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11.

In der zweiten Augusthälfte begann das große Sterben. Nunmehr waren die bakteriologischen Untersuchungen abgeschlossen, die Zeitungen brachten die amtliche Bestätigung vom Vorhandensein der asiatischen Cholera und enthielten zugleich eine Reihe von Bekanntmachungen, welche zum Teil zur Aufklärung und Beruhigung des Publikums dienen sollten, andernteils Anordnungen zwecks Bekämpfung der Seuche zur allgemeinen Kenntnis brachten.

Außerordentliche Zeiten rechtfertigen außerordentliche Maßregeln. Die oberste Behörde ordnete an, daß nicht nur die Verstorbenen ausnahmslos in die Leichenhallen überführt werden sollten, auch wer unter irgendwie verdächtigen Umständen erkrankte, durfte nicht im Hause bleiben. Alle Aerzte waren verpflichtet, ungesäumt die in Bildung begriffenen Sanitätswachen zu benachrichtigen. Dann erschienen die freiwilligen Helfer, Männer mit starken Herzen, Männer aus allen Berufsschichten, die das Leben einsetzten im Dienst der Gesamtheit Tag und Nacht.

Auch ohne ihre Zustimmung wurden die Kranken in die schnell erbauten Baracken gebracht. Den Angehörigen stand kein Einspruchsrecht zu, vor den Forderungen des öffentlichen Wohls mußte der Wille des einzelnen verstummen. So wurde die Ueberführung in vielen – ach, gar so vielen! – Fällen zum Abschied fürs Leben. Besuch der Kranken war natürlich ausgeschlossen. Nur an der Schranke vor den Baracken durfte man sich erkundigen. Wer dort mit tröstlicher Auskunft umkehrte, fand zu Hause vielleicht schon den Totenschein vor. Verwechslungen waren ja so leicht. Und der Beamte, der auf angstvolle Fragen Rede stehen sollte, wußte meist selber nichts. Er gab auf gut Glück gute Aussicht. Aber indem man unerbittlich die Kranken von den Gesunden trennte, hoffte man am schnellsten dem Wüten der Würgerin Einhalt zu thun.


Niehuus lag da mit geschlossenen Augen. Wenn nur Daga käme! Sie mußte Nachricht bringen von seiner Mutter, vielleicht die Mutter selbst.

Und Daga kam. Sie sah seinen unruhig fragenden Blick und schüttelte langsam den Kopf. Dann glitt ihre Hand über seine Stirn.

»Nicht traurig sein, lieber Georg. Ich habe mir alle Mühe gegeben, so gern hätte ich dir die Freude gemacht, aber es gelang mir nicht, deine Mutter zu finden. Nutzlos fremde Menschen ins Geheimnis ziehen, mag ich nicht. Morgen habe ich gewiß mehr Glück.«

Die Sache war einleuchtend. Der Kranke, der selbst nichts thun konnte, mußte froh sein, daß seine Braut die Nachforschungen für ihn betrieb, und er war froh. Gerade im Hinblick auf Daga hatte so viel Scheu empfunden, und nun, wie lieb ging sie auf seine Wünsche ein! Und wie es in diesem Fall lag, war's gewiß auch in dem anderen. Sie dachte nicht bloß an sein Geld, er war ihr nicht zu alt. Alles bat er ihr ab. Mit den Fortschritten in seiner Besserung wuchs auch die Hoffnung auf eine frohe Zukunft. –

Aber auch am folgenden Tage und am dritten bekam Niehuus keine bessere Auskunft. Die alte Frau, der sein Denken zugewandt blieb, konnte nicht aufgefunden werden.

»Ein Wunder ist es nicht, Georg. Wir haben die Cholera in der Stadt, seit Tagen ist die Aufregung groß, das erschwert auch meine Nachforschungen. Niemand hat Sinn für andere Dinge, wer irgend kann, flieht nach außerhalb. Vielleicht ist auch deine Mutter abgereist. In den engen Gassen wütet die Krankheit am ärgsten; alles geht drunter und drüber.«

»Hast du Elsa gefragt? Sie war mit ihr zusammen.«

»Aber sie weiß nicht mehr als den Namen. Nur nicht die Hoffnung verlieren, Georg! Hauptsache ist, daß deine Genesung Fortschritte macht. Wenn wieder Ordnung herrscht in der Stadt, und du bist aufgestanden, dann suchen wir beide zusammen. Ich bin ja so traurig, daß ich nicht zum Ziel komme, aber ich kann's doch nicht ändern.«

Das klang alles so treuherzig teilnahmsvoll, daß der Kranke an der Wirklichkeit der Nachforschungen nicht zweifeln konnte.

