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Großmutter Neuhaus fühlte das Bedürfnis, allein zu sein. War er's – war er's nicht? Ihr Herz sagte ja, der Verstand antwortete nein. So blieb ihr nichts als ein unbestimmtes Ahnen, gepaart mit quälender Unruhe. Volle Gewißheit schaffen konnte nur eine gerade Frage, der eine ehrliche Antwort folgte. Aber wie durfte das Mütterchen im schlichten, altmodischen Gewande, die Frau aus der Dachstube im Arbeiterviertel hintreten vor den reichen, hochmögenden Mann, der über so viele Mensch gebot, mit der Frage: »Bist du mein Sohn?« Das wäre Wahnsinn gewesen,
Großmutter Neuhaus mußte Rat halten allein mit sich und ihrem Herzen. So ging sie in das stille Gehölz, das sich an den großen Garten des Restaurants anschloß. –
Nach der Rede hätte Elsa dem Monteur gern ein freundliches Wort gesagt. Vielleicht war's doch zu hart, wie sie zu ihm gesprochen hatte vordem. Aber sie sah Daga mit Gützlaff reden und wendete sich fort. Später ward sie unbemerkt Zeuge, wie Lilli und ihr Vater freundlich thaten mit dem Mann, der ihnen fremd war. Ihr wurde gar traurig zu Sinn. Vereinsamt kam sie sich vor. Am liebsten hätte sie sich herzlich ausgeweint.
Elsa suchte die Stille, wie Großmutter Neuhaus die Stille vor ihr gesucht,
Im Garten gab's kein Plätzchen, wohin nicht fröhliche Menschen drangen, welche Kühlung und Erholung suchten vom Tanz So schritt sie in das Gehölz. Musik und heiteres Lachen verstummten hinter ihr, es ward still um sie her. Und so wohl tat die Stille dem bedrückten Herzen.
Unter den Zweigen einer breitästigen Buche hatte Großmutter Neuhaus ein Plätzchen gefunden, eine kleine Erhebung des Bodens bildete eine natürliche Bank.
Elsa blieb stehen. Sie kannte die alte Frau nicht, aber nach ihrem Feiertagsanzug schien dieselbe zu der Gesellschaft im Garten zu gehören.
»Na, Großmutter, so ganz allein?« sagte Elsa freundlich.
Die alte Frau wendete ihr das Gesicht entgegen, in den Wimpern hingen zwei blinkende Tropfen,
»Was voll ich da drin, wo sie tanzen und singen?
Ich sehe zu, wie die Sonne untergeht, das paßt sich besser für mich. Bald ist es Nacht, dann giebt's Ruhe,und wem die Sonne nicht mehr aufgeht, der hat Ruhe. Das ist das letzte, was eine alte Frau sich wünschen darf, und auch das beste. Aber Sie, Fräulein! Ihre Sonne geht erst auf. Gefällt's Ihnen nicht da, wo's fröhlich hergeht?«
»Auch wer jung ist, ist manchmal allein mitten im Haufen.«
»Glauben Sie's nicht, Fräulein, Wenn die Sonne drauf scheint, sehen die Wolken am schwärzesten aus. Aber das macht nichts, Nachher sind's doch bloß Schauer, die vorübergehen, und dann wird's um so heller und wärmer. Aber wer in den Winter hineingeht, der läßt alle Blumen hinter sich. Vor Ihnen blüht's noch allerwegen auf, Sie wissen noch gar nicht wie schön.«
Die alte Frau unterbrach sich selbst und rückte zur Seite, daß ein bequemer Platz neben ihr frei wurde.
