Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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II.

Andrea Valär, der so offenherzig mit seinem Tischgenossen gesprochen hatte, war ein angesehener Architekt, von dem sogar seine Gegner sagten, daß er hochbegabt sei, und daß die zeitgenössische Architektur ihm viele bahnbrechenden Neuerungen verdanke. Von Anfang an war er in der Schweiz mit an der Spitze jener Bewegung gestanden, deren Ziel es war, die Baukunst von der leeren Nachahmung historischer Stilarten abzulösen, ihre verwilderte Formenwelt zu entrümpeln und sie wieder zu dem sauberen ehrlichen Handwerk zu machen, das sie in besseren Zeiten gewesen war. Dabei hielt er eine durchaus persönliche Marschrichtung ein, die ihn von seinen Mitstreitern sofort unterschied. Denn sein Bemühen ging darauf aus, die Existenz des Raumes zu verkünden mit der gleichen elementaren Gewalt, mit der die Winde sprechen von ihrer Bewegung, die Wellen von ihrem Fließen und die Gräser von ihrem Hunger nach Licht. Wie diese Gebilde, so war in seinen Augen der Raum ein lebendiges Attribut der göttlichen Herrlichkeit, und diese Herrlichkeit wünschte er den Menschen fühlbar zu machen in einer Form, die sie überzeugte.

Da seine Baukörper etwas Starkes, sehr Waches und dennoch Warmes hatten, das die Menschen so unmittelbar und kräftig ansprach wie ein wohlgebildeter menschlicher Leib, waren von Anfang an seine Bemühungen nie ganz vergeblich gewesen. Schon in mancher hart umstrittenen Konkurrenz, die durch die Gestalt ihrer Aufgabe anspruchsvoll und bedeutend gewesen war, hatte er den Sieger gestellt, sogar jenseits der Grenzen. Auch am laufenden Wettbewerb war er beteiligt.

Trotz seines Schlachtenglücks befiel ihn jedoch, kaum daß sich der Rechtsanwalt davongemacht hatte, angesichts der bevorstehenden Entscheidung auch dieses Mal wieder eine tiefe 18 Ungenügsamkeit an sich selbst, und sie legte sich ihm wie ein Druck auf die Rippen. Er wußte zwar, daß er auch bei der schwebenden Konkurrenz sein im Augenblick Bestes gegeben hatte. Allein es war sein Verhängnis, daß es Stunden für ihn gab, in denen er meinte, noch außerdem eine Bestätigung seiner Leistung durch andere Menschen nötig zu haben. Daß unter denen, die über sein Werk das Urteil zu sprechen hatten, nun aber fast stets (und auch diesmal wieder), von irgendeiner Spitzenbehörde als Richter bestellt, sich Männer befanden, die ihm bis zur Verachtung gleichgültig waren, weil er sie als bloße parteipolitische Streber kannte, das wurmte ihn tief und machte ihm die Erwartung zur Qual. Denn schon durch das bloße Ausgeliefertsein an sie schien ihm seine Leistung entwertet. Die Folge war jedesmal, daß in ihm das Bedürfnis entstand, aus seinem Wirkungskreis zu verschwinden, bis mit der Publikation des Urteils auch alles Hangen und Bangen vorüber war.

Auch an diesem Abend beschloß er, die Pläne für den folgenden Tag über den Haufen zu werfen und in die Ostschweiz zu fahren, zu seinem Patenbub Bruno, der dort seit einiger Zeit in einem als Musteranstalt gepriesenen Landerziehungsheim für Kinder vermöglicher Leute versorgt war. Er hatte dem Knaben, der nun schon beinahe ein Jüngling war, einen Besuch seit langem versprochen, aber sein Vorhaben bisher nicht ausgeführt.

 

Mit diesem Entschluß begab sich Valär sofort nach der Mahlzeit in sein nahegelegenes Junggesellenheim und ging, an der anschließenden Flucht der Büroräume vorbei, nach dem Zimmer seiner Sekretärin Luise, um auf ihrem Platz einen Zettel zu hinterlassen, mit der Mitteilung, daß er seine Dispositionen geändert habe und morgen nicht dasein werde. Aber als er die Türe zu dem Zimmer des Mädchens aufschließen wollte, zeigte es sich, daß Luise noch da war und modellierte.

