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Zur Tischzeit ging Daga nach Hause. Blaß und schweigend saß sie auf ihrem Platz, essen konnte sie nicht. Sie dachte an Gützlaff, und ihre Augen streiften Elsas Gesicht. Wie die es aufnehmen würde, wenn sie es erfuhr.
Eine gewisse dumpfe Starre hielt Dagas Geist gefangen. Das Bewußtsein der vollbrachten That wirkt anders als der Vorsatz. Der Geheimrätin entging die Veränderung in ihrem Wesen nicht
»Fühlst du dich krank?« fragte sie.
»Nein, nur müde, abgespannt,« entgegnete Daga. »Ich brauche notwendig etwas Ruhe.«
»Aber essen solltest du doch.«
»Mir fehlt der Appetit. Vielleicht wird's eine Migräne.«
»Ist etwas geschehen?«
»Nein, Mama, bitte, frag doch nicht mehr, man darf sich doch einmal unwohl fühlen.« –
Am Nachmittag ging Daga wieder zu Niehuus. Die innere Unruhe trieb sie. Wenn überhaupt Nachricht kam, dorthin gelangte sie zuerst. Oder würde sie gar nichts erfahren? Nur Gewißheit! Nur Sicherheit!
Niehuus gewahrte die Unrast seiner Verlobten. »Fühlst du dich unwohl, Daga?«
»Nein doch – nein. Nur etwas Migräne,« entgegnete sie.
Sie sagte es ungeduldig. Wenn die Menschen sie doch nur in Ruhe lassen wollten.
Die Zeit verrann. Nachricht kam nicht. Wenn doch nur etwas geschähe, das die Gedanken ablenkte!
Endlich schlug draußen die Glocke an.
Daga zuckte zusammen. War es die Entscheidung?
Nichts! Eine wirtschaftliche Angelegenheit.
Es dämmerte schon, als Doktor Klüwer erschien. Er sah sehr ernst aus, beinahe finster. Daga wußte nicht, daß er mit Gützlaff im öffentlichen Dienst zusammen wirkte.
»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Fräulein Brandow … unter vier Augen.«
Daga sah betreten auf, Der eisige Ton des Arztes, seine ganze Art, kontrastierten mit seinem gewohnten Verhalten. Ihr Herz pochte dicht unter dem Halse. Was würde sie hören?
»Ist etwas geschehen?«
Der Arzt deutete auf die Thür. »Bitte!«
Sie betraten das Zimmer jenseits des Flurs. Daga fröstelte leicht. Dann waren sie allein im dämmerigen Gemach.
»Nehmen Sie doch Platz, Herr Doktor.«
Klüwer blieb stehen. Seine Stimme klang gedämpft. So spricht der Richter, welcher das Urteil verkündet.
»Einst wünschten Sie meinen Rat an der Schicksalswende,« begann er, »heute fordere ich Ihre Entscheidung. Eine Hand sehe ich, die sich aufhob zum Mord. Ich muß sie binden, diese Hand, muß sie hindern, daß sie sich nicht ausstreckt und neue Opfer sucht. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bedroht das Strafgesetz, wer einem anderen Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, Aber ich sehe auch eine Mutter, die zitternd, eine Schwester, die voll Entsetzen hinstarrt auf die Verbrecherin. Einen Mann sehe ich, der ein Weib suchte und eine Mörderin fand. Träte der Tod in ihr Haus, sie würden weinen, aber sie müßten es tragen in dieser Zeit der Thränen. Mich jammert ihrer, weil sie Schmach dulden sollen, die sie nicht verschuldet haben, die keine Thräne auslöschen kann. Tod oder ehrloses Leben, es giebt keine andere Wahl. Heute spricht der Mann zu Ihnen, dem ein Grabeshügel voll Blumen und Thränen leichter deucht, als ein Leben voll Schmach, ein Freund spricht, der nicht erniedrigt sehen möchte, was so hoch gestanden hat. Morgen ruft der Arzt die Gerechtigkeit an, der Arzt, der das Verbrechen kennt und die Täterin. Zwischen heut' und morgen ist eine lange Frist. Bis morgen ruht Ihr Schicksal in Ihrer eigenen Hand.«
Beim ersten Wort des Arztes fühlte Daga, daß ihr Herz stillstand. Sie wußte es, sie war entdeckt. Wortlos, regungslos verharrte sie … geisterhaft bleich. Sie hörte jede Silbe, begriff seine ganze Absicht. Dann sah sie den Arzt sich umwenden ohne Gruß.