»Und noch eines, Georg! Die Zeitungen enthalten Vorschriften, wie man sich gegen Ansteckung zu sichern hat. An allen Mauerecken sind große Plakate desselben Inhalts. So leicht kann ja nichts an dich heran hier im Bette, nur daß du Limonade trinkst, macht mich besorgt. Keinen Tropfen ungekochten Wassers, das ist die wichtigste Vorschrift. Ich habe es der Wärterin bereits gesagt. Befiehl's ihr auch noch einmal, aber recht ernstlich. Alles Wasser kochen, tüchtig kochen! Keinen Tropfen ungekochten Wassers darfst du genießen. Wasser ist Gift, sagt Doktor Klüwer. In den übervölkerten Gassen, wo sie das nicht beachten, fallen Tausende der Seuche zum Opfer.«

»Gerade dieser Umstand vermehrt meine Sorge um die Mutter.«

Im Geiste erwog Daga, ob's nicht am besten wäre, die alte Frau kurzweg unter die Gestorbenen zu zählen. Sie behielt dann immer noch freie Hand zu thun, was sie wollte, aber die Fragerei hatte ein Ende.

Für heute war es nun freilich zu spät, aber bis zum nächsten Vormittag wollte sie die Sache noch einmal gründlich in Erwägung ziehen.

Dagas Hinweis auf die ungeheure Sterblichkeit und die dadurch hervorgerufenen Zustände in der Stadt war allerdings geeignet, die Erfolglosigkeit ihrer angeblichen Bemühungen erklärlich zu machen, aber gegen ihren Willen bewirkte sie damit etwas anderes.

Während sie mit größtem Behagen zum Frühstücke ein Kaviarbrötchen verspeiste und ein Gläschen Wein trank, wie sie es jetzt täglich zu thun pflegte, während sie bei Niehuus war, ruhten dessen Augen auf ihrem Gesicht. Ein Heldenherz traute er seiner Verlobten nicht zu. Daß sie die Ansteckung fürchtete, trat in vielen Kleinigkeiten deutlich zu Tage. Zum erstenmal kam ihm der Zweifel, ob's ihr ernst wäre mit den versprochenen Nachforschungen. Weniger ihr guter Wille, als vielmehr die Zweckmäßigkeit ihrer Schritte war es, gegen die ihm Bedenken aufstiegen. Kontrollieren ließen sich ihre Angaben ja nicht.

Niehuus wollte Frieden haben in seinem Gewissen. Seine eigene Genesung schritt fort, aber wenn die Mutter der Seuche zum Opfer fiel, bevor er sie gefunden hatte, wenn die Versöhnung unmöglich würde, weil er nicht alles gethan, sie fortzubringen von der Stätte der Gefahr in den sicheren Frieden seines Hauses, dann lag auch ihr Tod auf seiner Seele, nachdem er sie bei Lebzeiten dem Elend überlassen. Nicht sein Verlobte, er selbst trug die Schuld an der verlorenen Zeit samt allem, was daraus hervorgehen konnte. Kränken wollte er Daga nicht, indem er Zweifel äußerte, aber ihr ferner alles allein überlassen durfte er auch nicht.

Immer wieder mußte er an Elsa denken. Sie war mit der alten Frau zusammen gewesen. Wenn er nur einmal selbst mit Elsa reden könnte, ohne daß seine Braut darum wußte.

»Daga,« sagte er, »könntest du deinen Bruder Max nicht einmal zu mir schicken?«

Ein rascher Blick aus Dagas Altgen flog zu dem Kranken hinüber. Wer auf bösen Wegen wandelt, fährt bei dem leisesten Geräusch zusammen.

»Marx, sagst du?«

»Ich möchte ihm etwas auftragen?«

»Kann ich's ihm nicht bestelle in?«

»Gerade dich betrifft es. Er soll mir etwas besorgen, was du nicht wissen darfst.«

Das klang sehr harmlos, aber Daga hatte das Gefühl, als wäre Niehuus nicht ganz ruhig, während er sprach. Sollte sich da etwas vorbereiten? Traute er ihr nicht mehr?