»Nanu? Schaffst du noch?« fragte er überrascht. Er war kurz vor sechs Uhr von daheim weggegangen, aber sie hatte von Weiterarbeiten kein Wort gepiepst. Jetzt war neun Uhr schon vorüber.

Sie legte die graue Knetmasse weg. 19

»Ich bin heute mittag nichts wert gewesen. Jetzt hole ich nach«, sagte sie fröhlich. »Wollen Sie noch etwas diktieren?«

Luise war noch sehr jung. Als Student hatte Valär bei ihren Eltern, dem Caféhauskellner Hefti und seiner braven Berta, während mehrerer Semester gewohnt; damals war Luise geboren worden. Später, nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, als es schwierig gewesen war, schulentlassene junge Leute im Berufsleben unterzubringen, hatte er sie aus Gefälligkeit als Lehrmädchen zu sich genommen, und nach Beendigung der Lehrzeit hatte er sie für anderthalb Jahre ins Welschland auf eine Handelsschule geschickt. Jetzt besorgte sie ihm die Buchhaltung und die Korrespondenz, hatte die Lohnlisten und die Auszahlung unter sich, empfing die Besucher und beherrschte in ganz ausgezeichneter Weise die nicht leichte Kunst, nach den üblichen Plänen plastische Modelle der in Aussicht genommenen Baukörper herzustellen. Dank einer erstaunlichen Vorstellungskraft war sie darin eine Meisterin, und sie ging dieser Tätigkeit mit Leidenschaft nach.

Auch jetzt studierte sie die Proportionen eines Grundriß- und Längsschnittblattes. Der Modelliertisch stand neben ihr, und sie hatte schon mit der Anlage des Korpus begonnen.

»Ich will dir nur sagen, daß ich morgen nicht hier sein werde . . . Ja, Kind, es ist etwas dazwischengekommen: – mach nicht so einen Lätsch. Ich muß schon in aller Frühe verreisen. Ich werde auch nicht zu erreichen sein. Fällt etwas Besonderes vor, so verweist du die Leute an Hauri.«

»Gewiß, Herr Valär!«

»Das wäre alles«, schloß er.

»Und übermorgen werden Sie wieder zurück sein?«

Er bejahte.

Luise drehte sich um und wandte sich von neuem der Arbeit zu, an der sie gebastelt hatte. Es sollte das Landhaus der Frau Studer werden. Abseits vom Arbeitstisch stand ein Teegeschirr aus Valärs Küche, das Luise gehörte; auch ein Teller mit leeren Traubenkämmen, Kuchenkrumen und zusammengerolltem Stanniolpapier fehlte nicht. Luise hatte sich also mit dem Nachtmahl zu helfen gewußt. 20

Aber was war das? Das war doch – –

Valär, der hinter Luise stand, zog an dem Blatt, bis es unter den Papieren, die es fast verdeckten, in ganzer Größe zum Vorschein kam, und als er es in den Händen hielt, erkannte er, daß es eine Radierung war, eine Badende, ein Mädchen mit Wasser, Himmel und Licht. Er erkannte auch an der Handschrift sofort, von wem die Radierung stammte.

Valär trat zu Luise.

»Wie kommt das daher?«

Luise wandte sich um, erblickte das Blatt und wurde sehr ernst, während ihre Wangen sich mit einem tiefen Rot überzogen.

»Ihr Freund Ruckstuhl war hier. Ich wollte es Ihnen ein andermal sagen. Er war so traurig. Er kam gegen sieben und hat nach Ihnen gefragt.«

Marius Ruckstuhl war Maler.

»Und was hat er gewollt?«

»Die alte Geschichte. Er ist wieder am Saufen«, sagte Luise.

Valär setzte sich mit einer betrübten Bewegung auf einen Stuhl und ließ den Oberkörper vornüberhängen.

