Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Vormittag, gegen halb elf, wie es verabredet war kam Frau Streiff zu Valär.
Die rosafarbige Nebelwand, hinter der als das Wertbeständige und Bleibende seines Lebens die Jugendzeit lag, stand an diesem Morgen Valär in besonderem Glanz vor den Augen. Aber aus dem schwebenden schönen Gebilde trat, als die Türe aufging, nicht das Mädchen hervor, das er auf so schmerzliche Weise verloren hatte. Was vor ihm stand, war eine elegant gekleidete fremde Frau und unter ihrem apfelgrünen Hütchen hervor quoll Haar, das so rot war wie ein neues kupfernes Rappenstück. Ach ja, Streiff gibt es viele . . .
Und doch war es Rosa, geborene Saxer.
Stumm, wie einer Erscheinung, von der er zunächst nur die leicht schwankenden Umrisse sah, ging Valär ihr langsam entgegen, während sie näher kam, den Kopf gesenkt, weil Simba, der Drahthaardackel, der schon draußen Lärm gemacht hatte, ihre Füße witterungnehmend umstrich. Sie schien sich nicht schlüssig werden zu können, wie dieses Benehmen gemeint war, versuchte dem kleinen Hund auszuweichen, und es wollte ihr doch nicht gelingen.
Als sie sich gegenüberstanden, blickten sie sich eine Weile stumm an, wie Menschen, die für einander zur Sage geworden sind und sich in der Abgeschiedenheit wieder begegnen. Aber kaum, daß für Valär der Umriß der Erscheinung sich ganz ausgefüllt hatte, war er sich auch schon bewußt, daß der Bann, in dem er sechzehn Jahre lang dahingelebt hatte, unwiderruflich 102 gebrochen war. Das sanfte allmächtige Wesen, das alle andern Frauen in undurchdringlicher Distanz von ihm hielt, wie nahe sie ihm auch kamen, hatte sich in Rauch und Dunst aufgelöst. Es galt nur noch, artig zu dieser Frau da zu sein, und sich durch nichts verblüffen zu lassen. Gleichzeitig fühlte er sich so wohl und unbändig frisch, als wäre ihm die Haut geplatzt, und er könne sich wieder frei und ungehindert bewegen.
Obgleich dieser Zustand wegen seiner Einfachheit und seiner Klarheit für Valär etwas beinahe Unwahrscheinliches hatte, fand er sich in ihm doch sofort zurecht. Mit einer erheiterten Bewegung streckte er ihr seine Hand entgegen, und während sie diese mit einem sonderbar verschlafenen Ausdruck ergriff, sagte er:
»Willkommen, Rosa!«
»Grüß Gott, Andrea!«
»Es ist also wahr?«
»Was wahr?« fragte sie und starrte ihn an.
»Na ja – daß wir jetzt wieder Nachbarn werden?«
»Doch, das ist wahr. Ich habe da drüben gekauft. Wir werden jetzt wieder Nachbarn sein – Nachbarn – wie einst.«
»Ja. Beinahe wie damals! Ist das nicht seltsam?«
»Doch – sehr!« – Ein schwaches Lächeln erschien um ihren Mund, und sie fügte, wie tastend hinzu: »Nicht einmal die Entfernung vom einen zum andern wird nennenswert größer sein. Ich meine als früher.«
»Findest du?«
Wie besorgt er fragte!
Sie lächelte abermals, nun schon freier.
»Nach der Uhr, meine ich«, sagte sie und blickte auf das winzige Zifferblatt an ihrem linken Handgelenk. »Es sind fünfundzwanzig Minuten, wenn man sich unterwegs nicht versäumt. Vermutlich gibt es auch noch nähere Wege. Es kam mir so vor.«
»Soll das heißen, daß du von drüben kommst, jetzt?«
»Ja. Ueber Dreitannen.«
Sie schickte sich an, auch den zweiten Handschuh aufzuknöpfen und abzuziehen.
