem Landsmann in seiner Mundart zwanglos unterhalten kann über das, was ihn bewegt oder mich bewegt – das habe ich bei Monsieur le Président ja hinreichend erfahren –, solang bin ich nicht feldmarschmäßig ausgerüstet. Das Einfachste wäre deswegen, ich ginge vorerst, und zwar möglichst sofort, für ein halbes Jahr in die welsche Schweiz und danach für ein halbes Jahr ins Tessin und ließe mir dort diese Ausrüstung machen. Dann käme die Reih an den Hundekuchen.«

Brunos Vorschlag wurde erwogen. Und da man bei reiflicher Ueberlegung fand, daß sein Wunsch etwas sei, weswegen andere Eltern mit ihren Kindern in der Regel erst kämpfen mußten, und weil Bruno sein Anliegen mit Hartnäckigkeit und großer Ueberredungskunst vor dem Vater, der Mutter und Valär vertrat, geschah es, daß die häusliche Bewilligung schließlich nicht ausblieb. Valär ließ seine Beziehungen spielen, und schon nach wenigen Tagen war in der Familie eines Genfer Redaktors, wo auch an Söhnen und Töchtern ungefähr gleichen Alters kein Mangel war, eine passende Unterkunft für Bruno gefunden.

 


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