»Der arme Kerl!«

»Herr Valär, er hatte so verlorene Augen! Ich sah, wie er sich schämte. Und was er erzählte, war einfach erbarmenswert.«

»Was sagte er denn?«

»Er habe gestern in der Spanischen Weinstube zwei feine Herren kennengelernt, der eine davon ein Brasilianer. Später seien die Herren mit ihm in sein Atelier gegangen und hätten ein paar Radierungen von ihm gekauft. Nachher seien sie wieder losgezogen und hätten miteinander getrunken, bis keine Wirtschaft mehr offen war. Dann sei er heimgegangen. Unterwegs sei ihm aber der Heimweg wahrscheinlich zu weit geworden. Jedenfalls habe ihn bei Morgengrauen eine Polizeipatrouille in einer dicken Zementröhre, die an der Straße lag, fest schlafend gefunden und habe ihn mit auf die Wache genommen. Auf der Wache kannte man ihn, und man sei daher zu ihm sehr nett gewesen. Jedenfalls sei er vor einer Stunde dort auf einer Pritsche und unter allerlei Decken erwacht. Die Polizisten hätten gelacht und gesagt, das nächste Mal solle er 21 aber nicht wieder seinen Hut und seinen Stock und die Stiefel mitten aufs Trottoir stellen. Auf der Straße habe er dann leider gemerkt, daß all sein Geld fort war. Das Geld für die Radierungen und was er noch hatte, alles, alles war fort. Vielleicht habe er es ebenfalls auf die Straße geworfen. Vielleicht habe man es ihm gestohlen . . . Herr Valär, er hat mir so leid getan, und zuerst habe ich ihn ordentlich abgebürstet. Denn sein Mantel war hinten hoch voller Dreck aus der Röhre. Ich hätte ihn auch zu Ihnen geschickt. Aber ich wußte ja nicht, wo Sie waren.«

Valär blickte empor.

»Und dann hast du ihm das da abgekauft?«

»Er fragte, so mit Schlucken und Würgen, daß es ihm fast nicht aus dem Halse kam, ob wir in unserer Almosenkasse nicht zufällig fünf überflüssige Franken hätten für so ein Bildchen. Er möchte sich eine Brissago kaufen und etwas essen. – Ich habe ihm zehn Franken gegeben. Aber fünf davon sind von mir.«

»Lieb von dir!« sagte Valär. »Ein gutes Mädchen bist du. Du kannst dir im Lauf der Woche im Theater einen Parkettplatz bestellen – suchst dir aus, was du willst – auf meine Rechnung. Und morgen früh tust du hundert Franken in ein Kuvert und schickst sie ihm. Oder besser noch, ich geb sie dir gleich«, sagte er, seine Brieftasche ziehend, »und du steckst das Kuvert beim Weggehen in den Kasten. Dann hat er das Geld schon am Morgen. Begleitschreiben und Absender bleiben weg. Am Abend will ich dann nach ihm sehen. – Hast du verstanden?«

»Gewiß, Herr Valär. Und ich danke auch schön. Aber das mit dem Theaterplatz wäre nicht nötig gewesen.«

Valär antwortete nicht. Er griff in die Tasche und holte eine Zigarette hervor. Er steckte sie an, und so blieb er sitzen. Luise machte sich wieder am Modelliertisch zu schaffen.

»Ein herrliches Haus wird das geben«, sagte Luise nach einer Weile, als sie merkte, daß er ihren Bewegungen folgte. »Erst gestern hat die Frau angefragt, ob Sie nicht bald wieder kämen. Ich glaube, sie brennen darauf.«

Darüber ging er hinweg.

»Kommst du mit den Maßen zu Streich?« 22

»Ich habe alles auf ein Fünfzigstel umgerechnet. Es geht so sehr gut.«

Valär erwiderte nichts. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, daß es zuviel war, wenn er so dasaß wie jetzt, müßig, rauchend, immerzu nur das Mädchen begaffend – jedesmal, wenn er sich bei so etwas ertappte, meinte er, unerlaubt über die Schnur zu hauen. Im nächsten Augenblick stieß er die Zigarette ins Aschengefäß und sagte aufstehend:

»Ach, ich bin müde! Ich gehe jetzt schlafen. Und dir würde ich raten, ebenfalls Schluß zu machen. Du trappelst sonst noch um Mitternacht draußen im Gang herum.«

»Gut! Ich werde nur noch das Geschirr in die Küche tragen und waschen.«

Er nickte und klopfte ihr auf die Schulter.