An der Thür stand er noch einmal still. »Robert Gützlaff ist nicht tot, ich hoffe ihn zu retten. Vielleicht ist das jetzt ein Trost für Sie.«
Daga war allein. Noch immer verharrte sie wortlos, regungslos, geisterhaft bleich,
Vor dem Fenster sank sie auf einen Stuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen. Eine Vision sah sie vor sich; ein Marmorschloß mit goldenen Thoren und schimmernden Kuppeln. Mit einem Schlag sank es hinab. An seiner Stelle stand ein düsteres Haus, ohne Thüren beinahe, die Oeffnungen in den finsteren Mauern mehr Löcher als Fenster, mit schweren Eisenstangen versperrt. Ueberall klirrende Schlüssel, klirrende Waffen, klirrende Ketten.
Und dann sah sie sich selbst im gefüllten Saal auf der Bank der Angeklagten, Wächter in Waffen zur Rechten und zur Linken.
Die Richter kannte sie alle. Unter den Zuschauern lauter bekannte Gesichter, und in jedem Gesicht Abscheu und Neugier zugleich.
»Das ist sie!«
Einer zeigte sie dem anderen. Jedem graute vor ihr, und keiner wandte doch ein Auge ab von der – Giftmischerin.
Zehn Jahre! Ehern klang's aus dem Munde des Richters. Zehn Jahre in dem Hause mit eisernen Thüren, mit eisernen Gittern vor den Löchern in den düsteren Mauern. Zehn Jahre im Sträflingskleide.
Daga stand auf, das Grauen schüttelte sie, das Grauen vor dem Hause mit den finsteren Mauern.
Niemals!
Und wie hatte der Arzt gesagt? Herrin des Schicksals bis morgen früh? Sie verstand ihn. Schimpf und Schande blieb denen erspart, die unschuldig waren; Schimpf und Schande und ein elendes Dasein auch ihr selbst. Darum war Doktor Klüwer gekommen, darum hatte er ihr Schicksal in die eigene Hand gelegt bis zum neuen Licht des Tages … zur Sühne. Der neue Morgen durfte sie nicht mehr finden unter den Lebenden. Vor dem Tode steht die Vergeltung still. Das Geheimnis ihres Grabes blieb unentschleiert. Der Schmerz weint Thränen, dem mit Schande Beladenen folgt der Fluch.
Daga schritt zum Schrank. Eine Flasche nahm sie hervor und ein Glas. Den ganzen Rest aus der Phiole schüttete sie hinein, bevor sie das Glas füllte mit Wein.
Ein letztes Zaudern und Schwanken. Jung sein, gesund sein und das Licht auslöschen mit eigener Hand. Noch einmal empörte sich das Leben gegen den Tod. Gab es es keine Rettung, keine Flucht?
Einen Tag vielleicht, eine Woche, gehetzt in der Welt, dann doch ergriffen und vor Gericht geschleppt. Nein! Das war kein Leben.
Mit einem einzigen Zuge leerte Daga das Glas bis zum letzten Tropfen.
Mit fliegender Hand warf sie ein paar Worte auf Papier. Auf dem Tische blieb es liegen. Abschied nehmen durfte sie nicht, von niemand.
Still und unbemerkt verließ sie das Haus. Draußen zerschellten Glas und Phiole auf den Steinen des Pflasters. Das Geheimnis ihres Grabes durfte niemand erforschen. Der Arzt würde es hüten.
In der dämmerigen Straße schritt Daga langsam fort. Als das Gift zu wirken begann und die Kräfte sie zu verlassen drohten, stieg sie in eine Droschke. Mit dem letzten Aufgebot ihres Willens gab sie das Ziel der Fahrt an – eine entfernte Sanitätswache.
Im Krankenzimmer wurde Licht gemacht. Niehuus fragte nach seiner Verlobten.
»Ich meinte, sie wäre hier bei dir,« sagte die Großmutter. »Vorhin sprach sie mit dem Doktor.«
»Sieh doch einmal drüben nach.«
Die alte Frau kam bald zurück. »Dort ist sie auch nicht. Sie hat dich wohl nicht stören wollen Und ist still fortgegangen. Dieses Blatt lag auf dem Tisch. Gewiß hat sie dir's aufgeschrieben.«
Niehuus las:
»Lebt alle wohl, fragt mir nicht nach! Sucht mich in Ohlsdorf … später!
Daga.«
Tödlicher Schrecken sprach aus den Zügen des Mannes. Daga war krank, sie hatte es schon gefühlt, als er ihrer Unrast nachfragte vorhin, als sie es leugnete.