»Alle Achtung! Da mußt du ja tüchtig ausgeholt haben!« 103
»Darf ich annehmen, daß dich das freut?«
»Warum nicht? . . . Keins von uns beiden hat es ja wohl für möglich gehalten, daß wir uns jemals wieder begegnen würden, und gar noch auf diese Weise.« – Er trat einen Schritt näher. »Ist es nicht so?« sagte er ernst.
»Doch, Andrea, das stimmt. Es freut mich, daß du es so ohne Umschweife sagst«, erwiderte sie, während ihre Stimme leicht zu schwanken begann. »Nie hätte ich gedacht, ich könne jemals so vor dir stehen, in deinem eigenen Haus, so, wie es jetzt ist. Aber nachdem es geschehen ist, hoffe ich nur, du wirst es so halten wie ich und dich darein fügen.«
»Hoffst du! – Soso!« – Er lachte halblaut und musterte sie. »Schön von dir, daß du so hoffnungsvoll bist! – Aber jetzt leg zunächst deinen Mantel ab – man sieht ja, wie heiß dir ist – komm, darf ich dir helfen?«
»Gern, wenn du erlaubst! Es ist mir wirklich recht warm geworden.
Es war ein langer Mantel aus beinahe silbernem Feh, federleicht, ein kostbares Stück, schmiegsam wie Wasser, edel im Schimmer, für tastende Jägerfinger ein betörender Traum. Innen war er von ihrem Körper ganz dunstig und warm, wie ein Nachthemd am Morgen. Valär nahm ihn ihr ab, fand eine Stuhllehne und hing ihn dort hin. Dabei roch er ein scharfes süßes Parfüm, das er nicht kannte. Rosa kam ihm rasch nach, ihren Hut in der Hand, und legte diesen daneben.
Fast gleichzeitig richteten sie sich wieder auf.
Und nun stand sie, sich umblickend, neben ihm, eine gepflegte Frau, an Größe ihm beinahe gleich, in lichtgrünem Tweed, volle Glieder unter dem Kleid, und um die Brust herum beinahe stark geworden, so daß bei jeder Bewegung ein kurzes welliges Zittern unter dem Kleid über den Leib lief. Auch jetzt war dieses Zittern wieder zu sehen. Von dem sanften schmalen Gesicht der Mädchenjahre war gar nichts mehr da. Die Augen, der Mund, das Lächeln – alles war ohrwärts verlängert, als hinge ihr ein Stück östlichstes Asien an. Die Backenknochen traten kräftig hervor. Das Gesicht hatte Rasse. 104
Mit einem Mal hörte sie, daß Valär leise und sehr belustigt zu lachen begann.
Sie blickte schnell zu ihm hin und sah das Lachen von seinen Lippen verschwinden. Doch in den Augen glimmte es spottlustig weiter.
»Aber – zum Teufel – was hast du mit deinem Haar gemacht? fragte er, zwei Schritte hinter sich tretend und seine Belustigung nun nicht mehr verbergend, während ihm plötzlich etwas in der Gegend des Herzens sehr wehe tat. »Sag, Mädchen, soll ich dich auf die Hörner nehmen?«
Er sah sofort, daß sie ihn nicht begriff und daß sie sein Betragen und seine Worte verwirrten.
