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Auf der Fahrt ins Kirschenland herrschte eine eigenartige Stimmung. Von den drei Insassen des Wagens bemühte sich jeder nach Kräften, das Gespräch im Fluß zu halten, aber ganz bei der Sache war keines. Die Gegenwart bildete schließlich doch nur die Einleitung für das Kommende, darum flogen die Gedanken voraus. Welche Situation würde sich ergeben, und wie war danach das eigene Verhalten einzurichten? Bei alledem aber mußte einstweilen der Anschein gewahr bleiben, als werde etwas Außergewöhnliches weder erwartet, noch beabsichtigt. Man saß zusammen im engen Raum, doch der Unterhaltung fehlte das Rückgrat, Geist und Herz waren nicht dabei.
Daga entband sich zuerst von der Aufgabe, Worte zu sprechen, von denen ihre Seele nichts wußte. Bei ihr lag schließlich die Entscheidung. Wollte sie Ja sagen, so konnte sie die Sache ruhig an sich herantreten lassen. Entschied sie sich für Nein, so brauchte sie sich bloß an die Seite der Mutter zu halten, um jedem Alleinsein mit Niehuus aus dem Wege zu gehen. Aber was war das Richtige? Mit einer Silbe entschied sie ihr Schicksal, dann gab's kein Zurück. Was thun?
Ihre Augen streiften beinahe scheu die untersetzte Gestalt des Fabrikanten. Er sah nicht anders als sonst. Kleine, verschwommene Augen, rotes, dickes Gesicht. Einen Bart trug er nicht, er fand ihn zu grau für einen Mann auf Freiersfüßen. Die Glatze ließ sich leider nicht verdecken.
Und neben ihm sie, Daga, prangend in Jugend und Schönheit!
Ewig sich binden – fürs ganze Leben!
Aber heißt atmen schon leben? Geben Sorge und Mühe dem Dasein Wert? Sind Entbehrung und Verzicht freundliche Genossen? Können Jugend und Schönheit das eigene Herz bewahren vor Mißgunst und Neid, wenn andere sich sonnen auf den Höhen?
Doch sich verkaufen! –
Bah, wer verkauft sich? Der edle Stein steht nicht in Schuld bei der goldenen Fassung. Nach dem Kiesel bückt sich keiner, um ihn aufzuheben von der Erde. Die Partie stand gleich. Der reiche Mann wußte, weshalb er sie wählte.
Wieder streifte ihr Blick seine Züge. Auch Niehuus war schweigsam geworden. Jetzt sah er sie an, nachdenklich, prüfend. Erwog auch er im Geiste noch Ja und Nein? Noch war er frei. Wenn sie heimkehren mußte, ohne daß er gesprochen hatte! Wußte sie denn, was seine Absicht war? Sie glaubte ja bloß, was ihre Mutter wünschte.
Daga wurde unruhig. »Sie sind ja ein trefflicher Plauderer, Herr Niehuus, ich muß es gestehen,« sagte sie lächelnd.
»Was soll ich sagen, gnädiges Fräulein? Ich sehe Sie an und bin zufrieden.«
»Ganz außerordentlich genügsam, wirklich! Wenn Sie gütigst gestatten, will ich mich gleichfalls schweigend in Ihren Anblick versenken.«
Graziös in den Wagen zurückgelehnt, kreuzte sie die Arme. Dabei traf den Fabrikanten ein Blick ihrer Augen, der seine Vorstellung von elektrischen Wirkungen nicht unwesentlich berichtigte.
Niehuus suchte nach Worten. »Ich … aber gnädiges Fräulein, bei mir liegt der Fall anders. Ich bin … ich bin sozusagen ein … ein älterer Mann, Sie dagegen ein Ausbund von Jugend und Schönheit.«
Daga lächelte, daß dem Fabrikanten heiß und kalt dabei wurde. »Wünschen Sie, daß ich Ihnen Komplimente mache, mein Herr?«
»Nein doch! Wieso denn? Ist es nicht thatsächlich so, wie ich sage?«
»Also Sie bestehen darauf. Gut, dem Verdienste seine Krone! Verständigen wir uns zuvor über die Begriffe. Was verstehen Sie zum Beispiel unter alt oder sozusagen alt? Ich vermute nämlich in aller Bescheidenheit, daß Sie da einige Finessen im Hinterhalt haben.«
»Alt? Alt? Ja, wie soll ich das gleich umschreiben? Sehen Sie mich an, dann wissen Sie es.«
»Aha, Sie geben mir neuerdings Gelegenheit, Schmeicheleien an den Mann zu bringen. Sehr gütig in der That. Wie lang ist eigentlich die Zeit Ihrer Wallfahrt auf Erden?«
»Fünfzig.« Es klang ein wenig stockend, als Georg Niehuus das sagte.