»Was ist dir, Georg? Was schreibt deine Braut?«
»Nichts, Mutter, nichts! Ich weiß nichts Gewisses. Schicke sofort zur Geheimrätin, sie soll Nachricht geben, ob Daga zu Hause ist, und wie es ihr geht. Schnell, Mutter, schnell!« –
Auf die Botschaft hin kam die Geheimrätin selbst, atemlos, von Angst bedrückt. Elsa war bei ihr.
»Ist Daga nicht hier? Sie ging zu Ihnen, vor Stunden schon. Was ist mit ihr?«
»Fort ist sie … krank. Dies hat sie geschrieben.«
Erbleichend stand die Geheimrätin da. Der Zettel zitterte in ihrer Hand. Dann erwachte die Energie der geängstigten Mutter.
»Du bleibst hier, Elsa, ich eile nach Hause, ob Daga dort ist, ob sie inzwischen gekommen ist. Sollte sie hier eintreffen, bringst du mir Nachricht. Wenn zu Hause etwas geschieht, schicke ich Max.«
Großmutter Neuhaus strich mit der Hand über die Stirn des Kranken, »Nicht aufregen, Georg, nicht die Hoffnung verlieren. In Gottes Hand stehen wir alle.«
»Ja, Mutter, ja. Aber jetzt laßt mich allein. Macht es dunkel im Zimmer.«
»Die Nacht ist keines Menschen Freund, Georg!«
»Ich möchte allein sein, Mutter.«
Still ging die Greisin hinaus.
Dann war's dunkel im Gemach. Drinnen lag Georg Niehuus, Irr und wirr zuckten die Gedanken durch sein Hirn, dem Blitze gleich in schwüler Finsternis … hierhin und dorthin … flammend, grell, schmerzhaft.
War sie geflohen aus Furcht, weil er die Mutter zu sich nahm, die Mutter, die aus der Straße des Schreckens kam? Trieb die Angst sie fort, weil sie die Ansteckung fürchtete, oder war's schon die Krankheit, die sie in sich fühlte, die grauenvolle, tödliche Krankheit, deren Keim die Mutter ins Haus gebracht? Hatte sie recht gehabt mit ihrer Furcht? Trug er selbst die Schuld an dem, was geschah? – An ihrem Tode vielleicht?
Immer höher stieg seine Erregung, immer wirrer ward es ihm im Kopf. Und dann wurde es plötzlich auch dunkel in seinem Geist … schwarze, schauervolle Nacht. – –
Großmutter Neuhaus saß inzwischen im Nebenzimmer. Ihr Sohn hatte sie hinauszugehen gebeten, kein Zeichen rief sie zurück, kein Laut verriet, daß er nach ihr verlangte. Unheimlich still war's im Hause, als wäre der Tod eingekehrt.
Und hatte er sie zu gehen veranlaßt, Großmutter Neuhaus fühlte, daß er ihrer bedurfte. Nicht Einsamkeit that ihm not, nein Liebe, Liebe! Die Braut war nicht da, doppelt sorgen mußte die Mutter.
Auf den Spitzen der Zehen schlich sie zu ihm hinein.
»Georg!«
Er regte sich nicht. Ihre Hand tastete nach seinem Haupt, nach seinen Händen. Er gab keine Antwort, machte keine Bewegung.
Schreckensstarr stand die alte Frau einen Augenblick. Dann raffte sie sich zusammen. Nicht thatenloses Klagen, Hilfe that not.
Sie rief Elsa, rief die Wärterin.
»Der Anfall hat sich wiederholt. Wer schafft einen Arzt herbei?«
»Ich!« sagte Elsa. »Ihr beide seid erfahren in der Pflege, ich kann hier nichts thun.«
Ohne eine Minute zu verlieren, eilte sie fort. Die Mutter mit der Wärterin bemühten sich um den Bewußtlosen.
Eine Droschke kam daher. Elsa rief den Kutscher an. »So schnell als möglich zu einem Arzt, ganz gleich, welchen!«
»Hat hier auch einer die Cholera, Fräulein?«
»Nein, Schlaganfall. Nur vorwärts!«
Der nächste Arzt war nicht zu Hause.
»Weiter, Kutscher, zu einem anderen! Die nächste Adresse ist die beste!«
Keinen fand sie daheim. Die ganze Stadt war ein riesiges Arbeitsfeld für die Männer der Wissenschaft. Uebermenschliches wurde verlangt und auch geleistet von ihnen.
Ohne zu ermüden rannte Elsa treppauf, treppab, fuhr immer weiter, von einem Arzte zum anderen. Endlich fand sie Hilfe. Auf der Treppe kam ihr der Doktor entgegen, ein alter Mann war es. Er keuchte die Stufen herauf, langsam und schwer.