»Dann gute Nacht!«

»Gute Nacht, Herr Valär!«

Er ging, die Sporen klirrten. Luise blickte ihm nach. Ums Leben gern sah sie ihn so, in Uniform und hohen Stiefeln, fest zusammengefügt, knapp, unverstellt, drahtig, entschlossen, ein Mann. Und abermals hatte sie das Gefühl, daß man ihn lieben, aber nichts von ihm wissen konnte.

 

III.

Um nicht an die Bedienung einer Maschine gebunden zu sein, ließ Valär am folgenden Morgen sein Auto in der Garage und nahm den Zug.

Auf dem Wege zum Bahnhof fiel ihm ein, daß er bei dieser Gelegenheit in dem kleinen ostschweizerischen Industrieort aussteigen könne, in dem er als Sohn eines zugewanderten Bündners geboren war. In seiner Jugend waren die Schnellzüge durchgefahren. Jetzt hielten sie in dem Ort, ohne daß er von dieser Vergünstigung bisher Gebrauch gemacht hatte. Denn seit ihm von dem Maschinenfabrikanten Saxer, dem Besitzer der dortigen Rufawerke, einer einäugigen Gottheit mit hartem bleichem Gesicht, 23 die Hand seiner Tochter Rosa verweigert worden war mit der Begründung, er, Valär, entstamme einem Geschlecht ohne Geschichte, ohne Verdienste, ohne angesehene und einflußreiche Verwandtschaft, ohne Besitz und ohne einen Namen, der etwas wog, war der Ort ihm verhaßt, und er hatte ihn nicht mehr betreten. Wie einen Wahnsinnigen, den man aufs tiefste bemitleiden mußte, hatte Saxer ihn angeschaut aus seinen fast schwarzen Augen, die weit auseinanderstanden wie bei einem Stier, fassungslos, daß er trotz aller gegenseitigen Hochachtung, die zwischen ihnen bestand, sich so etwas herausnehmen könne, und hatte in seinem mißmutigen Tun doch auch alle Macht und Süße des Herrschens genossen.

Von Saxer war ihm damit die tiefste Demütigung seines Lebens zugefügt worden, und sie hatte ihn sehr elend gemacht, weil sie von einem Manne kam, dem er vieles verdankte, und von dem er hinreichend wußte, daß es ihm bei andern Gelegenheiten an erstaunlicher Unabhängigkeit des Urteils so wenig gebrach, daß er alle herkömmlichen Wege plötzlich verlassen konnte.

Der härteste Schlag aber war es für ihn gewesen, daß Rosas blinde Bewunderung für ihren Vater ihr jede Auflehnung gegen dessen Schiedsspruch verbot, obgleich sie sich ihm im geheimen längst angelobt hatte. Seitdem hatte er den Wunsch nach Glück für etwas Verruchtes gehalten, auf das ein Mann sich nicht einlassen darf. Sogar seinen Beruf hatte er weggeworfen und war als Instruktionsoffizier eingetreten in die Armee. In diesen harten Soldatenjahren war er erst ganz in den Besitz seiner Kräfte gelangt, und obgleich man ihn gerne behalten hätte, war er zuletzt doch wieder zu seinem alten Berufe zurückgekehrt und hatte mit entschleierten Augen nur noch vorwärts geblickt, nicht mehr zurück.

Dennoch war Rosa ein süßes Gottesgeschenk für ihn gewesen in seiner Jünglingszeit und in der Zeit seiner ersten Erfolge. Dieses Gefühl war dauernd sehr stark in ihm. Alles Ungemach konnte deswegen auch nicht verhindern, daß etwas wie eine rosige Nebelwand mit ihm durchs Dasein zog, hinter der das Bleibende seines Lebens lag, beständig in seinem Wert, diesen Wert aber doch auch nicht mehrend.