Sie tastete nach den Schläfen, der Stirn, dem Nacken, dem Hinterkopf, wie das Frauen so tun, wenn sie befangen werden, weil sie für andere einen Gegenstand der Belustigung bilden, ohne daß sie ahnen, weswegen. Plötzlich ließ sie die Arme sinken, zuckte die Achseln, und während sie ihn mit wach gewordenem Blick zu fixieren begann, sagte sie verstimmt:
»Bitte, willst du mir nicht sagen, was für dich so lustig ist? Ich möchte auch lachen.«
Da änderte sich der Ausdruck seines Gesichts und, mit einem Schimmer von Wehmut dabei, erwiderte er:
»Nein, lustig ist es wohl nicht. Ich meine nur, daß dein Haar früher etwas sehr Sanftes und sehr Zurückhaltendes war – etwas wie heller nobler Milchkaffee – und daß ich daran meine Freude hatte. Dieses prächtige Hurenhaar, das dir inzwischen gewachsen ist, hat ja ebenfalls seinen Reiz. Aber es erinnert mich nicht an dich, so, wie ich dich kannte.«
»Ach, das mußt du nicht so wichtig nehmen«, erwiderte sie mit ihrer dunklen Stimme, die sich, ebenso wie die grünlichen Augen, in unveränderter Schönheit erhalten hatte, und blickte ihn mit schmollender Gelassenheit an. »Es ist nur eine Solidaritätserklärung mit jener Welt, in der ich seit einer Weile zu Hause bin. Eine höhere Bedeutung steckt nicht dahinter. Ja, jetzt ist es rot. Aber es war auch schon anders. Ich hätte es wohl ganz gern gehabt, wenn du gesagt hättest, daß das Rot dir gefalle. Bei einiger Ueberlegung 105 hätte ich mir aber sagen müssen, daß es dich stören wird, und daß es in deinen Augen fast eine Schande ist, so herumzulaufen. Im Grund hast du ja recht! Barmädchen, Tänzerinnen und Huren – ich weiß! Aber ein wenig habe ich ebenfalls recht – mit der Zeit wirst du das schon noch begreifen.«
Ihre Rede war, während sie sprach, immer eigensinniger geworden, störrisch, schnippisch und ein wenig gequält; auch ihre Stirn hatte sich mit Falten bedeckt, aber dann waren die Falten wieder vergangen.
Das alles begann ihn zu fesseln.
Inzwischen ging sie durchs Zimmer, so, wie sie wohl durch ihre eigenen Räume ging, wenn sie etwas überlegte. Er schaute ihr zu, und es war, als ob sie erst jetzt wirklich ganz zu sich käme und träte nun erst bei ihm ein. Sie blickte nach den fast weißen Wänden mit den wenigen Bildern daran, blieb davor stehen, blinzelte, blickte zur Decke. Sie blickte nach dem großen, tief herabgezogenen Fenster, das beinahe die ganze Frontseite des Zimmers einnahm, bemerkte die gläserne Türe, die daneben auf den überdachten, sehr geräumigen Vorplatz führte, und im nächsten Augenblick sagte sie munter:
»Schön ist es bei dir, Andrea! An etwas Aehnliches kann ich mich gar nicht erinnern. Alles ist so leicht, so weiß und so sauber. See, Wiesen, Garten und Bäume marschieren dir ja ins Zimmer herein. Ja, wirklich, sehr schön. Du verstehst zu leben! Arm an Freuden bist du hier nicht, und bist es wohl auch nie gewesen!«
»Wollen wir uns ans Fenster setzen? Dort hast du alles noch näher.«
Sie nickte und folgte ihm, blieb aber gleich danach vor einem Bücherschaft stehen. Sein oberstes Brett war mit allerhand Gegenständen bedeckt, wie jeder sie sammelt, obgleich sie nichts mit Schönheit zu schaffen haben. Sie blickte der Reihe entlang, und im nächsten Augenblick sagte sie:
»Ei – was ist das?'
»Nichts Besonderes. Ein antikes Oellämpchen aus Trapezunt.«
»Ich meine doch da dieses Körbchen?«
»Das? Das ist ein Goldammernest.« 106
»Aber, bitte, das ist doch aus Haaren?«
»Ja. Aus dem Haar eines Hundes, den ich einmal besessen habe. Er wurde regelmäßig im Garten gebürstet. Die Vögel haben die Haare gesammelt und daraus ein Nest gebaut.«
»Ja! . . . Und jetzt darf es bei dir im Zimmer stehen und ist dir werter als alles Gold dieser Welt.« – Sie wendete sich nach ihm um: »Andrea, mit einemmal kenn ich dich wieder! . . . Und noch immer willst du nicht, daß man so von dir spricht.«
Dann nahmen sie, sich gegenüber, an dem kleinen runden Fenstertisch Platz. Als Rosa auf dem Tisch eine dunkle hölzerne Dose sah, klappte sie diese auf, und als sie darin Zigaretten fand, streckte sie sofort gierig die Hand danach aus, bremste ihre Bewegung jedoch ebenso plötzlich ab und fragte:
»Du – darf ich?«
»Soll ich etwa nicht gesehen haben, wie's bei dir brennt?«
»Nein, das darfst du nicht glauben«, gab sie zurück. »Ich rauche nicht viel. Aber manchmal habe ich richtigen Hunger danach. Dann ist mir die Marke fast gleich. – – Hast du auch Feuer?«
Er hielt ihr ein Streichholz hin. »Nimmst du einen Aperitif?« fragte er und war bereits wieder aufgestanden.