»Kommen Sie, Herr Doktor, die höchste Eile thut not!« rief Elsa.
»Ich kann nicht mehr, Kind, ich kann wirklich nicht mehr. Seit vier Tagen bin ich nicht aus den Kleidern gekommen. Ueber seine Kräfte hinaus kann niemand.«
»Nur noch den einen Weg! Mein Wagen hält unten, er bringt sie auch wieder zurück. Nur dieses Mal noch, Herr Doktor!«
»Und dann kommt ein anderer und sagt ebenso. Haben Sie kein Mitleid mit mir?«
»Nein, die Kranken sind wichtiger. Sie sind noch gesund!«
»Sie verstehen's, Kind, Sie haben Energie, das muß wahr sein. Also weiter, so lange die alten Knochen zusammenhalten.«
Die Haushälterin stand im vorderen Zimmer »Wie geht's dem Herrn?« fragte Elsa.
»Er ist noch ohne Bewußtsein, Fräulein Brandow.«
Ohne sich aufzuhalten, schritt Elsa hindurch. »Eine Flasche Wein für den Doktor, auch einen Bissen zu essen. Rasch!« sagte sie im Vorbeigehen. Sie wußte selbst nicht, wie umsichtig sie handelte.
Der Arzt untersuchte den Kranken. »Schlaganfall, aber noch ist Hoffnung!
Er beschrieb ein Blatt Papier.
»Das lassen Sie in der Apotheke machen und flößen's ihm ein … immer drei Tropfen von Viertelstunde zu Viertelstunde … bis er erwacht. Und dann dies hier. Einen Eßlöffel die Stunde!«
Im Vorderzimmer trank der Arzt sein Glas Portwein. »Bitte noch eins!«
»Erst einen Bissen dazwischen essen, Herr Doktor! Hier ist ein Stuhl! Einen Augenblick dürfen Sie sich setzen.«
Dem alten Herrn gegenüber nahm sie selber Platz und sah ihm zu, wie er heißhungrig aß. »Es ist so lange her, Kind, ich weiß gar nicht mehr, wann ich den letzten Bissen zu mir genommen habe.«
Elsa schenkte ihm ein. »Nun dürfen Sie auch wieder trinken, Herr Doktor!«
»Sie verstehen's, Kind! Ich glaube, jetzt brauche ich gar nicht erst nach Hause.«
»Aber Sie kommen wieder, Herr Doktor! Nicht wahr? Sie versprechen mir, daß Sie wiederkommen!«
»Sie verstehen's, Kind! Sie verstehen den Menschen zu packen!«
»Und Sie kommen wieder?«
»Ich werde kommen. Gott behüte Sie, liebes Kind!«
Genau nach Vorschrift des Arztes verwendete Großmutter Neuhaus die Medizin. Unentwegt saß sie am Bette des kranken Sohnes. Stunden vergingen, bevor er das Bewußtsein erlangte, und als er zu sich kam, war die Lähmung ärger als je zuvor.
* * *
Ein großes, weithin sichtbares Schild machte die Sanitätswache kenntlich. Dort hielt Dagas Kutscher und sah sich nach seinem Fahrgast um. Daga ruhte zusammengekrümmt und mit geschlossenen Augen in der Ecke des hinteren Sitzes. Sie stieg nicht aus.
»He, Fräulein, wir sind da!«
Sie regte sich nicht.
Von drinnen kamen Leute. Daga öffnete matt die Augen, als man sie aus dem Wagen hob, vermochte aber kein Wort, sondern nur ein röchelndes Stöhnen hervorzubringen.
»So, jetzt hat die auch die Cholera,« sagte der Kutscher philosophisch. »Na, ein Glück, daß sie beim Einsteigen bezahlt hat.«
Auch auf der Sanitätswache war man der Meinung, eine Cholerakranke vor sich zu haben, und der Krankenwagen nahm Daga auf. Dann begann die Fahrt durch die Stadt. Hie und da gab es Aufenthalt unterwegs, da schob man neue Personen herein Männer, Frauen, Kinder, alle durcheinander, wie man sie vorfand in den Häusern. Cholerakranke in jedem Stadium des Leidens.
Weiter, immer weiter, bis der Wagen gefüllt ist.
Der Tod fuhr durch die Straßen. Daga war mitten im Zuge.
In Niehuus' Wohnung verzehrte sich Elsa vor Unruhe. Daga war nicht zurückgekommen, aber auch von ihrer Mutter traf keine Nachricht ein. Sie wollte und konnte nicht mehr warten.