Das störte ihn oft. 24

Als Valär vom Zug aus das vertraute Bild des Industrieortes auftauchen sah, schoß der alte Groll von neuem in ihm empor und verfinsterte ihm die Augen. Aber kaum daß er auf dem engen Bahnhofplatz stand und der Zug in seinem Rücken schon weiterfuhr, nahmen andere Gedanken von ihm Besitz.

Denn in dem schmutziggelben Gebäude mit der roten Riegelimitation und dem gußeisernen Schwanenhalsbrunnen unter dem abseits stehenden alten Roßkastanienbaum war er als Sohn des damaligen Bahnhofvorstands zur Welt gekommen. Im Erdgeschoß waren die Diensträume untergebracht, in denen der Vater, mager wie eine Kerkerratte, die rote Dienstmütze auf dem Kopf, den Stundenplan seiner Mannesjahre in fast immer heiterer Stimmung hatte abschnurren lassen. Im oberen Stockwerk befand sich die Wohnung, und sie war mit ihren vier Zimmern und zwei Mansarden mit der Zeit viel zu klein geworden für die große Familie, die aus sieben Kindern bestand; denn die Wohnung wuchs nicht im gleichen Tempo, wie diese kamen.

Als der jüngste von allen bekam er diese Enge, die ein gegenseitiges Sich-Ausweichen beinahe unmöglich machte, besonders empfindlich zu spüren; in erster Linie war es sein ältester Bruder Hermann, der ihm stets auf den Fersen lag und ihm jede Bosheit antat, die sich aushecken ließ. Denn jener war von Natur in der Gegend der Roheit zu Hause. Trotzdem war Andrea mit dem Leben fertig geworden, und seit der Vater entschieden hatte, daß er als einziger von seinen Geschwistern solle studieren und Architekt werden dürfen, fuhr er täglich nach der Kantonshauptstadt, war Gymnasiast, und von allen Geschwistern war Linus der einzige, der ihm seinen erhöhten Rang nicht mißgönnte.

Eines Morgens, im letzten Gymnasiastenjahr, wurden alle Studienträume auf niederschmetternde Weise in Frage gestellt. Der Dorftrottel, eine taube Kreatur unbestimmbaren Alters, lief vor einem rangierenden Güterzug übers Geleise, die Lokomotive schrie, der Unglücksmensch merkte nichts, aber der Vater glaubte ihn noch retten zu können. Er sprang hinzu und konnte jenen mit einem gewaltigen Stoß über die Schienen befördern. Aber er selbst 25 hatte die Geschwindigkeit des fahrenden Zugteils unterschätzt, kam zu Fall und wurde zermalmt.

Da Andreas Anteil an dem hinterlassenen geringen Vatervermögen bei weitem nicht zur Finanzierung einer akademischen Laufbahn ausgereicht hätte, legte man ihm, dem Siebzehnjährigen, damals nahe, seine Studienabsichten aufzugeben und in den Bahndienst zu treten. Er hätte sich durch diesen Schritt in den Genuß aller möglichen Vergünstigungen gesetzt, die ihm nach Lage des Falles in Aussicht standen. Der Kreisdirektor fuhr seinetwegen sogar eigens nach Bern. Das war mehr Entgegenkommen, als man hätte erwarten können, und dieses Entgegenkommen verstärkte den Druck. Sein Bruder Hermann, der ihm immer noch als Quälgeist im Nacken saß, sah ihn schon gestürzt und höhnte ihn aus, und seine zweitjüngste Schwester, das berechnende Regeli, stellte befriedigt fest, daß für ihre Anwartschaft nun keine Gefahr mehr bestand, weil die Absicht der Mutter, einfach weitere Teile des Vatervermögens für sein Studium zu opfern und ihn dafür zu belasten, von der Vormundschaft als gesetzwidrig vereitelt wurde.

Er aber biß die Zähne zusammen und wußte, daß er über bequeme Ratschläge, den Neid der Geschwister und die Tränen der Mutter hinwegschreiten müsse, mochte kommen, was wollte.