Sie lächelte dem Kranken zu. »Also Geheimnisse hast du auch schon vor mir? Warte nur, du Böser!«

Auf dem Heimweg zog Daga noch einmal alles kaltblütig in Erwägung.

Sie hatte abwarten wollen, gut! Aber damit war es jetzt vorbei. Je mehr Niehuus gesundete, desto regsamer wurde er. Daß er seine Absicht nicht aufgeben würde, stand fest. Was er von Max wollte, ließ sich dem Jungen schließlich abfragen, eine unmittelbare Gefahr lag nicht darin, wenn sie ihn hinschickte. Aber dem Kranken standen tausend andere Wege offen. Sobald er an dem Erfolg ihrer vermeintlichen Nachforschungen zu zweifeln begann – und wenn er's heute noch nicht that, so würde er's demnächst thun müssen – konnte er zu demselben Zweck so viel Leute in Bewegung setzen, als ihm beliebte, ohne daß sie es erfuhr. Der Ausgang stand von vornherein fest. Wie würde es aussehen, wenn anderen sogleich gelang, was sie angeblich umsonst versucht hatte? Sie mußte handeln.

Aber wie? Sollte sie die alte Frau aufsuchen, sie selber zu Niehuus bringen, und in ihrem Gefolge den Monteur? Dann mußte später geschehen, was sie besser gleich thun konnte. Und abgesehen davon machte ein Todesfall bei Niehuus viel größeres Aufsehen, setzte viel mehr Zungen in Bewegung, weckte viel leichter Argwohn, als wenn die alte Frau gar nicht erst zum Vorschein kam. Starb sie da hinten in der engen Gasse, wo jetzt Hunderte hinweggerafft wurden, starb vor allen Dingen auch Gützlaff im Verborgenen, so gab's kein Gerede und keine Frage, noch weniger eine Untersuchung. Ein paar Opfer der Cholera mehr! Die Zeitverhältnisse begünstigten ihr Vorhaben direkt, kein Mensch konnte auf die Idee kommen, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sei, und sie selbst blieb verborgen im Hintergrund. Sie besaß das Mittel und wollte es benutzen. Eine Zeit, so günstig wie diese, fand sich niemals wieder. Schon zu lange hatte sie gezögert.

Nachdem sie Max ihrem Versprechen gemäß zu Niehuus geschickt hatte, verließ sie von neuem das Hals, um in einer entfernteren Fettwarenhandlung Butter und einige geräucherte Sachen einzukaufen. Heimlich geschah's, und niemand wurde es gewahr, als sie dieselben nach der Rückkehr in ihrem Gemach verbarg.

Früher als sonst zog sie sich am Abend zurück. Nachdem sie die Thür ihres Schlafzimmers sorgfältig von innen verriegelt hatte, stellte sie die eingekauften Vorräte auf den Tisch. Die Phiole trug sie wohlverwahrt auf der Brust. Sie zog sie hervor und betrachtete den Inhalt. Aber ohne etwas davon zu benutzen, machte sie das Fläschchen wieder zu. Sie versank in tiefes Nachsinnen. Nicht vor dem Verbrechen bebte sie zurück, sondern der Weg, den sie hatte einschlagen wollen, deuchte ihr plötzlich unsicher im Erfolge und gefährlich für ihre eigene Sicherheit.

Zwei mußte sie treffen. Es war höchst unwahrscheinlich, daß der Doppelschlag gelang so aufs Geratewohl. Blieb selbst nur einer am Leben, so war nicht das geringste gewonnen, Und dann der Rest der Lebensmittel! Er weckte vielleicht doch Verdacht man untersuchte ihn. Dann fand sich das Gift, man forschte nach dem Absender des Pakets und fand leicht ihre Spur. Die Handschrift verriet sie. Einem Boten konnte sie die Sendung noch viel weniger anvertrauen. Auf diesem Wege kam sie nicht zum Ziel

Ein wenig von dem Pulver in ein Getränk gemischt, mit eigener Hand gereicht, das war das sicherste. Dann war es leicht, die Spuren zu verwischen. Wenn sie die alte Frau ins Haus holte, kam ihr Enkel von selbst dorthin. Gab es dann ein Unglück, so war die Ansteckung durch die Cholera schon vorher erfolgt.

Daga entschloß sich, Niehuus' Wunsch nun doch zu erfüllen. Sie deckte sich dadurch nach allen Seiten.