»Das wäre nicht ohne! – Was hast du denn Gutes?«
Er öffnete eine Wandschranktür, kniete davor hin, rückte an Flaschen herum, zählte auf.
»Nein, danke! Man sieht, daß du nicht auf Frauenbesuche eingestellt bist. Dann lieber nur den Saft einer Orange und einen kleinen Schuß Wermut dazu, wenn ich bitten darf.«
Er läutete Seline, damit sie das Getränk richte. Er selbst nahm einen Campari. Dazu stopfte er sich seine Pfeife.
»Ich kann's gar nicht fassen, daß wir so beieinander sitzen«, nahm Rosa das Gespräch wieder auf, »– so friedlich – so ohne jeden Krakeel.«
»Ja, hast du dir eingebildet, daß ich den Hund auf dich hetzen werde, wenn ich sehe, daß du es bist?«
»Das nicht! Aber es läßt sich doch nicht verhehlen, daß wir in einem Umkreis von Erinnerungen leben, die für uns beide nicht 107 angenehm sind. – Schändlich habe ich mich gegen dich aufgeführt – schändlich, Andrea!«
»Das sagst du jetzt. Aus der Entfernung der Jahre magst du so empfinden. Damals kam es dir nicht so vor.«
»Aber dir! Das sollte mir vollauf genügen.«
»Schändlich?« – wiederholte er. »Nein, das will ich nicht sagen. Ich habe es nur als einen unersetzlich großen Verlust für mich empfunden, daß ich dich verlor.«
Sie versuchte sich noch geringer zu machen, als sie es soeben getan. Sie sagte:
»Du hättest keine große Eroberung an mir gemacht. Ich erinnere mich noch gut, wie leicht ich von aller Welt übersehen wurde. Wäre ich nicht die Tochter meines Vaters gewesen, so hätte man mich überhaupt nicht bemerkt.«
»Mir kam es nicht so vor«, sagte er, einen langen Rauchstrahl ins Zimmer blasend. »Aber ich habe mich damals noch nicht so weit auf die Liebe verstanden, wie es bei einem Manne der Fall sein soll, der ans Heiraten denkt. Ich habe weder meine Kräfte gekannt noch meine Möglichkeiten«, setzte er bitter hinzu. »Das hast du gefühlt. Deswegen bist du mir ja auch so ruhmlos entglitten und ohne Besinnen dem stärkeren Magneten gefolgt.«
»Meinst du meinen Vater?«
»Ja! Deinen Vater.«
Sie runzelte die Stirn:
»Es war Vaters Wille so. Ich mußte mich fügen.«
»Stimmt! Du mußtest. Das ist ja das, was ich soeben behauptet habe«, gab Valär zurück. »Aber ich mußte nicht – verstehst du mich! Mir hatte er nichts zu gebieten. Ich war ihm nicht hörig. Meine Schuld war zurückbezahlt.«
»Aber was hättest du denn gegen ihn ausrichten wollen?« rief sie ungläubig aus.
»Alles!«
Die Ueberzeugung, mit der er sprach, reizte sie.