»Was mache ich nun bloß! Ich rede und rede und lasse Sie ruhig stehen vor mir. Genierlich braucht's Ihnen nicht zu sein neben einer alten Frau. Es sieht uns ja niemand.«
»Warum soll man uns nicht zusammen sehen? Ich setze mich gern ein bißchen zu Ihnen.«
Die alte Frau wiegte bedächtig den Kopf. »Das sagt sich so leicht, und Sie glauben's am Ende auch selber. Richtig ist es darum doch nicht. Weil ich alt bin und grau, darum reden Sie freundlich mit mir. Süße ich hier in diesen Kleidern und hätte runde rote Backen, ich meine, wenn ich ein junges Mädchen wäre wie Sie selbst, dann gingen Sie wohl an mir vorbei. Die Welt ist nun einmal so, das läßt sich nicht ändern. Menschen sind wir ja alle, das bestreitet keiner, aber wo sie sich begegnen, sieht einer dem anderen nach den Kleidern, ob sie zu einander passen, und nach den Händen, ob sie weich oder hart sind. Reiche und Arme sind Oel und Wasser, sie mischen sich nicht. Drüben im Garten sind sie auch. Durcheinander geschüttelt werden sie wohl, aber vereinigt nicht. Jedes bleibt für sich. Immer ein Tröpfchen Oel und ein Tröpfchen Wasser gesondert. Lassen Sie's stehen bis Morgen, dann schwimmt das Oel wieder oben, und das Wasser ist unten. Sehen Sie, Fräulein, Sie sind im Wagen gekommen, wir anderen mit der Eisenbahn, das trennt schärfer wie ein Messer. Und wenn eine Mutter ihr verlorenes Kind sieht auf der anderen Seite, sie würde nicht angenommen.« Elsa blickte die alte Frau betroffen an. War ihr nicht derselbe Gedanke heute schon einmal entgegengetreten? Nur fehlte den Worten der Greisin die Schärfe. Sie nahm die Verhältnisse ruhig hin, wie sie lagen, während der andere sich dagegen empörte.
Damit waren Elsas Gedanken wieder bei Robert Gützlaff.
»Haben Sie den jungen Herrn gesehen, der vorhin die Rede hielt?« fragte sie.
»Ja, Fräulein. Was ist mit ihm?« versetzte Frau Neuhaus.
»Ich wollte nur sagen, daß Sie doch unrecht haben mit Ihrer Meinung, reich und arm käme nimmer zusammen. Ich sah ihn in der Laube Wein trinken mit den Herrschaften, ich sah ihn tanzen mit ihren Töchtern. Keiner schämte sich seiner Gesellschaft, So geniert's auch mich nicht an Ihrer Seite, Großmutter.«
»Morgen wird Wasser wieder unten sein, und Oel oben schwimmen.«
»Sie sind gar nicht lieb, daß Sie mir das sagen, Kennen Sie Herrn Gützlaff?«
»O gewiß, Fräulein, bin ich doch seine Großmutter.«
»Robert Gützlaff ist Ihr Enkel?«
»Wundert Sie das? Aber nun sagen auch Sie, kennen Sie Herrn Niehuus?«
»Meine Schwester ist seine Verlobte.«
Elsa war halb abwesenden Geistes. »Seine Großmutter! Seine Großmutter!« Immer wieder klang's durch ihre Seele.
Und in demselben Augenblick dachte Großmutter Neuhaus: »Seine Schwägerin!«
Die Greisin und die junge Dame sahen einander wortlos an. Jede wußte nur von sich selbst, welch tieferes Interesse sie persönlich mit der anderen verband, und da im Gefühl dieses Interesses zwei Hände tastend einander suchten, mußten auch zwei Hände sich finden.
Dann saßen die beiden, an Jahren kaum mehr verschieden als an Lebenserfahrung, einträchtig bei einander. Gesprochen wurde von diesem und von dem, wer aber genauer zugehört hätte, mußte bald bemerken, daß zwei Namen auch dann immer wiederkehrten, wenn andere Sterbliche gar keinen Faden sahen, der zu Robert Gützlaff oder Georg Niehuus hinführte. Aber ganz von ihrem eigensten Interesse in Anspruch genommen, merkte keines von beiden, welcher von den zwei Namen der anderen am meisten im Sinn lag.
Andächtig hörte Elsa zu, als die Greisin erzählte, wie sie lebte, wo sie lebte, und daß sie die Sonne so selten sehe.
»Da geht sie eben unter!«
Großmutter Neuhaus und Elsa sagten es gleichzeitig. Sie standen auf vom Rasen unter der Buche. Schweigend sahen beide dem flammenden Schauspiel zu. Als der letzte Strahl versunken war, atmete Elsa auf. »So groß und so erhaben, und doch so sanft und mild!«
Gemeinsam traten sie den Rückweg zu dem Garten an.
Da hatten sie eine auffällige Begegnung.
Niehuus hatte überall nach der alten Frau ausgeschaut. Je länger er suchte, desto sicherer fühlte er sich. Plötzlich, am Eingang des Gartens, sah er sie mit Elsa unmittelbar vor sich. Er stand wie vom Donner gerührt.
Also doch! Sie war es! Seine Mutter stand leiblich vor ihm, kein Trugbild seiner aufgeregte Sinne.