Sie barg die Phiole wieder an sich und suchte ihr Lager auf. Sie war nach allem fieberhaft erregt. Wenn's doch nur endlich erst zum Abschluß käme! Der Tod hielt Umzug in den Straßen. Dumpfes Rollen tönte unablässig von fern her, Wagen waren es. Einer folgte dem anderen in endlosem Zuge durch die Nacht. In den Wagen lagen sie still nebeneinander, die vielen, die der Tod abgefordert am Tage. Wer sie waren? – Der Tod braucht keinen Namen und keine Adresse, wenn er Umzug hält durch die Straßen.

Dumpf rollende Wagen … einer hinter dem anderen in endlosem Zuge durch die Nacht … zur Stadt hinaus nach Ohlsdorf ins Riesengrab.

Daga horchte fiebernd. Morgen naht ein neuer Wagenzug, ein neues Tausend für das Riesengrab. Der Tod hielt Umzug in den Straße – täglich jetzt. Und bald schon machten sie die Reise mit, die sich vor sie drängten auf dem Wege zu den Millionen, die Alte und ihr Enkel. Fuhr man die beiden hinaus, dann wurde sie eine reiche Frau und konnte eine reiche Witwe werden.


Max stand am Bette des Kranken.

»Wie geht es Ihnen, Herr Niehuus?«!

»Danke, Max. Was machst du selbst?«

»Wir ha jetzt feine Zeit, gar nichts zu thun, alle Schulen sind geschlossen wegen der Cholera. Die Leute sind alle so ängstlich. Ich fürchte mich gar nicht, aber Daga sehr! Es ist zum Lachen, wie sie sich anstellt.«

»Und was macht Elsa«!

»O, der geht's gut, die ist auch nicht bange, das heißt, ich hab's ihr ausgeredet. Es nutzt ja auch gar nichts. Aber Daga fürchtet sich schrecklich und thut beinahe nichts anderes, als sich die Hände mit Karbol waschen.«

»Höre mal, Max, willst du mir einen Gefallen thun?«

»Natürlich, Herr Niehuus, sehr gerne.«

»Daga ißt so gern Kaviar, und mein Vorrat ist alle geworden. Ich kann kann ja nicht gehen, und der Haushälterin mag ich's nicht anvertrauen, die versteht davon nichts. Würdest du's für mich übernehmen? Russische Marke natürlich.«

»O, das verstehe ich famos, Herr Niehuus!« rief Max stolz.

»Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen kann, Max. Natürlich möchtest du gern auch was davon?«

»Na ob! Leider kommt so etwas bei uns nicht oft vor. Russischer schon gar nicht.«

»Gut, bring mir also ein Tönnchen, und wenn du zurückkommst, bist du mein Gast.«

Der Auftrag, zu dessen Erledigung sich Max in Aussicht auf die kommenden Dinge vergnügt auf den Weg machte, war selbstredend nur ein Vorwand, den Niehuus gebrauchte, um eine andere Bestellung, die ihm besonders am Herzen lag, besser zu verschleiern. Als sich darauf der Quartaner an dem echten Astrachaner schier unheimlich gütlich that, berührte der Fabrikant endlich die Hauptsache.

»Noch eines, Max, kannst du mir Elsa nicht schnell mal herschicken? Sie soll mir auch etwas besorgen, Frauensachen, weißt du, für Daga. Aber Daga darf nicht wissen, daß Elsa zu mir kommt, sonst ist die Ueberraschung gleich verdorben … Du verstehst!«

»Gewiß! Aber – von dem Kaviar soll ich wohl auch nichts sagen?«

Niehuus mußte lächeln. Natürlich wollte Max ein bißchen renommieren. Er beeilte sich, ihn zu beruhigen.

»Warum nicht. Wenn er dir nur geschmeckt hat.« –

 

Weder Frau Brandow noch Daga waren daheim, als Max gegen Abend seine Bestellung an Elsa ausrichtete. Sie machte sich sogleich auf den Weg zu dem Kranken, und dieser ging sofort nach der Begrüßung auf sein Ziel los.