»Niemals!« entgegnete sie. »Niemals, Andrea! Noch niemand ist gegen ihn aufgekommen.« 108
Er atmete einmal ein, einmal aus, seine Halsader schwoll, und dann sagte er schonungslos:
»Ich hätte dich einfach verführen sollen. Soviel hatte ich von deinen Beinen ja immerhin schon gesehen, daß sie erstklassig waren. Und Grießbrei hattest du ja ebenfalls nicht in den Adern. Du warst leicht zu entflammen . . . Du lieber Gott, wenn das kostbare Fräulein Tochter dann schwanger war und nicht besser daran als ein Ladenmädchen, mit dem Gott und die Welt kein Erbarmen haben, wenn es für etwas bezahlt, was ihm vielleicht nicht einmal besondern Spaß gemacht hat, – was hätte dein Vater in all seiner Majestät dann noch für Trümpfe gehabt?«
Rosa versuchte ein Achselzucken:
»Glaubst du, das hätte dich glücklich gemacht?«
»Nein! Aber ich hätte mich aufgenommen gefühlt in die letzten Freuden und letzten Leiden, die das Leben verschenkt. Und ebenso dich. Das hätte die Tat wohl gelohnt.«
Auf diesen würgenden Untergriff ließ sich Rosa nicht ein. Seine Worte waren ihr zwar in die Knochen gefahren. Er merkte es gut. Aber sie hatte nicht Lust, sich diese zerbrechen zu lassen und damit auch das Dogma ihrer Unverführbarkeit zu gefährden. Darin, daß dieses Dogma ihr teuer war, war sie trotz ihrer roten Haare ganz eine Frau. Mit sanft ausweichendem Widerstand entgegnete sie daher, genau wie schon als Mädchen in ähnlichen Lagen:
»Ich war überzeugt, daß mein Vater mich dir auch so bewilligen würde.«
»Er – er – immer nur er! Du hättest dich bewilligen sollen, nicht er! Aber du hattest plötzlich wohl Angst, daß ich euren kostbaren Stammbaum wirklich versauen könnte – und ich selbst war noch nicht erfahren genug, um mit Euresgleichen auch in einer solchen Lage noch fertig zu werden – jawohl: mit dir – und mit ihm – und mit all dem Plunder von Familienstolz, Reichtum und Vornehmheit, hinter dem ihr euch verschanzt und vermauert habt! – alles in dem Wahn, ihr hättet ein erworbenes Recht, mir so zu begegnen, bloß weil ihr in dem Dorf dort die Herren wart.« 109
Ueber Rosas Blick fiel ein Schleier.
»Andrea – du sagst das doch nicht, weil du neugierig bist, was ich darauf antworten werde?«
»Mir scheint nicht, daß es darauf etwas zu antworten gibt.« – Er war nun ruhiger. Gesagt war gesagt.
»Doch!« rief sie lebhaft, »manches sogar!«
»Bedaure!« versetzte er achselzuckend. »Von meinem Standort aus gibt es nichts.«
Sie starrte unschlüssig in ihren Schoß und ließ ihre linke Hand hin und her über die Tischkante gleiten. Dann hob sie wieder die Augen, schaute ihm ins Gesicht, und mit halber Stimme entgegnete sie:
»Andrea, ich habe einen Satz vorhin nicht ganz fertig gemacht. Ich sagte, schändlich hätte ich gehandelt an dir. Aber die Wahrheit ist, daß ich damals auch an mir selber gefrevelt habe, als ich nicht durch dick und dünn zu dir hielt.«
Er blickte sie langsam an, mißtrauisch, wägend, schien in ihrem Gesicht einen neuen Zug zu gewahren, und erwiderte, indem er seine Gedanken in eine andere Richtung einbiegen ließ:
»Dann hast du es seither – nicht immer gut gehabt, Rosa!«
»Weiß Gott, daß ich es nicht gut gehabt habe! Wenn du in alles hineinsehen könntest, würdest du vielleicht sagen: Sie nahm einen andern – und seitdem war es mit ihrer Herrlichkeit aus . . . Aber ganz so ist es nun wieder nicht gewesen«, ergänzte sie sich mit einem plötzlichen Ruck. »Denn ich bin dabei aufgewacht und bin hart geworden darüber.«
»Das sieht man, wenn die erste Befremdung verflogen ist«, bestätigte er und begann ihre Züge und ihre Gestalt von neuem in unauffälliger Art zu studieren. »Leer ist das Leben nicht an dir heruntergelaufen.«
»Nicht wahr? Und wenn ich nun ebenfalls meinen Willen und meine Tatkraft gefunden hätte – was sollte mich davon abhalten können, sie auch zu gebrauchen?«
Ihr Gesicht war bei diesen Worten ganz schmal und steinern geworden, und Valär entdeckte in den festen und unnachgiebigen Zügen, denen er sich gegenübersah, plötzlich und sehr überrascht, das zähe, trockene und gewalttätige Gesicht ihres Vaters. Es war 110 derselbe Fanatismus darin, nur daß bei Rosa die Gewalttätigkeit nichts Triumphierendes hatte wie bei ihm, und daß ihr Ausdruck daher nicht ohne Charme war. Ihre schon immer schön gewesene Stirn schien noch breiter geworden zu sein, und die Schüchternheit war aus den Augen verschwunden. Das alles waren keine Veränderungen, die nur das Aelterwerden verschuldet hatte, sondern es war eine Eruption in ihrem Wesen erfolgt – eine unterirdische Umwälzung, welche die Gegend bestehen läßt, aber ihren Charakter verändert.
