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12.

Zum erstenmal, seit er den Anfall erlitten, schlief Georg Niehuus ruhig und friedlich die ganze Nacht. Seine Mutter war bei ihm. Er war mit ihr und mit sich selbst versöhnt, so schlief er weit in den Morgen hinein.

Auf den Zehenspitzen trat Großmutter Neuhaus an sein Lager, Er schlief noch immer. Da beschloß sie, die günstige Zeit zu benutzen, um sich in ihr Wohnung ein wenig mit Kleidern zu versehen. In der Eile am Abend zuvor hatte sie nicht einmal das Allernotwendigste mitgenommen.

Die Nachbarin eine Treppe unter ihr hatte die Ausgangsthür nur angelehnt. Sie hörte die alte Frau nach oben steigen.

»Da sind Sie ja, Frau Neuhaus. Ich dachte schon, Sie kämen gar nicht wieder. Gott, mein Gott, was für Zeiten das sind! Von der anderen Seite haben sie schon wieder ein paar abgeholt mitten in der Nacht. Die junge Frau auch, Sie wissen ja, vorige Woche war Hochzeit. Mein Gott, wenn man das so denkt! Da weiß ja kein Mensch mehr wann die Reihe an einen selber kommt. Sie sind wohl gar nicht zu Hause gewesen letzte Nacht?«

»Nein, Robert hat sich als freiwilliger Helfer gemeldet, ich bin bei Bekannten geblieben.«

»Wie ist das bloß schrecklich, wenn die Menschen so abgeholt werden! Wie einer gerade ist, wenn er aus dem Bett oder von der Arbeit kommt, nehmen sie ihn mit. Wer schon besinnungslos ist von der Krankheit, dem binden sie einen Zettel an die Zehe. Es ist bloß, daß sie nachher wissen, wen sie begraben. Ein paar Hundert und noch mehr sind's jede Nacht, die sie hinausfahren nach Ohlsdorf. Mein Mann sagt, sie thun's der Leute wegen im Dunkeln. Wenn sie die vielen Wagen sehen am Tage, werden sie noch aufgeregter. Zu schrecklich, zu schrecklich! Und Robert ist nun da mitten drin?«

»Was der liebe Gott schickt, muß man tragen. Einen Tod kann der Mensch bloß sterben.«

»Das wohl. Aber so! Wenn man's denkt, kann man vor Angst schon krank werden.«

Großmutter Neuhaus verabschiedete sich und ging in ihre Wohnung hinauf. –

 

Inzwischen erwachte Niehuus. Der ruhige feste Schlaf hatte den Kranken wunderbar gekräftigt. Daß seine Seele sich entlastet fühlte, vermehrte sein Wohlbefinden. Mit bemerkenswerter Frische erkundigte er sich nach seiner Mutter.

Die alte Frau war von ihrem Gange noch nicht wieder zurück.

Niehuus war es recht. Der Gedanke an Daga legte sich auf seine Seele. Wenn sie kommen würde, sollte sie der alten Frau nicht sogleich begegnen, erst wollte er selbst mit seiner Verlobten sprechen, wollte hören, wie sie den Widerspruch aufklärte, daß ihr in Tagen nicht gelang, wozu Elsa kaum zwei Stunden gebrauchte.

Draußen klang die Glocke. Daga kam. Zugleich mit ihr brachte die Haushälterin das Frühstück herein Weiße Brötchen, Butter, Kaviar und was sonst erforderlich war, alles sauber und appetitlich zugerichtet.

Wie immer begann Daga mit größtem Behagen zu speisen, Während sie aß, und Georg Niehuus ihr zusah, wurden nur kurze Bemerkungen gewechselt Noch hatte der Kranke mit keiner Silbe seiner Mutter Erwähnung gethan.

Nun ruhten Messer und Gabel.

»Daga!«

»Was willst du mir sagen, lieber Freund?«

»Meine Mutter ist hier.«

Daga wurde blaß bis in die Haarwurzeln. Dann schoß ihr das Blut ins Gesicht. Keines Wortes mächtig stand sie da, eine überführte Sünderin.

»Deine – deine Mutter? Hier … bei dir? Wie ist das möglich?«

»Elsa hat sie mir gebracht.«

»Elsa!«

Kochende Wut flammte auf in Dagas Herzen. »Elsa!« Sie sagte es noch einmal … heiser. Die Gedanken jagten sich in fiebernder Hast. Gestern schon mußte es geschehen sein. Heute war Elsa noch nicht aus dem Hause gewesen. Und verschwiegen hatte sie's ihr, die Falsche, die Heimtückische! Sie hatte die alte Frau hergebracht, damit der junge Mensch ihr folgen konnte, mit dessen Hilfe, an dessen Hand sie sich einzunisten gedachte im Besitz, im Erbe der Schwester. Mochte er kommen! Sie war gerüstet … Herrin des Schicksals! Sie würde handeln ohne Zeitverlust. Wenn er nur bald käme! Aber zuvor mußte Niehuus eine Erklärung haben. Sie strich mit der Hand über die Stirn. Ruhe, Fassung! Lügen sind wohlfeil.