Daga lachte belustigt, als wenn ein Vöglein zwitschert. »Sehen Sie, da haben wir's! Sie sind kokett, mein Herr, Sie posieren mit Ihren Jahren! Was soll unsereins denn sagen!«
Der Fabrikant fühlte sich immer lebhafter angeregt durch diese launige Art. »Wollen Sie überhaupt etwas sagen, gnädiges Fräulein? Vielleicht gar über sich! Bitte, nein. Ueberall haben Sie Sitz und Stimme, aber wenn vom Alter gesprochen wird, hüllen sich die Grazien in Schweigen.«
»So? Was wissen Sie eigentlich davon? Ich meine von mir. Ein Mädchen von siebzehn und ein Knabe von siebzehn … stellen Sie sich das einmal vor: eine Dame und ein Bübchen, eine Ballkönigin und ein Schuljunge, den man am Ohrläppchen zieht Das ist der Unterschied! Und nun sehen Sie mich einmal an, wie alt schätzen Sie mich? – Nein, sagen Sie nichts, ich möchte Ihre Wahrheitsliebe nicht gar zu sehr auf Klippen führen. Dreiundzwanzig bin ich, wohlgezählte dreiundzwanzig Sommer. Nach den Begriffen vieler Leute ist das schon furchtbar alt für ein Mädchen! Finden Sie nicht auch?«
Bei dem Blick, der diese Worte begleitete, vergaß Niehuus, was er hatte sagen wollen.
Der Wagen hielt vor dem Gasthaus, wo der Kaffee bestellt war. An dem Sonntag, welcher das Kirschenland in Blüte sieht, tragen Dampfschiffe Tausende aus Hamburg die Elbe hinab, und die Chaussee, welche das Flußufer begleitet, wimmelt von Fuhrwerk aller Art. Heute, mitten in der Woche, wanderte Niehuus mit den Damen allein durch den Garten, ging die Deiche, die Landwege, die Chaussee entlang. Ueberall Bäume in duftiges Weiß gehüllt, überall niederwehende Blättchen, welche die Erde bedeckten wie fallender Schnee, sich den Flocken gleich auf Hüte und Kleider legend.
»Eigentlich wird's auf die Dauer ermüdend,« meinte Frau Geheimrat Brandow.
»So laß uns umkehren, Mama! Von der Veranda kannst du's bequem übersehen, wie der Frühling seinem winterlichen Bruder im weißen Kleide Konkurrenz macht.«
Als die Geheimrätin diesem Vorschlag gemäß untergebracht war, wendete sich Daga mit schelmischem Augenaufschlag an Niehuus. »Drei bilden eine Skatpartie. Wie steht's damit? Aber gewinnen dürfen Sie auf keinen Fall. Meine Mittel erlauben das nicht.«
»Bedaure unendlich, gnädiges Fräulein, die Rangordnung der Wenzel Wenzel: die Karte »Bube«. ( Anm.d.Hrsg.)ist ein dunkler Punkt in meinem Geist.«
»Aber Whist vielleicht? Darin bin ich stark, sagt Mama.«
»Leider muß ich wieder um Unkenntnis beichten.«
Daga heuchelte komische Verzweiflung. »Ja, was fangen wir dann an, wir alten Leute? Oder sind Sie nicht müde?«
»Müde? Nein, gnädiges Fräulein, und wenn ich hoffen dürfte, daß uns Frau Geheimrat auf ein Viertelstündchen beurlaubt –«
»Natürlich, Herr Niehuus, das versteht sich doch von selbst. Ich bin ja nicht leidend, daß ich der Wartung bedürfte. Nur für mich selbst bitte ich um Entschuldigung.«
»Gut,« entschied Daga, »dann ziehen wir zwei jungen Leute … oder sind wir schon alt?«
»Jung!« lachte Niehuus. »Leidenschaftlich jung!«
»Schön. Was wir sind, sind wir beide, jung oder alt, meinetwegen auch mittelalterlich. Nur daß Sie etwas voraus haben wollen, kann ich nicht zugeben. Vorwärts denn! Ziehen wir auf Entdeckungsreisen aus, ob's hier außer fallenden, Kirschenblüten noch andere Sehenswürdigkeiten giebt.«
Draußen schritten sie nebeneinander fort.