Eine Weile blickte Rosa zum Fenster hinaus, unbeweglich, abwesend, ihre Erregung nur schwer unterdrückend. Dann zuckte es spöttisch um ihren Mund, sie ließ sich sehr langsam rückwärts gegen die Lehne des Sessels gleiten und schloß die Augen. Grimmige Falten spielten auf ihrer Stirn.
Später, als ihre Blicke sich wieder trafen, sagte Valär:
»Von allen Umständen, die zu deinem äußeren Schicksal gehören, weiß ich so gut wie nichts. Aber es hat mich gewundert, daß du die Frau eines Arztes bist. Ich hatte gehört, dein Mann stehe im diplomatischen Dienst.«
»Hast du gehört – soso! Und nun sitze ich da, mit einem Sanatorium in der Hand, und denke daran, Geschäfte zu machen. Natürlich ist da etwas verkehrt«, sagte sie, den Hals zurückwerfend und mit flachem Gesicht nach der Decke blickend. »Trotzdem ist das ganz richtig, was du damals gehört hast. Als ich Frau Streiff wurde, war mein Mann Legationsrat, in Tokio, Witwer sogar, mit einem fünfjährigen Knaben.«
»Also ein bestandener Mann!«
Sie zuckte die Achseln:
»Ich habe mir Streiff nicht ausgesucht«, sagte sie leise. »Vater hat ihn mir mit vielen Empfehlungen präsentiert. Da ich damals bereit war, jeden zu nehmen, der mich weit, weit von hier entführte, und Streiff meines Vaters restlosen Beifall fand, so wurde ich seine Frau.«
»Erste Station«, bemerkte Valär und streichelte Simba, der sich inzwischen an ihn herangemacht hatte, zärtlich den Kopf. »Und die zweite?« 111
Rosa holte abermals eine Zigarette aus der Dose hervor.
»Streiff überraschte mich eines Tages mit der Mitteilung, daß er eigentlich habe Arzt werden wollen. Am liebsten hinge er den ganzen Bettel noch jetzt an den Nagel. Das war mir neu. Nie hatte er früher davon gesprochen. Ich weiß heute auch, daß es eine Lüge war. Aber ich hörte es gern. Denn in meines Vaters Augen mußte ein solcher Berufswechsel in gesellschaftlicher Hinsicht ein ganz gewaltiger Abstieg sein. Da ich schon lange nach einer Gelegenheit Ausschau hielt, um mich an meinem Vater zu rächen, bestimmte ich Streiff, seinen Abschied zu nehmen. – So studierte er denn Medizin. Und ich wurde Studentenfrau.«
»Das muß für dich ja viel Reiz gehabt haben«.
Sie schlug ein Knie übers andere und begann eifrig an einem breiten Kettenarmband herumzuspielen, das lose um ihr linkes Handgelenk hing.
»Allerdings! Diese Jahre sind für mich sehr reizvoll gewesen. Denn ich habe die Gelegenheit wahrgenommen und habe gleichfalls studiert.«
»Guter Gott! Da bist du jetzt Aerztin?«
»Nein«, lachte sie. »Ich bin den unpoetischsten Weg der Menschheit gegangen und habe Handelswissenschaften studiert. Auch dabei kommt man ja mit gesunden und kranken Menschen auf recht intime Weise zusammen.« – Abermals lachte sie.