»Ich möchte zu Hause nachsehen, wie es dort geht. Oder ist noch was zu thun für mich, Großmutter?« fragte sie.
Die Anrede ging ihr so glatt von den Lippen, als hätte sie die alte Frau von Kindesbeinen an Großmutter genannt.
»Ich bleibe am Bette sitzen und wache die Nacht. Weiter weiß ich nichts, liebes Kind. Vielleicht kommt er zur Besinnung. Der Arzt hat uns ja Hoffnung gegeben.«
Zu Hause fand Elsa die Mutter in Thränen. Beim Eintritt der Tochter sprang die Geheimrätin auf.
»Ist sie dort angekommen? Ich vergehe vor Angst!«
Die geängstigte Frau strich sich mit dem Tuch über die Augen. »Wie geht's Niehuus?«
»Schlecht. Der Anfall hat sich wiederholt, seitdem du bei ihm warst. Er ist ohne Besinnung.«
»Gott, mein Gott, wie wird das noch enden!« Der Jammer um die Verschwundene brach wieder hervor mit Allgewalt. »Ich verliere mein Kind, widersprich nicht, Elsa! Etwas Gräßliches ist geschehen, ich fühle es.«
Elsa senkte traurig den Kopf. Womit sollte sie trösten? Die Sorge wuchs höher und höher auch in ihr, und die Sorge verlangt Thaten.
Die Thränen der Geheimrätin flossen heftiger, »Elsa, hilf mir! Komm mit mir, daß wir Daga suchen!«
»Ja, Mama. Aber Max soll uns begleiten. Ist er gleich noch ein Knabe, so ist er doch gut und verständig. Wir könnten einen Boten gebrauchen.«
Die drei betraten die Straße. »Wohin führst du uns, Elsa?« fragte die Mutter.
»Nach der Sanitätswache. Wir können nicht durch die Straßen irren ohne Ziel. Wenn Daga etwas zugestoßen ist, erfahren wir es dort am ehesten. Ich kenne jemand daselbst. Er hat ein Herz, er wird uns raten, er hilft uns nachforschen.«
Von Mutter und Bruder begleitet, schritt Elsa nach der Sanitätswache, die Robert Gützlaff genannt hatte. Sie trafen fast gar keine Passanten, wer nicht mußte, ging nicht hinaus. Aber der Tod fuhr durch die Straßen. Vor einem Hause hatte er Halt gemacht, gerade, als die drei vorüber kamen. Ein Körper wurde zur Thür herausgetragen, es war ein junges Weib im Nachtgewand. Sie lebte noch. An ihrem Fuß hing ein Blättchen Papier, Name und Adresse standen darauf. So lange der Zettel festsaß, konnte die Frau nicht verwechselt werden mit anderen. So trug sie ein Mann auf den Armen … Sie wußte es nicht. So schob er sie in den Wagen. Sie ward's nicht gewahr.
Die Geheimrätin preßte den Arm ihrer Tochter,
»O Elsa, das ist furchtbar! Komm schnell fort von hier.«
»Der Tod ist überall, Mama, keiner kann ihm jetzt ausweichen.«
Sie schritten weiter. Einen Blick in das Innere des Wagens warfen sie nicht. Hätten sie es gethan, jeder weitere Weg wäre ihnen erspart geblieben.
Sie hätten Gewißheit gehabt, wenn es auch die schrecklichste war.
So schritten sie vorüber. Der Tod aber fuhr weiter durch die Straßen, und Daga befand sich mitten im Zuge.
Auf der Sanitätswache fragte Elsa nach Robert Gützlaff. Man sagte ihr nicht, was demselben zugestoßen war, aber Doktor Klüwer wurde gerufen. Er hörte Elsas tiefbewegte Bitte. Wenn er etwas sähe von Daga, etwas erfragen könnte! So und so habe sie geschrieben; nun sei sie verschwunden seit Stunden,
Doktor Klüwer suchte Elsa und ihre Mutter nicht zu trösten. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. Schmerz konnte er nicht ersparen, nur Schimpf und Schande fernhalten von den Unschuldigen. Auch die geängstigten Frauen würden ihren Schmerz überwinden, wie Zehntausende ihn überwinden mußten, denn das Grab der Tochter, der Schwester war nicht entehrt vor der Welt. So weckte er keine Hoffnung, die sich nicht erfüllen durfte. Aber Nachricht wollte er senden, sobald er Dagas Spur gefunden, Und finden mußte er sie zuletzt in den Baracken draußen.