»Was wolltest du sagen, Daga?«

»Wenn deine Mutter schon hier bei dir ist, wenn Elsa sie herführte, geschah es gegen meinen Willen. Ich leugne es nicht, ich wußte die Adresse. Ich hätte dir die Mutter bringen können, aber ich wollte es nicht. In jener Straße wütet die Cholera entsetzlich. Frage deine Mutter, sie wird's bestätigen.«

Immer sicherer wurden Dagas Worte, immer höher richtete sie sich auf.

»Die Ansteckung wollte ich fern von dir halten. Ich habe dich lieb, ich habe mein Leben an das deine gebunden, ich will dich nicht verlieren, Georg. Darum handelte ich, wie ich gehandelt habe. Ich täuschte dich, um dein Leben nicht in Gefahr zu bringen. Hast du deine Mutter dreißig Jahre nicht vermißt, konntest du sie auch noch etliche Tage entbehren, bis die Gefahr vorüber ist. So dachte ich. Du warst krank, du bist es noch. Ich glaubte für dich denken, zu deinem Besten handeln zu sollen. Hinausschieben wollte ich die Vereinigung, nicht sie verhindern. Nun ist's geschehen ohne mich, ich kann's nicht ändern. Vergieb, wenn ich gefehlt habe, ich kann nur noch wünschen, daß meine Befürchtungen sich nicht in diesem Hause erfüllen.«

»Du hast gefehlt, Daga.«

»Ich glaube es, da du es sagst. Aber wär's noch einmal zu thun, ich thäte es wieder – aus Liebe zu dir! – Und nun – deine Mutter ist hier – ich möchte sie begrüßen.«

»Sie ist noch einmal nach ihrer Wohnung gegangen, hörte ich. Lange wird's nicht dauern, bis sie zurückkommt.«

»Dorthin darf sie nicht mehr, Georg. Wenn sie nun mit uns lebt, soll sie hier bleiben … immer! Ich habe es wiederholt gesagt, in jener Straße wütet die Krankheit grauenerregend. Deine Mutter darf uns nicht jeden Tag neu die Ansteckungsgefahr ins Haus bringen. Du hast mir dein Leben versprochen, ich will und muß es mir erhalten.«

Draußen schlug die Glocke an

»Da ist sie schon,« sagte der Kranke.

Die alte Frau kam herein. Daga ging ihr einige Schritte entgegen.

»Ich erfuhr schon alles von Georg, Mutter! Sie bleiben nun bei uns. Seien Sie auch mir herzlich willkommen!«

Die alte Frau ergriff warm Dagas Hand. »Ihr seid alle so lieb zu mir, ich weiß gar nicht, wie ich das gut machen soll.«

»Ach, Mutter, es ist ja nur selbstverständlich,« lächelte Daga und fügte dann ernster hinzu: »Aber nach der Straße, in der Sie bisher wohnten, gehen Sie nun nicht mehr, nicht wahr? Sie versprechen es mir? Hier ist ja reich für Sie gesorgt.«

»Ja, ja, ihr seid gut. Aber für mich braucht keiner zu sorgen, Kind. Für mich wird unser Herrgott bald genug sorgen. Bis dahin reicht's wohl, was Robert verdient. Wenn sein Dienst als Krankenträger vorüber ist, bleibe ich wieder bei ihm. Zur Last sein will ich keinem.«

»Mutter!« rief Niehuus.

»Ich will dir ja nichts Schlimmes sagen, Georg. Im Gegenteil! Mein einziger Wunsch, den ich noch hatte, ist jetzt erfüllt. Ich habe dich wiedergesehen, ich weiß, wie es dir geht, und daß du eine liebe Frau bekommst. Aber in dein Haus passe ich nicht, wenn du wieder gesund bist. Willst du etwas thun, und kannst du etwas thun, dann laß es Robert zu gute kommen. Er ist noch jung, er hat das Leben noch vor sich. In dein Haus passe ich nicht, da ist alles viel zu fein und vornehm für mich – dein Haus und du selbst und deine Braut auch.«

»Mutter, sagen Sie doch das nicht!« versetzte Daga. »Sie sind uns ja allen herzlich willkommen, und fort dürfen Sie nicht wieder.«

»Laß nur, Kind, ich weiß es ja, ihr meint es gut. Aber was sich für mich schickt, weiß ich auch. Nun will ich erst hinausgehen und meine Hände in Karbol waschen, wie das ja jetzt Sitte ist. Dann komme ich wieder herein.«

Daga war mit Niehuus allein. »Du solltest jetzt ein wenig ruhen, Georg, das Sprechen strengt dich an, regt dich auf. Lauter Dinge, die der Arzt verboten, hat. Also Augen zu und still gelegen, lieber Freund!«

Sie selbst wählte ihren Platz in der Nähe des Fensters derart, daß ihr Gesicht der Beobachtung entzogen war. Dann blieb es lange still im Zimmer, aber in Dagas Brust stürmten die Gedanken.