Entsetzt starrte er auf die alte Frau. Zu sicher hatte ihn ihre zeitweilige Abwesenheit gemacht. Nun stand sie vor ihm. Nun war sie es doch!
Alles Blut strömte nach seinem Herzen, daß es schmerzend zuckte unter der Last. Ins Hirn schoß der glutheiße Strom. Wie im Kreise ging's drinnen herum. Vor seinen Ohren sauste es. Er rang nach Atem und Fassung. Was mußte Elsa denken, wenn sie ihn so sah! Seine Blicke flohen die alte Frau.
»Sie hier, Elsa? Und alleine?« stieß er hervor. »Man wird Sie vermissen – drinnen beim Tanz.« Heiser und abgebrochen klang es aus seiner Kehle.
»Vermissen? Mich? Wohl kaum. Und allein bin ich keineswegs, ich habe mit Frau Neuhaus den Sonnenuntergang gesehen dort hinten am Walde. Es war sehr schön.«
Frau Neuhaus! So trifft der letzte schrille Glockenklang das Ohr des armen Sünders, wie dieser Name den Fabrikanten.
»Frau – Frau« – er wollte lächeln. »Ich muß mich ein wenig erkältet haben, die Luft wird doch wieder kühl am Abend – Neuhaus heißen Sie?«
»Ja, Herr. Mein Mann war Schlosser – Schlossermeister Neuhaus. Er ist nun schon lange tot. Bloß mein Enkelkind lebt noch. Lenchen war seine Mutter. Sie ist auch schon tot und ihr Mann auch. Ich bin ganz allein übrig geblieben aus der alten Zeit, ganz allein und einsam. Wenn Robert sich nicht um mich kümmerte, mein Tochtersohn, dann hätte ich keinen Menschen mehr auf der Welt, keine einzige Seele, dann müßte ich im Armenhaus wohnen.«
Nur eins konnte Georg Niehuus noch denken. Seine Braut – seine schöne junge Braut und diese alte Frau! Die beiden durften sich niemals begegnen, niemals kennen. Seine Stimme klang rauh.
»Das – das ist ja sehr – ja sehr traurig, was Sie da sagen.«
Und nun griff die Greisin nach seiner Hand. Sie faßte dieselbe, bevor er's hindern konnte und streichelte sein weiches Fleisch mit den knochigen, arbeitsharten Fingern. Und indem sie es that, kamen Worte über ihre bebenden Lippen, Worte, die wie Feuer in seine Seele drangen.
»Gefreut hat's mich, daß Sie nun Direktor geworden sind, Herr, aus tiefer Seele gefreut! Und Ihre schöne junge Braut habe ich auch gesehen. Werden Sie nur recht glücklich, Herr, recht, recht glücklich! Und möchten Sie recht viel Freude an Ihren Kindern erleben! Es ist so traurig, einsam und verlassen zu sein, wenn man alt wird. Möchten Sie's nie erfahren, Herr, wie weh das thut! Ich bin ja nur eine alte Frau, aber vielleicht hilft es, wenn ich den lieben Gott bitte, daß er Sie glücklich werden läßt.«
Das war zu viel. Georg Niehuus ertrug's nicht mehr. Er eilte fort, entfloh vor der Mutter.
Elsa sah ihm befremdet nach. Befremdet blickte sie auf die alte Frau an ihrer Seite.
Großmutter Neuhaus zerdrückte eine Thräne in ihren Augen. Ihre Lippen zitterten, während sie sprach.
»Sie müssen sich nicht wundern, liebes Kind. Vielleicht hat er auch eine alte Mutter gehabt, an die er hat denken müssen. Und ich … ich hatte auch einmal einen Sohn, lange ist's her. Nun habe ich keinen mehr … Gehen Sie nur, liebes Kind, gehen Sie nur! Ich finde wohl irgendwo ein Plätzchen.«
Doktor Klüwer war endlich eingetroffen, Strahlend hing sich Lilli an seinen Arm und schritt mit ihm durch den Garten.
»Siehst du dort den stattlichen Monteur, Hermann?«
»Jawohl, Lieb. Was ist mit dem?«
»Ich interessiere mich für ihn.«
»O weh! Das giebt ein Unglück!«
»So höre doch zu! Kannst du mich nicht ausreden lassen?«
»Ich bin stumm, stumm, aber eifersüchtig.