»Und jetzt gehen Sie nach Hause, gehen Sie schnell nach Hause! Blicken Sie nicht nach rechts noch links. Aerger als je wütet die Cholera in Hamburg. Ich sende Nachricht, sobald ich selbst welche habe.«
Erst gegen Ende des nächsten Tages fand Doktor Klüwer Dagas Spur. Eine Frau wie er beschrieb, war eingeliefert. In den Baracken läge sie.
Aus den Baracken wies man ihn die Totenhalle, dort sei sie jetzt.
Suchend schritt Doktor Klüwer durch die Reihen, die endlosen Reihen der Toten. Seine Augen blickten traurig, das Grauen hatte er verlernt in dieser Zeit. Wer ausgelitten hatte, war am wenigsten zu beklagen.
Von der Decke herab träufelte Karbol. Es traf seine Kleider, traf die, die ausgestreckt lagen an der Erde. Tropfen um Tropfen schlug auf, unablässig wie der Regen von der Dachtraufe fällt.
Hundert hatte er gesehen … die Gesuchte war nicht unter ihnen. Noch hundert und wieder hundert. Nur weiter! Endlich stand der Arzt still.
Das war sie. Ein weißes Gesicht, selbst im Tode noch schön. Traurig ruhte sein Blick auf dem starren Antlitz. Sie hatte gehalten, was er erhoffte von ihr. Ihr Verbrechen war mit freiwilligem Tode gebüßt. Jetzt durfte er sie beklagen, die sich so entsetzlich verirrte, und das Geheimnis ihres Todes blieb gewahrt.
Im Innersten bewegt wandte sich Doktor Klüwer auf seinem Wege zurück. Alles mußte nun seinen Gang gehen, mit Daga wie mit allen, die hier lagen, wie mit allen, die noch kommen würden.
Draußen standen die Wagen. Bald würden die Reihen hier drinnen verschwinden für heute. Morgen waren die Plätze wieder gefüllt bis zum letzten.
Draußen aber in Ohlsdorf wuchs und dehnte sich das Riesengrab. – – –
Doktor Klüwer hatte nicht vergessen, was seine Lilli beim Fest der Arbeiter über Elsa und Gützlaff gesagt. Auch daß Elsa nach Dagas Verschwinden ihre Mutter herführte, um bei dem Monteur Rat und Hilfe zu suchen, war noch in seinem Gedächtnis.
Nun mußte die traurige Nachricht ins Haus der Geheimrätin gebracht werden. Robert Gützlaff war so weit hergestellt, daß er den Weg übernehmen konnte, und der Arzt bat ihn, daß er es thun möge.
Dem Geretteten hatte Doktor Klüwer die Ursache seiner Krankheit nicht verschweigen dürfen. Als sich die Männer jetzt trennten, sahen sie einander ernst in die Augen. Die Hände fügten sich zusammen in festem Druck. Ohne Worte war's ein stilles Gelöbnis, das Geheimnis von Dagas Tod sollte gewahrt bleiben, ihr Grab nicht entweiht werden. Mit der Schuldigen, die sich selbst gerichtet, wurde auch die Schuld begraben.
Robert Gützlaff fand die Damen in Angst und Thränen. Vieler Worte bedurfte es nicht. Nur Bestätigung konnte er bringen. Dagas Verschwinden und die Zeit, welche seitdem verstrichen, ließen einen anderen Ausgang nicht mehr erwarten
Die Geheimrätin wußte schon um die Verwandtschaft zwischen Niehuus und Robert Gützlaff. Sie bat den jungen Mann, noch zu verweilen. Sie selbst aber zog sich zurück, stumm und starr saß sie im hintersten Zimmer. An jene Unterredung mußte sie denken vor der Ausfahrt ins Kirschenland. Nun war Daga von ihr genommen, ohne daß der gleißende Wunsch sich erfüllte,
Die Geheimrätin strich mit der Hand über das gramvolle Antlitz. Der Zettel, den Daga schrieb, bevor sie Niehuus' Haus verließ, deckte ein Geheimnis, tief im Herzen fühlte sie es. Warum war Daga nicht heimgekommen, als sie sich krank fühlte? Eine Flucht war's, als sie das Haus ihres Verlobten verließ. Warum? Vor wem? Trieb eine Schuld sie hinaus?
Und die Geheimrätin empfand es tief: sie selbst war schuldig geworden an ihrer Tochter. Sie hatte ihre Augen geblendet mit des Goldes gleißendem Schimmer, sie hatte Daga nicht zum Guten gerufen, als sich Verwandte fanden zu Niehuus und seinem Erbe. War es Strafe für sie selbst, daß sie die Tochter hingeben mußte der gräßlichsten Vernichtung? War es Vergeltung, daß Daga sterben mußte, sie, die anderen den Tod gewünscht?