Sie durfte nicht mehr zaudern, nicht mehr überlegen. Notwehr war es, was sie thun wollte, Pflicht der Selbsterhaltung! Wenn Robert Gützlaff nur bald käme! Sie selbst wollte ihm den Willkomm bieten.

So saß Daga in finsterem Brüten am Fenster. Ihre Blicke gingen durch die Scheiben auf die Straße. Plötzlich fiel ihr ein bekanntes Gesicht auf. Robert Gützlaff näherte sich dem Hause, um nach der Großmutter und dem Kranken zu fragen, wie er es versprochen hatte.

Dagas Hand, krampfhaft zur Faust geschlossen, stützte sich schwer auf das Fensterbrett. Ihre Zähne preßten sich hart aufeinander. Gut denn! Die Stunde des Schicksals war da.

Sie begab sich ins Zimmer jenseits des Flurs, wo der Wein stand. Eine Flasche nahm sie hervor und zwei Gläser. In eines derselben fiel ein Teil des weißer Pulvers aus der Phiole. Ja nicht zu viel! Sie mußte haushalten, und die Wirkung durfte erst eintreten, wenn er wieder fort war.

Als die Glocke ertönte, winkte Großmutter Neuhaus den Enkel nach der Küche.

»Die Braut ist drinnen, wir wollen nicht stören.«

Daga vermutete den Zusammenhang und ging gleichfalls hinaus.

»Ich gewahrte Sie schon auf der Straße, Herr Gützlaff. Den neuen Verwandten muß ich doch auch begrüßen.«

Die Hand reichte sie ihm nicht. Sie fürchtete sich.

Gützlaff hatte wenig Zeit. Nur nachsehen wollte er, wie es der Großmutter gehe und dem Onkel.

»Aber ein Glas Wein dürfen Sie nicht ausschlagen,« sagte Daga. »Kommen Sie nur!« Sie schritt ihm voran und trat zuerst ins Zimmer. Als Robert Gützlaff den Tisch erreichte, hatte sie bereits ein Glas gefüllt. Das andere goß sie nur zur Hälfte voll und nahm es selbst in die Hand.

»Auf das Wohl des Kranken, Herr Gützlaff.«

»Und auf Ihr eigenes, gnädiges Fräulein.«

Jeder leerte sein Glas, und Daga zitterte nicht, während sie trank.

Eine Minute später befand sich Robert bereits wieder auf dem Wege zur Sanitätswache wohin die Pflicht ihn rief.

Daga überlegte. Die Gläser mußten gereinigt werden, um die Spur zu vertilgen, ohne Zeitverlust. Sollte sie selber es thun! Das wäre aufgefallen. Aber auffallen durfte nichts in ihrem Thun, nicht das Geringste.

Sie ging nach der Küche und gab der Haushälterin ihren Auftrag. Sie verweilte, bis er ausgeführt war.

Dann atmete sie auf.


»Sie bleiben länger, als ich dachte, Gützlaff, die Arbeit drängt,« rief Doktor Klüwer dem Ankommenden entgegen.

»Entschuldigen Sie nur, Herr Doktor, es ging nicht schneller. Ich weiß gar nicht, wie mir geworden ist auf dem Herweg.«

»Sie wollen doch nicht krank sein? Das fehlte noch! Was haben Sie denn?«

»Mir ist so übel, mein Magen schmerzt, ich glaube, ich habe die Cholera.«

»Das fehlte gerade noch!« rief Doktor Klüwer.

Aber ehe er auf den Erkrankten zutreten konnte, wurde dieser leichenblaß, sank um und erbrach sich heftig.

Der Arzt erschrak. Das waren allerdings charakteristische Merkmale der beginnenden Cholera. Aber während er sich über den Kranken beugte, stieg ein eigentümlicher knoblauchartiger Duft zu ihm auf, und er stutzte. Was war das?

»Mensch, was haben Sie genossen unterwegs?« rief er.

»Nichts als ein Glas Wein,« lallte Robert.

»Wo?«

»Bei Herrn Niehuus.«

»Wer reichte es Ihnen!«

»Dessen Braut.«

Doktor Klüwer erblaßte. Also doch! Das fehlende Arsenikfläschchen!

»Sie sind ver …«

Er unterbrach sich. Das kam nachher.

»Sie sind krank, Gützlaff, aber es ist nicht die Cholera. Hier nehmen Sie. Nur ruhig, noch ist nichts verloren. Ein Glück, daß Sie sich erbrochen haben. – Hier, nehmen Sie!«

Und nun begann Doktor Klüwer mit aller Energie die Mittel anzuwenden, welche die ärztliche Kunst zur Entfernung des Giftes aus dem Körper an die Hand giebt.



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