»Nicht dort hinaus,« sagte Daga, »da sind wir gewesen. Sollte es nicht möglich sein, daß sich hier herum ein Berg oder ein Thal oder sonst etwas von Bedeutung verbirgt? Ich bin hervorragend wanderlustig gestimmt. Also wie steht's mit Ihrer Geographie im Kirschenlande?«
»Schwach, gnädiges Fräulein, sehr schwach, leider. Nur vermute ich, daß dort drüben der Fluß zu suchen sein wird.«
»Nun also! Dahin, dahin –!«
»Sang Mignon nicht noch weiter, Fräulein Daga?«
Ein unbeschreiblicher Seitenblick traf den Fabrikanten, eine andere Antwort bekam er nicht.
Bald standen sie auf der Brücke, wo die Dampfschiffe anlegen. Zu ihren Füßen der schimmernde Elbstrom, hinter ihnen das blütenweiße Land voll Frühlingsduft. Aber die beiden Menschen auf der schwanken Brücke fühlten weder die Majestät des Riesen unter den deutschen Strömen, noch den würzigen Hauch des Lenzes rings umher. Sie schwiegen beide.
Dagas Herz klopfte unruhvoll. Sie wußte, weshalb sie an dieser Stelle stand, sie hatte ihre Antwort bereit. Aber das Wort, das sie erwartete, blieb aus. Wie geistesabwesend starrte Niehuus auf den Fluß hinaus. Minuten vergingen. Weshalb sprach er nicht? Hatte sie selbst, hatte ihre Mutter sich betrogen über die Absichten dieses Mannes? Der Zweifel weckte die Angst, er möchte ihr entschlüpfen mit allem, was sein war. Jetzt erst verstand sie sich selbst. Ein müßiges Spiel der Gedanken war's gewesen, daß sie ihn ausschlagen könnte. Gar nicht daran gedacht hatte sie, all ihr Sinnen und Trachten verlangte nach Reichtum, Glanz, Lebensgenuß.
Und er schwieg noch immer, machte sich vielleicht gar innerlich lustig über die Närrin, die zu entscheiden wähnte, wo er ihrer gar nicht begehrte! Dahin die Bilder von Glanz und Schimmer, versunken der gleißende Schein von Pracht und Herrlichkeit – dahin, dahin!
Beleidigter Stolz, betrogene Gier nach einem Leben in Reichtum und Luxus, Erbitterung über sich selbst und die eigene Thorheit, dazu ein Gefühl von Haß gegen den Mann, der sie demütigte durch sein Schweigen, wie er sie demütigen würde, wenn er sprach – das wogte alles durcheinander in Dagas Seele, und in dem allen doch nur das brennende Verlangen, ihn festzuhalten und mit ihm sein Gold. Er durfte sie nicht achtlos stehen lassen.
Heftig trat ihr Fuß das Holz der Brücke. Sie wendete sich ab, um die Thränen zu verbergen, die ihr der Zorn in die Augen trieb
»Daga – Fräulein Daga!«
Sie regte sich nicht.
Er legte die Hand auf ihre Schulter. »Daga, haben Sie keinen Blick mehr für mich?«
Zornig wandte sie ihm die schimmernden Augen entgegen, aber zur selben Zeit fühlte sie auch, das Spiel war nicht verloren. Der Klang seiner Worte verriet es. Mit der voraufgegangenen Erregung verband sich sogleich die schlaue Berechnung, Ihre Stimme klang rauh.
»Was wollen Sie denn von mir? Lassen Sie mich doch gehen! Gehen Sie selbst! Was soll das alles? Ich –«
Hastig trat sie nach vorn bis hart an Rand der Brücke. So sicher fühlte sie sich jetzt, daß sie den Fuß hob zum letzten Schritt, der sie hinabstürzen mußte in die grundlose Tiefe. Und so natürlich war's gespielt, daß Niehuus sie erschrocken zurückriß.
»Daga, was thun Sie?«
»Warum lassen Sie mich! Ihnen gilt's ja doch gleich und mir wäre besser. Alles vorbei! Das Herz hätte Frieden.«
»Daga, Daga! Ist's denn wahr? Darf ich's mir deuten in meinem Sinn? Ich fand ja nicht den Mut zum letzten entscheidenden Wort. Alles, was ich bin und habe, lege ich Ihnen zu Füßen. Wollen Sie nein Weib sein, Daga?«
Er ergriff ihre Hand, die sie ihm ließ; wortlos lehnte sie sich an seine Schulter. Ihre Brust bebte. Die Erschütterung war zu groß gewesen.
»Daga, sprich ein Wort!«
Endlich hob sie die Augen zu ihm auf. Noch standen Thränen darin, aber sie lächelte schon. »Du hast mich ja schon genommen. – Komm jetzt zu Mama!«