»Also er interessiert mich, und darum sollst du zeigen, daß du auch liebenswürdig sein kannst.«
»Ihr Vertrauen ehrt mich, gnädiges Fräulein.«
»Abscheulich bist du! Wenn ich das geahnt hätte –«
»Würdest du den Monteur genommen haben, ich verstehe schon.«
Lilli sah ihn mit komischer Verzweiflung an, »Hermann, du bist ein Spötter, ein gräßlicher Spötter! Und die Sache ist doch so ernst. Wir reden also jetzt Herrn Gützlaff an – so heißt er nämlich – wir bleiben bei ihm stehen, wir schleppen ihn mit, kurz, er darf uns auf keinen Fall entwischen, bis wir Elsas habhaft werden. Und dann müssen die beiden tanzen. Hörst du, Hermann, und hast du das richtig verstanden?«
»Aufzuwarten! Tanzen müssen sie, dieweil die Sache gar so grausam ernsthaft ist. Sehr wohl, mein Fräulein.«
Lilli machte die Herren miteinander bekannt, und Doktor Klüwer war wirklich recht liebenswürdig. Das ganze Gesicht seiner Braut leuchtete vor Vergnügen. Nebenbei vergaß dieselbe auch nicht, fleißig nach Elsa auszuschauen.
Endlich ward sie ihrer gewahr. Kurz vorher hatte sich Elsa von Großmutter Neuhaus getrennt.
Lilli machte ihrem Verlobten ein heimliches Zeichen, dann ließ sie die Herren allein. Sie näherte sich Elsa, verwickelte sie im Gehen in ein Gespräch, und ehe die Ahnungslose noch die Absicht durchschaute, sah sie sich Auge in Auge mit Robert Gützlaff, den ihr Lilli alsbald mit dem ernstesten Gesicht förmlich vorstellte.
Purpurrot im Gesicht gab Elsa der Wahrheit die Ehre. »Wir kennen uns bereits. Du weißt es ja, Lilli.«
Diese heuchelte die größte Unbefangenheit. »Richtig, ich erinnere mich, vorhin im Garten sprachst du davon. Da sich also die Herrschaften kennen – wir sind jetzt zwei Paare, wie steht's, meine Herren? Hören Sie nur, wie der Walzer lockt!«
Sie nahm den Arm ihres Verlobten und blieb zuwartend stehen. Wer genauer zugesehen hätte, konnte ihr die innere Befriedigung vom Angesicht lesen, daß die List gelungen war. Aber weder Elsa noch Robert Gützlaff befanden sich augenblicklich in der Gemütsverfassung, physiognomische Studien zu machen. Möglich wär's ja, daß der Monteur an seinen feierlichen Ausspruch dachte, heute gar nicht mehr zu tanzen. Möglich auch, daß er den Zusammenhang der Dinge ahnte. Aber unter den obwaltenden Umständen durfte er nicht zögern: Er verbeugte sich vor Elsa und that's nicht ungern. Hoch erglühend nahm sie seinen Arm.
Dann wirbelten die vier zwischen den anderen Paaren dahin.
»Lilli, mir graut vor dir,« raunte Doktor Klüwer seiner Verlobten während des Tanzes zu. »Du bist eine vollendete Intrigantin.«
Sie lachte leise auf. »Es thut so wohl, ein bißchen Vorsehung zu spielen. Sie sind so unbeholfen, die zwei.«
Als die Musik verstummte, schritt Robert Gützlaff an Elsas Seite zum Garten. Jetzt oder nie war die Zeit, das befreiende Wort zu sprechen.
»Verzeihen Sie mir, Fräulein Elsa. Ich war ein Thor!
»Zu verzeihen habe ich Ihnen nichts. Sie waren auch kein Thor. Ich habe einiges gelernt, seit wir zuletzt miteinander sprachen. Und wissen Sie von wem? Von Ihrer Großmutter.«
»Sie kennen sie?«
»Ja, wir haben uns lange miteinander unterhalten, hinten am Waldsaum.«
Robert Gützlaff hielt die kleine weiche Hand noch in der seinigen. Er drückte sie warm. »Ich danke Ihnen herzlich, Fräulein Elsa.« –
Ein Kellner kam eilig aus dem Hause vorn. Suchend schritt er durch den Garten. Als er Doktor Klüwer gewahrte, trat er auf ihn zu.
»Der Herr Doktor möchten sich nach vorn bemühen! Herr Direktor Niehuus ist plötzlich unwohl geworden. Es möchte aber kein Aufsehen gemacht werden.«