Irgendein Geist, in der Hölle oder im Himmel, schien dieses Gelöbnis vernommen zu haben. Denn wenige Tage nach Abschluß der Maturität empfing er ein Schreiben Saxers mit der Aufforderung, zu einer bestimmten Stunde sich bei ihm einzufinden. Beziehungen zu dem Besitzer der Rufawerke hatte er keine. Manchmal war Saxer im Auto an ihm vorbeigefahren, und er hatte höflich die Mütze gezogen, weil er Rosas Vater war. Außerdem hatte er ihn an den hohen Feiertagen des Jahres regelmäßig zu sehen bekommen, wenn er in Begleitung seiner Familie auf dem Kirchenhügel erschien und unnahbar durch das Gotteshaus schritt, um seinen Platz in einer der vorderen Bankreihen einzunehmen. Persönlich hatte er aber niemals mit Saxer zu tun gehabt. Er konnte sich auch nicht vorstellen, was der mächtige Mann von ihm wollen mochte. Aber er ging. 26

Auch jetzt, als er ihm dicht gegenüberstand, vermochte Valär nicht zu unterscheiden, welches von den beiden Augen Saxers das berühmte Glasauge war. Denn aus beiden Augen traf ihn ein gleich durchdringender Blick. Dann wurde Platz genommen, und kaum war dies geschehen, als Saxer mit seiner harten Toggenburger Kommandostimme erklärte, es sei natürlich hoffnungslos, in der Lage eines unvermöglichen Jünglings gleich die größten Rosinen im Kopf zu haben und an Studieren zu denken. Mit Entschlossenheit sei zwar schon vieles getan. Aber alles sei damit nicht zu machen. Seit wann ziehe ein Heer ohne Munition in die Schlacht? Auch in seinen Kontoren habe man keine Verwendung für ihn, und – offen gesagt – man sei geradezu froh darüber. (Saxer sprach von sich stets in der dritten Person.) Denn er, der junge Mann, habe erfaßt, was viele in ihrem ganzen Leben nicht merkten: daß nämlich die Schweiz ein Land für Tatmenschen sei. Daß er so fühle, das schätze man. Denn diesen werde nach Gottes Ratschluß gegeben. Nun habe man, und das treffe sich vielleicht günstig, zum Andenken an seine hochselige Frau vor kurzem eine Stiftung gemacht. Die Zinsen dieser Stiftung sollten zur beruflichen Förderung begabter Kinder aus der Gemeinde verwendet werden. Eine Auskunft, die man über ihn beim Gymnasialrektor eingeholt habe, sei nun so ausgefallen, daß der Ausrichtung eines Studienbeitrags wohl nichts im Wege stehe. Wenn der junge Mann also eine Eingabe mache, so wolle man sie an den Stiftungsrat weiterleiten und ihn für die Gewährung eines ausreichenden Stipendiums den Herren empfehlen. Auch an Reisegeldern solle es keineswegs fehlen. Altes sehen, Neues sehen – für einen Architekten sei das sehr nötig. Man erwarte allerdings, daß die erhaltenen Stipendienbeträge samt fünf Prozent Zinsen seinerzeit wieder zurückbezahlt würden.

Hier machte Saxer eine längere Pause und fuhr mit der Hand in den Hosensack. Gleich danach hörte Valär etwas klingeln. Es klang hell und kichernd nach hüpfendem Geld. Danach schien es wirklich wahr zu sein, daß Saxer in jeder Hose eine Handvoll Goldstücke mit sich trug, und daß er mit ihnen spielte, wenn er eine Sache streng überlegte. Plötzlich nickte Saxer, stand auf, reichte 27 Valär die goldene Hand und sagte: »Adjö!«, mit einemmal beinahe väterlich brummend.

Zum Tor ritt gerade Willy hinaus, als Valär den Park der Villa verließ, Saxers einziger Sohn, in Uniform, ein frischgebackener Dragonerleutnant mit gelben Aermelaufschlägen, und Valär grüßte. Aber der Leutnant bemerkte ihn nicht.

