Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXVIII.

In diesem Sommer lebte Valär von seiner Widerstandskraft. Das war ein ihm vertrautes Verfahren. ». . . Und nach einem reichlichen Tagewerk ohne Weiberbeine ins Bett«, hatte er einmal zu Heß gesagt, »mit dem Bewußtsein, daß die Zeit, in der man lebt, von allen Zeiten zuletzt doch die schönste und beste ist, weil sie die einzige ist, die von mir und dir etwas verlangt . . .« Das war es! Von ihm verlangte sie durchzuhalten.

Es kam ihm gelegen, daß es beruflich viel für ihn zu tun gab. Denn das Fest-, Konzert- und Ausstellungshaus mußte bis zum Frühling vollendet sein. Auch Zerstreuungen brauchte er keine zu suchen; sie kamen, immer zur rechten Zeit, ganz von selbst. 387 Und wenn sie nicht kamen, blickte er sich in seinem Häuschen ein wenig um und stieß dann auf Dinge, die Nele mit ihren Augen oder mit ihren Fingern berührt und über die er ein wenig mit ihr gesprochen hatte, und er war plötzlich wieder mit ihr unterwegs. Halbstundenweise, minutenweise kam auch der Kummer. Er merkte auch, daß das etwas Neues war. Kummer, das hatte er nicht mehr empfunden, in keiner Lebenslage, seit dem frühen Unglück mit Rosa. Diese Entdeckung beschäftigte ihn. Aber wenn ihn jemand gefragt hätte, wie er zu seinem Kummer stehe, und er hätte zu dem andern grenzenloses Vertrauen gehabt, so würde er ihm geantwortet haben, auch sein Kummer helfe ihm das Leben mannigfaltiger machen und reicher.

Denn sein Kummer war von jedem Vorwurf oder Argwohn gegen Nele ganz frei. Es stand seiner Meinung nach nur so mit ihr, daß sie ihn augenblicklich nicht brauchte. Sie hatte ihn früher gebraucht und würde ihn später ebenfalls wieder nötig haben. Aber augenblicklich konnte sie keine Stütze und keinen Halt an ihm finden. Augenblicklich suchte sie Weideland, weil sie von allem, was sie nicht kannte, glaubte, es gehe sie etwas an. Und sie hielt sich an die, die sie hinführen konnten. Rosa hatte mit all ihrer Bosheit nicht ganz unrecht gehabt. Er zählte nicht mehr zu den Jungen, und diese brauchte sie jetzt. Allein, das würde nicht ewig so weitergehen, und weil sie dann ihn wieder brauchen würde, mußte er sich ihr erhalten. Dieser Glaube blieb. Er ließ keinen Schatten auf Nele fallen. Mochte sie sich noch so weit ins Abseits verlaufen, so war doch etwas da, was dafür sorgte, daß ihr Bild darunter nicht litt.

Wie Nele während dieses Sommers im einzelnen lebte, wußte er nicht und versuchte es auch nicht zu erfahren. Einmal sah er sie mit dem jungen Streiff in der Kegelbahn von Dreitannen verschwinden. Ein andermal stand sie fischend unten im Fluß. Der Apotheker Dormond hatte das Fischrecht auf einer großen Strecke gepachtet und war ebenfalls in der Ferne mit seiner Angelrute zu sehen, während sein Sohn bei Nele stand und sie in irgend etwas unterwies. Wieder ein andermal flitzte sie in der Stadt, ohne ihn zu bemerken, auf dem Hintersitz eines Motorrads an ihm vorüber, 388 und er wußte nicht, wer sie fuhr. Oft sah er sie zusammen mit Heidi. Etliche Male begegnete er ihr auch allein; dann war sie regelmäßig mit irgendwelchen Neuigkeiten über sich selber geladen, und immer schien sie guter Dinge zu sein. Sie versuchte jedoch nie, ihn zu etwas anzustiften. Das Wasser in seinem See war warm wie brauner oder laubgrüner Samt mit hellblauen Lichtern. Der Samt war in Ufernähe, dort, wo die Seerosen, weiße und gelbe, in all ihrer Pracht der Tiefe entstiegen, und die Lichter, die waren draußen. Nele kam oder radelte auf der andern Seite des Sees manchmal vorbei, und wenn sie herüberblickte, mußte sie alle diese Herrlichkeiten bemerken. Aber sie fragte nie, wie es mit dem Schwimmen stehe; ebensowenig lud er sie ein. Er wollte mit niemand in Wettbewerb treten.