»Erinnern Sie sich noch an die alte Frau damals bei dem Ausflug? Sie stand neben Ihnen, Elsa.«

»Ach, das alte Mütterchen, Frau Neuhaus? Gewiß. Daga hat auch schon nach ihr gefragt.«

»Hat sie sonst nichts gesagt? Ich meine Daga.«

»Nein.«

»Ich möchte die alte Frau gern sehen, Elsa. Ich habe ihr etwas zu sagen. Mir liegt viel daran, daß sie zu mir kommt.«

»Aber Sie dürfen ja nur zu ihre schicken.«

»Ich weiß die Wohnung nicht.«

»Die Wohnung? Ich habe es doch Daga gesagt.«

Niehuus war sprachlos. Daga wußte also die Adresse und ließ ihn in Unruhe schon tagelang. Er faßte sich indessen, Elsa durfte nicht merken, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.

»Daga weiß nicht, was ich beabsichtige. Es handelt sich darum, daß ich die alte Frau noch heute gern hier gehabt hätte. Meine Haushälterin mag ich mit der Sache nicht befassen, darum ließ ich Sie zu mir bitten. Würden Sie mir den Gefallen thun, Elsa? Mir liegt sehr, sehr viel daran.«

»Ich gehe sogleich, Herr Niehuus.«

»Wie soll ich Ihnen danken, Elsa!«


Großmutter Neuhaus saß im altmodischen Sorgenstuhl in der Nähe des Fensters und blickte hinauf zu dem Stückchen Himmel hoch oben, das sich bereits mit abendlichem Dunkel überzog, Das alte Möbel, worin die Glieder so bequem ausruhten, entstammte ihrer einstigen Ausstattung. Sie hatte es aus der Heimat mitgebracht, um auf diesem Sitz den Erinnerungen an die Vorzeit besser nachhängen zu können. Erinnerungen pflegte sie auch jetzt. Sie sah sich draußen beim Fest, sie sah den Sohn vor sich, der sich von ihr gewendet. Hatte er sie nicht erkannt, wie sie ihn erkannt hatte? O, daß es so sein möchte! Seine Schuld wäre weniger groß.

Mit Robert hatte sie nicht gesprochen über ihr Erlebnis, er hatte sie damals nicht nach dem Erfolg ihrer Beobachtung gefragt. Nun kam der Enkel nach Hause.

»Da bist du ja, Robert, Gott sei Dank! Man freut sich immer, wenn man sich gesund wiedersieht in solcher Zeit.«

»Ich bin frisch wie ein Fisch im Wasser. Und wie geht's dir, Großmutter?«

»An mir ist nichts gelegen, meine Zeit kommt so wie so bald. Dann machen sie mir das Bett.«

»Mußt nicht immer von Tod und Sterben reden, Großmutter, davon sieht man jetzt ohnedies zuviel.«

»Gerade darum! Wer weiß, wie bald es an uns kommt.«

Robert Gützlaff schwieg einen Augenblick, aber gesagt mußte es werden.

»Ich bin aus der Arbeit getreten, Großmutter.«

»Du wirst nichts Unrechtes thun, Robert, ich weiß es.«

»An Leuten fehlt es, die Mut genug haben zur Sorge für die Kranken und für die Toten. Freiwillige Helfer sind nötig. In solchen Zeiten darf keiner an sich selber denken. Ich werde meine Pflicht thun als Bürger.«

»Seinem Schicksal entgeht niemand. Aber bevor du von mir gehst, sollst du es wissen: habe meinen Sohn gefunden, Robert. Georg Niehuus nennt er sich jetzt.«

»Großmutter, was sagst du!«

»Ich habe ihn gesehen, Robert, ich habe mit ihm gesprochen damals beim Fest – du weißt ja. Eine Mutter hat andere Augen als sonst die Leute, eine Mutter kennt ihr Kind! Georg Niehuus ist mein Sohn, Robert!«

»Und er? Hat er dich auch erkannt? Hat er …«

Mitten im Satz unterbrach sich Robert Gützlaff. Es hatte an die Thür geklopft. Er stand auf und öffnete,

Elsa stand draußen, Elsa Brandow.

»Fräulein Elsa! Sie?« rief er ganz starr vor Staunen.

»Ich bin's, Herr Gützlaff. Ich suche Frau Neuhaus.«

»Dann sind Sie hier an rechter Stelle. Bitte, treten Sie ein.«

Die Greisin blickte voll Interesse auf die Besucherin. Sie erkannte Elsa.

»O, mein liebes Fräulein, wie kommen Sie zu uns herauf?«

Mit beiden Händen drückte sie Elsas Rechte.

»Herr Niehuus möchte gern mit Ihnen reden. Werden Sie mich begleiten, wollen?« sagte Elsa.