Die Geheimrätin stöhnte qualvoll auf. Was sie gefehlt an Daga, wollte sie gutmachen an Elsa und ihren Brüdern, daß sie nicht geblendet würden durch Gold und Glanz. Echte, wahre Mutterpflicht zu erfüllen an denen, die noch bei ihr waren, das gelobte sie sich in dieser Stunde des Schicksals. –
An der Thür zum Ausgang stand Elsa vor Robert Gützlaff. Er hielt ihre Hand, er sah die Thränen still über ihre Wangen fließen. Keines sprach ein Wort.
Und in die tiefe Stille hinein klang dumpfes Rollen. Wagen waren es, dumpf rollende Wagen. Einer folgte dem anderen in endlosem Zuge durch die Nacht. In den Wagen lagen sie still nebeneinander, die Tausend, die der Tod abgefordert am Tage.
Elsa hörte das Rollen. Durch Thränen sah sie den Freund an. Er wußte, an wen sie dachte, er verstand die Frage ohne Wort und nickte traurig.
Da schluchzte Elsa laut auf vor unendlichem Weh. »Schwester! O meine Schwester, fahre wohl!«
Dumpf rollende Wagen, einer hinter dem anderen in endlosem Zuge durch die Nacht…. zur Stadt hinaus nach Ohlsdorf ins Riesengrab.
Endlich, endlich durften die Menschen wieder aufatmen. Die Würgerin war überwunden. Auch die Aerzte und Helfer fanden nun wieder Zeit, an sich selbst zu denken.
Hand in Hand mit Doktor Klüwer trat Lilli Tychsen vor den Kommerzienrat.
»Hermann bedarf der Erholung, Papa. Aber allein lasse ich ihn nicht reisen, ich habe lange genug gezittert, daß er mir nicht wiederkehrt.«
»Da werden wir wohl dem Standesbeamten Bescheid sagen müssen. Das ist nämlich der einzige, welcher die Sache einrichten kann,« meinte lächelnd der Vater.
Die Vermählung fand in kleinem Kreise statt, zu prunkvollen Festen fehlte noch die Stimmung.
»Wenn wir von der Reise zurückkommen, wird sich schon zeigen, was unser Haus vermag,« versicherte Lilli.
In all dieser Zeit ging Elsa wie ein guter Engel hin und her zwischen dem Hause ihrer trauernden Mutter und dem Hause des kranken Fabrikanten, dessen Zustand sich in der That besserte. Von ihr erfuhr Niehuus, daß Daga nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Auch er fühlte es, der Grabhügel seiner Verlobten deckte ein Geheimnis. Die beständige grübelnde Aufregung mußte ihm schädlicher sein als volle Gewißheit. Aus diesem Grunde nahm Doktor Klüwer Veranlassung, den Schleier so weit zu lüften, daß Niehuus den Zusammenhang verstand.
Und wie Dagas Mütter, so erkannte Dagas Verlobter die eigene Schuld, sah er des Schicksals Hand auch über sich selbst. Damals, als seine Braut sich vor ihm verleugnen ließ vier Tage lang, weil sie sein Vermögen bedroht glaubte, hatte er wissend die Augen verschlossen. Ungehört verhallte die Stimme der Vernunft, die ihn zurücktreten hieß. Das war sein Verschulden. Dem Fehl folgte die Strafe: Verzicht auf persönliches Glück. Er wollte sie tragen. Gnädig noch war ihm die Schickung gewesen Sie gab ihm die Liebe der Mutter zurück, zeigte ihm goldene Herzen in Robert Gützlaff und Elsa – ihr Glück wollte er bauen.
Nach und nach gewann Niehuus die Herrschaft über die Sprache und seine Glieder zurück. Es ging noch schwer damit und unbeholfen, doch es ging. In diesen langen Wochen machte er Pläne über Pläne betreffs der Zukunft. Er sah, was sich anbahnte zwischen Elsa und Robert, aber noch war die Zeit nicht gekommen
Vorerst hatte er lange, geheime Unterredungen mit Elsas Mutter. Mit feuchten Augen willigte dieselbe in seine Pläne. Sie mußte ja dankbar sein, daß alles sich zum Guten fügte. So wurden denn in aller Stille die Vorbereitungen getroffen zu dem Schritt, welcher Elsa zu Niehuus' Tochter machen sollte, und der erste Federstrich, den er that nach der Krankheit, war die Unterschrift unter der Urkunde, durch welche er das herzige Mädchen adoptierte. Aber nicht die Umformung des Namens schrieb er, die er angenommen in der Fremde: Georg Neuhaus nannte er sich fortan, wie er sich in der Jugend genannt hatte
Und noch etwas anderes gab es zu ordnen. Mit Kommerzienrat Tychsen sprach Neuhaus viel über die Zukunft der Fabrik, und dabei war auch von Robert Gützlaff die Rede. Vorläufig erfuhr derselbe allerdings nichts weiter, als daß es dem Einfluß der beiden Männer gelungen war, ihm den Besuch der technischen Hochschule zu ermöglichen. Das war immer das Ziel seiner Sehnsucht gewesen.