Einmal, es war schon September, schien ihm Nele sehr niedergeschlagen zu sein. Aber er forschte nicht weiter nach. Kurz danach empfing er von Rosa sogar einen Brief. Sie möchte »den Kindern« eine Freude machen und mit ihnen über den Klausen fahren. Nele hätte vor, im oberen Matten- und Felsengürtel Pflanzen für ihr Alpinetum zu sammeln. Ob er nicht mitkommen wolle? – Ohne Schwanken lehnte er ab. Nachdem der Brief schon im Kasten lag, dachte er über den Vorschlag und über alles noch einmal nach und billigte seinen Entschluß.

Und er lebte weiter von seiner Widerstandskraft.

 

Auch der Spätherbst ging dahin, und der Ball lag immer noch an seiner kleinen Unebenheit still.

Da, Ende November, an einem Abend, als schon die Lichter brannten und Valär von Nele seit Wochen nicht einmal mehr einen Schimmer gesehen hatte, läutete sie in seinem Stadtbüro an. Telephoniert hatte sie ihm noch nie, und die Folge war, daß er ihre Stimme zuerst kaum erkannte.

»Herr Valär!«

»Ja?«

»Nele ist da . . . ich muß Sie sprechen.«

»Bitte!« 389

»Darf ich zu Ihnen kommen?«

Die Stimme schlug dunkel und drängend an sein Ohr, als hätte sie eine Wand von Zaghaftigkeit nicht ohne Mühe durchschlagen und die Fetzen der Zaghaftigkeit schwebten noch in der Luft wie dämpfender Staub.

»Jederzeit!«

»Danke vielmal!«

»Von wo aus sprichst du?«

»Von hier – in der Stadt . . . Ich bin in einem Automaten an der Straße.«

»Dann mach dich zu mir auf den Weg! Du klopfst an Zimmer fünfzehn.«

Sie käme am liebsten nach Büroschluß, gab sie sonderbar flehend zurück.

Er bestellte sie auf halb sieben.

Sie kam, er öffnete selbst, und sie war sehr adrett angezogen: blauer Mantel – blaues Hütchen – Köfferchen – Regenschirm – hohe Gummistiefel – alles naß bespritzt, denn es regnete stark. Als sie den Mantel auszog, erschien ein orangefarbiges Kleid mit breiten eisenhutblauen Streifen, und er erinnerte sich, daß sie es im Frühling getragen hatte, bei dem Treffen am Mörderbockplatz: – steckte Absicht in dieser Wahl? Er geleitete sie in sein Arbeitszimmer, und kurz danach saß sie auf demselben Stuhl, wie einst ihre Mutter, ihm gegenüber, durch den riesigen Zeichentisch von ihm getrennt.

Er sah, daß sie bleich und erregt war.

»Also nun los – ist etwas vorgefallen?«

»Ich bin so erschrocken – ganz plötzlich – über mich selbst – und auch über Sie – aber mehr über mich, und ich wußte mir mit einemmal nicht mehr zu helfen. – Herr Valär, sagen Sie, gehen Sie mir aus dem Weg?«

In größter Bestürzung, helle Angst im Gesicht, fast gehetzt, hatte Nele gesprochen.

Er ließ sich in seinem Stuhl sehr langsam nach hinten gleiten. Sein Herz wurde schwer, und er blickte forschend zu ihr hinüber.