Einen Augenblick ward's feierlich still. Der Blick der Greisin flog durch das kleine Fenster hinauf zu dem Stückchen Himmel hoch oben, von dem schon die Sterne mild und versöhnend herniederblickten. »Mein Gott, ich danke dir!« flüsterte sie mit bebenden Lippen. Dann wendete sie sich zu Elsa. »Ich bin bereit, liebes Kind.«

Robert Gützlaff zündete eine der kleinen Wachskerzen an, die er zu Leuchtzwecken beim Treppensteigen in der Tasche trug, und schritt voran. Elsa faßte die alte Frau unter den Arm. Bald hatten sie den unten harrenden Wagen erreicht.

Im Wagen saß Elsa neben der alten Frau. Robert Gützlaff hatte den Platz gegenüber.

»Sitzen Sie auch bequem?« fragte das junge Mädchen.

Die alte Frau streichelte ihr die kleinen weichen Hände. »Ein liebes Kind sind Sie und ein gutes Kind.«

Vor dem Krankenzimmer machte Robert Gützlaff Halt.

»Geh nur, Großmutter. Wir anderen bleiben hier.«

Nachdem sich die Thür geschlossen hatte, sah er Elsa mit bewegtem Ernst ins Gesicht. »Es ist besser, Mutter und Sohn bleiben vorerst allein.«

Mit starrem Befremden schaute Elsa zu ihm auf. »Mutter und Sohn? … Herr Gützlaff, was sagen Sie? Das ist doch nicht möglich.«

»Er hat den Namen ein wenig verändert in der Fremde, er heißt Neuhaus. Es ist, wie ich Ihnen sage.«

»Und all die Zeit, all die Jahre – die Mutter in Dürftigkeit, er in Reichtum und Ueberfluß. O, Herr Gützlaff! – Und darum hat er nach ihr verlangt, jetzt, da er krank ist?«

»Ja, Fräulein, darum!«

Sie konnte es noch immer nicht fassen. »Also darum, darum! Mich fröstelt, Herr Gützlaff. Eiskalt wird mir in der Brust, wenn ich es bedenke. Was giebt es für Menschen, was giebt es für Herzen!«

»Ja, leider ist nicht alles in der Welt so, wie es sein sollte,« sagte er, um doch etwas zu sagen. »Aber nun leben Sie wohl, Fräulein. Ich habe mich als freiwilliger Helfer in den öffentlichen Dienst gestellt. Doppelt erwünscht ist es mir lebt, daß ich die Großmutter hier wohl geborgen weiß. Ich gehöre vorläufig zur Sanitätswache des Doktor Klüwer. Meine Pflicht beginnt. Ich werde täglich fragen, wie es hier geht. Leben Sie wohl!«

Elsa sah ihn treuherzig an. »Ich weiß, was Sie thun werden, Herr Gützlaff, ich las den Aufruf in der Zeitung, Zurückhalten will ich Sie nicht, o nein, im Gegenteil. Ich wünschte, viele thäten wie Sie. Aber nicht wahr, Herr Gützlaff, Ihnen passiert nichts?«

»Keines Menschen Leben ist gefeit, aber die Sorge darum darf uns nicht hindern, zu thun, was recht ist. Ich hoffe Sie wiederzusehen, Fräulein Elsa.«

Robert Gützlaff verließ das Haus und ging, wohin die freiwillig übernommene Pflicht ihn rief. Sie führte ihn hinaus in ein Meer von Thränen, die er nicht trocknen konnte, sie häufte vor seine Füße Berge von Leid und Schmerz und Klage, über die er unbeirrt hinwegschreiten mußte, sie forderte täglich und stündlich, daß er sein eigenes Leben in die Schanze schlug, um der Barmherzigkeit willen.

Drinnen aber im Zimmer des Kranken ließen Georg Niehuus' Augen die Greisin nicht mehr los. Nun stand sie dicht an seinem Lager.

»Mutter – Mutter, vergiß! Vergieb!«

Ihre Hand glitt über seine Stirn, zitternd und zärtlich. Thränen rollten über die gefurchten Wangen, die Lippen bebten. Vergessen war das Leid, vergessen, alles, alles! Nur die Liebe blieb, die verzeihende Liebe der Mutter. Ein unbeschreiblicher Laut entrang sich ihrer Brust. Sie breitete die Arme aus, beugte sich über ihn, ihr Mund berührte seine Stirn.

»O Georg, mein Sohn! Mein lieber Sohn!«



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