Valär konnte sich damals nicht vorstellen, wer dem rauhen und reichen, seine Trümpfe so hart hinschmetternden Mann diesen großartigen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Ebenso wenig war er sich im Augenblick darüber klar, ob es ratsam sei, sich auf Saxers Angebot einzulassen. Aber die Aussicht, vielleicht zehn Jahre früher ans Ziel zu kommen, wenn er die empfohlene Eingabe schrieb – wenn du kaputte Füße hast, fährst du auch auf einem Güllewagen, sagte das Volk –, diese Aussicht wirkte so verlockend auf ihn, daß er nach einer Aussprache mit seiner Mutter seinen Stolz überwand und jene oft gehörten Stimmen seiner Umgebung zur Ruhe verwies, die wissen wollten, Saxer gieße in alles Gute einen tüchtigen Schuß Böses hinein, und in alles Böse mische er einen kleinen Schuß Gutes. Denn so sprachen die Leute wohl nur von ihm, weil er für sie etwas wie eine sehr ferne Gottheit war, deren Entschlüsse sie nicht immer verstanden.

 

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Ort, der abseits im Flachland lag, fiel Valär das alles wieder ein und beschäftigte ihn so stark, daß er von der Umgebung so gut wie nichts sah, bis er überrascht vor der hohen gelben Mauer stand, die sich viele hundert Meter weit in die Länge und in die Breite zog und die hallenartigen Gebäudemassen mit den riesigen schwarzen Fabrikkaminen umschloß, die zu Saxers Rufawerken gehörten. Ein vertrauter Geruch von Oeldunst, Metallstaub, Lack, Hitze, Farben und Rauch schlug ihm aus dem Maul des schwarzgrauen Fabrikkolosses entgegen, der mit so viel Umsicht an den Goldstrom des rücksichtslosen Erwerbszeitalters hingebaut war, nicht duldend, daß seiner zur Ausschließlichkeit getriebenen Leidenschaft der Gütererzeugung von irgendwoher eine Störung erwuchs, nicht von seiten des Staates, der 28 sozialistischen Parteifunktionäre und nicht von der des Gewissens.

Ueberall zischte, dampfte, heulte, hämmerte, dröhnte, röchelte, rollte und rumpelte es, so daß die in drei Generationen wirtschaftlicher Blüte geschaffene Weltgeltung des Saxerschen Unternehmens beinahe zu greifen war. Arbeitslosigkeit gab es hier keine, auch nicht jetzt, so wenig wie es sie früher gegeben hatte. Der Weltmarkt war wie ein Schwamm, der gierig alles aufsog, was von Saxers unermüdlichem Erfindergeist fortlaufend an neuen Maschinen herausgebracht wurde, und Valär wäre nicht erstaunt gewesen, wenn plötzlich im kornblumenblauen Arbeitskittel, ein rotes Tuch um den Hals, der Herr in eigener Person, von Leuten seines Stabes begleitet, auf dem Fabrikhof erschienen wäre, seinen Rundgang machend und mit seiner rauhen Stimme irgendeine Anordnung treffend, hier etwas untersagend, dort mit einem heiseren Ausruf seine Anerkennung bezeugend.

Und dann, nach einer Weile, die ihn durch den bäurisch gebliebenen Teil der Gemeinde führte und ihn, von niemand erkannt, den Weg bis zum Kirchenhügel zurücklegen ließ – das Herz stand ihm fast still –, befand sich Valär vor jenem Gebäude, das er selbst in jungen Jahren entworfen und ausgeführt hatte. Es war sein erster Auftrag gewesen und sein stolzester noch obendrein. Denn mit dem Honorar hatte er Saxer seine gesamte Stipendienschuld, mitsamt den fünf Prozent Zinsen, noch vor Eintritt in sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr wieder zurückbezahlt.