»Vor allem kommt man mit Geld zusammen«, sagte Valär. »Geld hast du ja immer recht gern gehabt.«
»Gewiß! Wir sind immer gute Freunde gewesen. Leider habe ich es früher nie zu verwenden gewußt. Aber jetzt machen wir hier ein Goldbergwerk auf. Und mit den Goldklumpen, die wir graben werden, bezahlen wir Schulden – Schulden aller an alle.«
Sie schwieg. Valär staunte. Rosa war ihm plötzlich ein Rätsel. In grübelndem Ton sagte er nach einer Weile:
»Du mußt in deinem Bericht eine Station übersprungen haben. Denk einmal nach!«
»Uebersprungen? – Wieso?«
»Weil du mit einemmal von Rache an deinem Vater sprichst. Das ist mir ganz unverständlich.« 112
»Du meinst, weil er mir das Teuerste war?«
Valär nickte.
Zuerst erschien ein Zug unermeßlichen Leides auf Rosas Gesicht. Gleich danach wurde ihr Blick eisig kalt, so daß Valär beinahe fror, und während ihre Stimme zu beben begann wie ein Meer, in dem die Sturmfluten wühlen, entgegnete sie:
»Mein Vater hatte es gut. Er hat es verstanden, sich auf dieser Erde so einzurichten, daß er sich nie hat verantwortlich fühlen müssen für sein Lassen und Tun, im persönlichen Sinn, so wie andere Menschen. Immer war es in seinen Verteidigungsreden Gottes Befehl, dem er folgte. Jeder Einwand, jeder Ordnungsruf, jede Bitte und jede Träne prallte erbarmungslos ab an dieser Mauer. Man kann ihn deswegen auch für nichts, was er unternimmt, zur Rechenschaft ziehen: so wenig, wie man eine blutsaugende Mücke dafür zur Rechenschaft ziehen kann, daß sie sticht. Aber man kann die Mücke zerquetschen . . . Jedenfalls will ich meine Revanche haben dafür, daß er sich in mein vertrauensseliges junges Leben eingewühlt hat bis zu den Herzkammern hin, und daß er nicht ruhte, bis er es ausgesaugt hatte. Denn, lieber Andrea, es ist ein Irrtum von dir, daß mein Vater auf dich heruntergeschaut habe, weil du aus kleinen Verhältnissen stammst. Alles, was du in dieser Hinsicht von ihm zu hören bekamst, war nur als Schreckmittel für dich gemeint. Du warst ihm schon recht, mehr, als du ahnst. Aber mich, mich hat er treffen wollen! Er wollte sehen, wie weit er mich beherrschen könne. Und als er es wußte, hat er mich weggeworfen. Das ist die Wahrheit. Und dafür soll er bezahlen.«
Jedes dieser unerbittlichen Worte gleichsam mit den Augen verfolgend und die Spuren aufsuchend, mit denen es in Rosas Gesicht kam und wieder ging, hatte Valär sich weit über den Tisch gebeugt und mit aufgestützten Armen ihrer Beichte gelauscht. Dann war er aufgestanden und war eine Weile schweigend umhergegangen. Schließlich blieb er vor ihr stehen, und, mit seiner Frage im Halbdunkel ihrer Geständnisse sich behutsam vorwärtstastend, entgegnete er:
»Sag mir jetzt, Rosa, falls du es vermagst: Gehören diese Gesten 113 von Großmütigkeit oder wie man es nennen will, mit denen du den Ankauf dieses Hauses da drüben verbunden hast – ich denke jetzt an die Rückzahlung verfallener Hypotheken, der Apotheker Dormond hat mir gestern nacht glückstrahlend davon erzählt, – gehört dieses alles am Ende auch mit zur Taktik deines Revanchekrieges?«
»Siehst du, wie du mich allmählich verstehen lernst? – Ich hätte gut ein Dutzend Sanatorien haben können! Aber zufällig hörte ich, daß mein Vater dieses hier kaufen wolle. Es solle in ein Erholungsheim für seine Angestellten verwandelt werden, sagte man mir. Außerdem hörte ich aber auch, daß er mit dem Ankauf noch warten wolle, weil er damit rechne, daß er es mit der Zeit noch ein wenig unter dem Betrag bekommen werde, den die Bank dafür angelegt hatte. Da zögerte ich keinen Augenblick und griff zu, um ihn fühlen zu lassen, daß in meiner Hand Geld nicht leben, sondern sterben und mit seinem Sterben andere beglücken will. Es wird für ihn ein kleiner Vorgeschmack sein von dem, was ich mit all seinen Reichtümern anfangen werde, falls ich so lange lebe, daß ich ihn beerbe. Denn mein Bruder, der Erbprinz, ist ja in den Bergen zu Tode gestürzt, und andere Nachkommen sind keine da, auch keine Enkel.«
»Dann bist du selbst kinderlos?«
»Ja!«
»Rosa – du bist eine Teufelin!« sagte Valär und starrte sie an.