Nachdem auf diese Art die zukünftige Gestaltung der Dinge wohl vorbereitet war, beschloß Georg Neuhaus zu reisen, vielleicht daß es im fernen Süden noch Besserung gab für seine Lähmung. Aber des Alleinseins war er müde. Sein Gemüt, dessen zarte Regungen in der freudlosen Oede eines langen Lebens vertrocknet schienen, sein Herz, das noch die letzte Zeit mit einer Fata Morgana getäuscht, verlangten nach Anschluß, nach Liebe. Und wo konnte er sie selbstloser finden als bei der alten Mutter und bei der neugewonnenen Tochter?
Das Verhältnis zwischen diesen beiden war herzerquickend anzuschauen. Wäre Elsa ihre leibliche Enkelin gewesen, die Großmutter hätte sie nicht inniger lieben können, und dasselbe warme Empfinden erfüllte die Brust des jungen Mädchens.
Von seiner Mutter, von seiner Tochter wünschte Georg Neuhaus sich nicht mehr zu trennen, er nahm sie mit sich in die Ferne.
An die Abreise schloß sich ein Jahr der Trennung.
Während dieser Zeit besuchte Robert Gützlaff so oft es anging das Haus der Geheimrätin, die mehr und mehr Gefallen fand an dem jungen Manne, der so bescheiden zu sein verstand und doch so fest zu handeln vermochte.
Dagas Mutter war vollkommen ergraut in den schweren Tagen, die ihrem Herzen unvergeßlich blieben. Mit wehmütiger Freude sah sie die Pläne reifen, die Georg Neuhaus betreffs der jungen Leute gefaßt hatte.
Besonders innig schloß sich Max an den neuen Freund an, dem er infolge seines Entschlusses, sich später dem Studium der Elektrotechnik zu widmen, dereinst auch beruflich nahestehen sollte.
Die höchste Freude fand Robert Gützlaff indessen in seinem Briefwechsel mit Elsa, in dem sich Herz und Seele des geliebten Mädchens ihm immer köstlicher erschloß.
Dann kehrten sie aus der Ferne heim. Großmutter Neuhaus noch immer rüstig, fast verjüngt. Georg Neuhaus mußte sich auf seinen Stock stützen, aber er war sonst an Geist und Körper ungemein erstarkt. Und Elsa?
Robert Gützlaff sah sie an und fand keine Worte.
Das Jahr der Trennung hatte die Knospe zur Blüte entfaltet. Und welch herrliche Blüte! Aber in ihren Augen wohnten noch immer Liebe und Treue. Jauchzend schloß er sie in seine Arme.
* * *
Und heute? Nach dem Hinscheiden der Großmutter ist Georg Neuhaus zu seinen Kindern gezogen in das Landhaus draußen vor der Stadt, das er Elsa zum Hochzeitsgeschenk gemacht. Die Frau Geheimrätin wollte lieber für sich hausen mit den beiden Söhnen.
Robert Gützlaff leitet als Direktor die Fabrik, die sein Onkel gegründet, am glücklichsten aber fühlt er sich, wenn er nach der Arbeit heimkehren darf in den Kreis der Seinigen, wo ihn Elsa, die anmutige Hausfrau, schon an der Gartenpforte begrüßt.
Zuweilen am Abend erscheint dann Doktor Klüwer mit seiner jungen Gattin. Wie sich Lilli immer enger an Elsa schloß, so haben sich auch die beiden Männer in Freundschaft gefunden. Dann sitzen sie plaudernd beisammen, bis sich leise die Thür öffnet, um auch Kommerzienrat Tychsen einzulassen.
»Kinder, ich mag nicht zu Hause sitzen und Fliegen fangen ganz allein. Vielleicht habt ihr noch ein kleines Plätzchen für mich hinter dem Ofen.«
Er ist zwar schon recht grau geworden, der Herr Kommerzienrat, aber noch immer lebensfroh und zum Scherzen aufgelegt.
Ende.