»Eine Gegenfrage zuerst: Kommst du ganz aus eigenem 390 Antrieb zu mir – oder ist dein Entschluß unter fremdem Einfluß erfolgt – vielleicht sogar gegen diesen?«

»Sie meinen, ob ich mit jemand über meine Sorgen gesprochen habe?«

»Ja, ungefähr dieses. Möglich wäre es ja. Außerdem wäre es gar nicht nett von mir, ich meine dir gegenüber, wenn ich mich nicht ebenfalls ein wenig wichtig nähme, nachdem ich sehe, daß du es tust. – Begreifst du?«

»Nein!« sagte sie und schüttelte heftig den Kopf. »Da bin ich wirklich nicht mitgekommen.« – Ganz verwirrt sah sie ihn an.

»Ich wollte nur sagen«, erläuterte Valär, »daß uns beiden sehr wenig geholfen wäre, wenn ich dich in Ungewißheit darüber ließe, wieviel mir an einer genauen Antwort auf meine Frage gelegen ist.'

»Ach so! . . . Ja natürlich! Wenn es das ist – – Nein, ich bin ganz aus eigenem Antrieb gekommen. Niemand weiß, daß ich hier bin, und weshalb ich hier bin. Wie sollte ich auch mit jemand darüber gesprochen haben! Herr Valär, ich bin ja so allein! Menschen genug, aber – –«

Ihre Schultern sanken herunter. Die Sprache versagte ihr.

Valär wollte Nele nicht so aufgelöst im Wirbel ihrer Gefühle dahintreiben sehen. Begütigend sagte er:

»Allein? – Na, schön! Mir kam es nicht ganz so vor. Und dir wohl ebenfalls nicht . . . Wir haben zwar nicht viel voneinander gehabt, in diesem Sommer. Aber froh warst du immer, sooft ich dich gesehen habe, und das hat mich für dich gefreut. Manchmal hat es mich auch ein wenig gewurmt, wenn ich dich so gesehen habe, bis an den Rand erfüllt, – erfüllt von dir oder von andern und von allen möglichen Begebenheiten, die sich mir entzogen. Aber ich hätte dir ja nichts von allem bieten können, was dir Vergnügen schuf, und du hast mich auch gar nicht vermißt. Du hast nicht einmal den Versuch gemacht, mir etwas Derartiges vorzuspiegeln.«

»Ja, das stimmt, Herr Valär!« gab Nele eifrig zu. »Immer war etwas da, was mich in Anspruch nahm, und immer waren auch Menschen da, aus denen ich mir etwas machen konnte. Alle waren sehr aufmerksam und sehr freundlich zu mir, und oft haben wir 391 es sehr lustig gehabt . . . Dann bin ich im Spätherbst erkrankt, an einer Angina, nicht sehr schlimm, immerhin eine Angina. Zeitweise habe ich sehr hohes Fieber gehabt. Damit ich meine Pflege hätte und es keine Komplikationen gäbe, hat mich Frau Dr. Streiff ins Sanatorium aufgenommen, und dort bin ich bis zu meiner Genesung geblieben.«

Nele schien zu erwarten, daß er etwas sage, aber er schwieg.

»Während dieser Genesungszeit ist mir klar geworden, daß das ganze sommerliche Gewoge nur Selbstbetäubung gewesen ist.«

Jetzt schwieg auch Nele.

Valär hörte, daß der Regen heftig gegen die drei Fenster der Westseite schlug. Er stand auf und ließ die Läden herunter. Dann ging er an seinen Platz zurück. Sein Gesichtsausdruck war gespannt. Leise sagte er:

»Gewoge ist schön: grüne Roggenhalme im Wind – ein ganzer Acker. Die Aehren sind eben geschlüpft, bald werden sie blühen . . . Aber warum sagst du ›Betäubung‹? Was hast du denn zu betäuben gehabt?«

»Betäubung ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es war eher ein Kampf«, entgegnete Nele. Sie stockte, suchte anscheinend nach dem richtigen Wort, und wie unter einer großen Anstrengung zog sich ihr Körper immer enger zusammen. Schließlich hob sie den Kopf, blickte ihm unverwandt ins Gesicht, und während ihre Züge sich schmerzlich lösten, fuhr sie fort:

»Ich habe um meine Freiheit gekämpft – um das Loskommen von Ihnen.«

Er nickte, und sein Kopf sank langsam vornüber.

Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie:

»Herr Valär, Sie dürfen mir glauben: ich habe nicht gewußt, daß es mir darum ging – so mit klaren Gedanken, wie ich es jetzt sage. Ich war ja so stolz, in Ihren Gedanken eine Rolle zu spielen! Wie heftig hatte ich mir das einmal gewünscht! Und nun war es wirklich gekommen! Das hat mich sehr glücklich gemacht. Aber etwas in mir hat doch auch gefühlt, daß es mit meiner Freiheit dahin war, und hat gehofft, ich fände sie wieder. Es sollte nicht weitergehen auf der Linie von damals im Wald – – Sie wissen ja, 392 was ich meine. Das ist mir während der Krankenzeit klar geworden. Aber es ist mir auch klar geworden, daß jener Kampf vergeblich gewesen war. Da bin ich gewaltig erschrocken, und jetzt erst ist mir aufgefallen, daß von lebendigen Beziehungen zwischen uns seit einiger Zeit ja überhaupt nicht mehr die Rede war. Guter Gott, sagte ich mir, wenn er sich nun von dir losgesagt hat, dann bist du ja selber schuld daran, und dann hast du verspielt – und weiter bin ich bis heut nicht gekommen. Das drückt mich ganz nieder.«

Valär hatte sehr aufmerksam zugehört. Ein Zittern war wiederholt über sein Gesicht hingegangen, sonst hatte sich nichts an ihm gerührt. Auch als Nele geendet hatte, ließ die Aufmerksamkeit, die ihn spannte, nicht nach. Er wußte, daß er jetzt praktisch denken und auch etwas Praktisches sagen müsse. Alles andere konnte nichts taugen.

»Ich will dir jetzt auch gleich sagen, wie's weitergeht«, hörte er sich mit großer Entschlossenheit sagen und sah, wie Nele den Atem anhielt. Aber er hörte auch, daß er sehr leise sprach, wie jemand, der träumt, und daß seinen Worten nichts weiter folgte. Dann legte er beide Arme in einem Bogen vor sich auf den Tisch, senkte den Kopf, und es war Nele, als ob er in einer Versenkung verschwände.

Mit einemmal war er wieder da, blickte Nele an und sagte mit großer Wärme:

»Wir wollen niemals von Liebe sprechen – niemals, hörst du! Liebe ist nicht reden. Liebe ist tun. Weil sie das ist, wollen wir auch in Zukunft zusammenhalten. Wir tun, was wir für das Richtige halten, und wollen tragen, was uns beschieden ist. Ich will versuchen, daß ich es kann – und du sollst es auch versuchen. Wenn wir dann sehen, daß sich das Zusammenhalten bewährt, dann will ich dich fragen, ob du mich heiraten willst. – Abgemacht?« fragte er, sich erhebend.

Neles Gesicht war plötzlich wieder sehr bleich geworden, und einen unfaßbar kurzen Augenblick lang schien sie völlig abwesend zu sein. Dann goß sich eine flammende Röte über sie aus, ein sonderbar verwegener Glanz kam in ihre Augen, und während sie 393 aufstand von ihrem Stuhl, streckte sie ihm über den Tisch weg ihre Hand entgegen.

»Abgemacht!« sagte sie, und ihr Atem flog, während sie seine Hand noch einmal drückte.

In dieser Nacht ging Nele, mit dem Kopf hoch im Nacken, durch das Straßengedränge zur Bahn. Der Regen bildete einen Schleier vor ihrem Gesicht, sie schritt rüstig aus, und manchmal tauschte sie einen kurzen Blick mit der tiefen stillen Verwunderung, die sie über sich selber empfand. Nicht einmal, wie sie fortgekommen war, wußte sie mehr. Hatte sie beim Abschied wenigstens den Arm um seine Schulter geschlungen? Wahrscheinlich hatte sie's nicht getan. Aber er hatte ja auch nicht ausgesehen, als verlange ihn in dieser Stunde nach Zärtlichkeiten. Viel eher hatte es ihr geschienen, als hätte ihn dieser Sommer genau so mitgenommen wie sie. Aber nun würde vieles, vieles ja anders!

 


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