»O nein! Ich hänge an Vater«, sagte sie bebend. »Wir sind zusammengeschmiedet wie Leben und Tod – dagegen gibt es nun nichts – das ist Schicksal, oder wie man es nennt. Aber er soll es genau so haben bei mir, wie ich es bei ihm gehabt habe, als ich noch ein Mädchen war und ihm blindlings vertraute. Wenn ich dabei zu den Waffen greife, für die er am verwundbarsten ist, so ist das nur natürlich. Glücklicherweise kenne ich sie.«
Valär ging zum Fenster.
»Also so wurden wir wieder Nachbarn!« entfuhr es ihm.
»Ja – auf diese Weise! Mein Vater hat uns getrennt, und ich weiß heute gut, daß es für mich keine Rechtfertigung dafür gibt, daß ich ihm gefolgt bin. Aber seine Tat hat fortgewirkt, und nun führt sie uns wieder zusammen.« 114
Abermals mußte Valär seine heimlich Verlobte von einst mit größter Neugier betrachten, erstaunt, wie ein Mensch sich verändern und was alles dabei herauskommen kann. Hatte Rosa an Antlitz gewonnen, hatte sie an Antlitz verloren? – Er wußte es nicht.
»Und dein Mann?« fragte er. »Steht er bei diesem Revanchekrieg an deiner Seite?«
Rosas Gesicht wurde undurchdringlich.
»Du wirst den Doktor Streiff kennen lernen. Du wirst dann schnell merken, wie ich mit ihm daran bin.« – Plötzlich hellte sich ihr Gesicht wieder auf, und sie sagte: »So, und jetzt die Umbaufrage. Deswegen bin ich ja hergekommen.«
Rosa entwickelte ihren Plan und erklärte zum Schluß:
»Und nun gehe ich schnell noch zum Schwedenhäuschen. – Kommst du mit?«
»Soll das ebenfalls umgebaut werden?« fragte Valär.
»Nein, das nicht. Aber es wohnt, seit ich es habe, eine Bekannte dort, und ich möchte sie noch besuchen. – Erinnerst du dich an Frau Ellegast?«
»O Gott!« entfuhr es Valär.
Ja, man müsse wohl seufzen, erwiderte Rosa, die Frau sei kein Schleck, obgleich sie natürlich auch ihre guten Tage und Wochen habe und dann gar nicht so übel sei. Aber gerade jetzt sei sie ganz aus der Fasson – die Morphiumspritze, ja leider. Sie habe ihr vorläufig das Schwedenhäuschen zur Verfügung gestellt, damit sie dort eine Weile in der Zurückgezogenheit lebe und sich erhole.
»Auch das noch!« dachte Valär. Aber er erwiderte nichts. Er entsann sich nur, daß er gestern ein junges Mädchen, von dessen Erscheinung er wunderlich berührt war, in dem Schwedenhäuschen hatte verschwinden sehen, und er begann zu kombinieren. Aber er verwarf seine Kombination, und war froh, als er eine Ausrede fand, die ihm das Mitkommenmüssen ersparte. 115