Das war folgendermaßen gekommen:

Saxer, dem das Geld nur so nachlief, schien von Zeit zu Zeit das Bedürfnis zu haben, einen Teil davon wieder abzuschütteln, gleichsam mit einem herrischen Ruck, ungefähr wie ein nasser Hund das Wasser in seinem Fell. Er hatte daher beschlossen, seine sogenannten »notwendigen Abwehrmaßnahmen gegen die Härten des modernen Wirtschaftsprozesses« zu krönen durch den Bau eines Hauses, das er »Das Volkshaus« nannte. Ein paar Jahre zuvor hatte er die Renovation der Kirche bezahlt; der Turm hatte bei dieser Gelegenheit einen ganz neuen Kupfermantel bekommen, die Chorwand ein herrliches Glasgemälde, mit biblischen Gestalten, in deren Köpfen Saxers Vater und Großvater verewigt waren, 29 und in der Turmkuppel hatte die Kirchenpflege eine Ehrenurkunde über den Stifter niedergelegt. Es war eine große, in vielen Blättern besprochene Sache gewesen, und ein boshafter Ureinwohner hatte damals erklärt, jetzt habe sich Saxer die erste Hypothek auch noch auf den Himmel gesichert, zu allen andern Hypotheken, die er in der Gemeinde ohnedies schon besaß. Später schwebte Saxer ein Volkshaus vor. Es sollte ein Geschenk an die Gemeinde werden und nicht nur ihrem mächtig angewachsenen Kanzleiapparat eine würdige Unterkunft bieten, sondern auch Saxers schon bestehende Fürsorgegründungen, nebst einigen neuen dazu, unter einem Dache vereinigen. Dazu gehörten ein Fabrikkonsum, eine Ersparnis- und Darlehenskasse, ein alkoholfreies Speisehaus mit billigen Mahlzeiten für die sich nicht selbst versorgenden Arbeiter und Angestellten, ein Vortragssaal mit Theater- und Lichtspielbühne, sowie eine Jugend- und Volksbibliothek. Außerdem waren Lehrwerkstätten für die schulentlassene Jugend und eine Sporthalle mit den nötigen Umkleide- und Duscheräumen geplant.

Es waren zeitgemäße und nützliche Dinge, auf die er verfiel: Wirtschaft, Unterhaltung und Sport, nichts Religiöses wie sein Glasgemälde oder die Orgel, die sein Vater gestiftet hatte, und er glaubte damit genau so das Rechte zu tun, wie wenn er immer mehr und noch mehr Maschinen erfand oder erfinden ließ und an der Häufung seines Reichtums wob wie die Spinne an ihrem Netz.

Saxer hatte zur Erlangung von Plänen für den geplanten Bau unter den Architekten des Kantons einen anonymen Wettbewerb ausgeschrieben. Valär hatte von der Sache gehört, und da er hoffen konnte, bis zum Ablauf des Termins sein Diplom zu haben, hatte er, damals noch Student, an der Konkurrenz kurzerhand mitgemacht. Wider alles Erwarten war das Los zu seinen Gunsten gefallen, weil Saxer seinem Projekt, entgegen den Stimmen seiner Berater, den Vorzug gab.

Nur um dieses sein Jungfernwerk wiederzusehen, war Valär vom Bahnhof her in den Ort gegangen. Im ersten Moment kam ihm vor, daß es sich gar nicht so übel gehalten habe. Nachdem er es jedoch von allen Seiten umschritten hatte, mußte er sich 30 gestehen, daß es mehr ein Stück angewendeten Geldes und angewendeten Gottvertrauens als ein Stück angewendeter Freiheit war, und recht verlegen machte er sich wieder davon.

Als kurz danach eine Wirtschaft »Zur Morgensonne« hieß und er auf der Türe den Namen seines Bruders Hermann gewahrte, wurde ihm noch übler zu Mut. Wie ein Fremder ging er vorüber und merkte, daß er das Gesicht seines Bruders vergessen hatte. Auch zu seinen übrigen Geschwistern, mit Ausnahme von Linus, hatte er längst keine Beziehungen mehr. Er hatte sie nie als Seinesgleichen empfunden. Auch sie hatten sich in seiner Nähe nie wohl gefühlt, und es wäre ihm wohl nicht leicht geworden, sie noch zu erkennen, wäre er einem von ihnen begegnet.

Es war ihm daher wie eine Erlösung, als er hundert Meter weiter auf eine Garage mit Mietbetrieb stieß. Er ließ sich geradenwegs nach St. Gallen fahren, besuchte kurz die Gemäldesammlung und speiste im Bahnhofbuffet zu Mittag. In einem zweiten Taxi fuhr er nach dem Landerziehungsheim weiter.

 


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