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5.

Beim Abendessen saß Robert Gützlaff seiner Großmutter gegenüber am niedrigen Tisch. Er legte den Löffel fort.

»Großmutter,« sagte er, »denke dir, heute habe ich beinahe gelacht.«

»Wer jung ist, will lachen und darf lachen. Ich freilich lache schon lange nicht mehr.«

»O doch, Großmutter. Weißt du, gestern –«

»Gestern hätte ich auch den halben Aal noch nicht gesehen.«

»Welchen Aal?«

»In der Wasserleitung … tot natürlich und halb verfault. Mich schaudert, wenn ich daran denke. Thür und Fenster habe ich aufgesperrt nach frischer Luft, aber das hilft ja hier auch nicht viel. Schon über acht Tage hatte ich's gemerkt, daß das Wasser nicht ordentlich lief, bis gestern das Tier herauskam, aber bloß halb. Die andere Hälfte sitzt wohl noch fest. Und das trinkt man dann, Robert!«

»Mußt das Wasser kochen, Großmutter, dann schadet es nichts.«

»Aber trinken mag's auch keiner gekocht.«

»Wenn du Kaffee daran thust, schmeckt man es nicht.«

»Ueberall klagen sie im Hause, auch nebenan, auch gegenüber. Jeden Tag kommt etwas aus der Leitung, tote Fische sind nicht mal das Schlimmste. Und das Wasser trinken sie. Dabei kann man nicht gesund bleiben, Robert. Du sollst nur sehen, das Unglück kommt. Und ich möcht' nicht sterben, bis ich Gewißheit habe.«

»Worüber?«

»Ueber meinen Sohn.«

»Großmutter, fängst du schon wieder davon an!«

»Laß mich nur reden, Robert! Außer dir habe ich keinen, dem ich es sagen könnte, und mir wird leichter ums Herz, wenn ich davon spreche. Jeden Tag muß ich daran denken. Soll ich aus der Welt gehen, ohne daß ich weiß, wohin er gekommen ist? – Es kann nicht gut thun, was man hier trinken muß. Wenn wir bloß unsere Pumpe hätten von daheim, unser gutes reines Wasser! – Worüber hast du gestern gelacht, Robert«

»Über Herrn Niehuus, unseren Chef.«

»Das darfst du nicht. Er ist dein Brotherr. Ueber den soll keiner lachen.«

»Ist nicht böse gemeint, Großmutter. Er kommt jetzt manchmal mit seiner Braut vorgefahren bei der Fabrik – ungeheuer vornehm. Wir werden nun bald Aktiengesellschaft. Wenn die Gründung fertig ist, will er Hochzeit halten. Ein alter Mann und ein junges Mädchen. Du solltest sie einmal zusammen sehen. Er sieht wie ihr Vater aus.«

»Ich möchte ihn schon gerne sehen, Es quält mich immer, daß er Georg Neuhaus heißt wie mein armer Junge.«

»Niehuus, Großmutter. Aber thu es, sieh ihn dir an. Um Mittag herum in der Nähe der Fabrik ist's nicht schwer. Geh nur hin, damit du sicher weißt, es ist nicht der Georg, an den du denkst.«

 

Die alte Frau konnte den Gedanken an den Arbeitgeber ihres Enkels nicht mehr aus der Seele bannen. Er war nicht ihr Sohn, natürlich nicht, ein verwandter Klang der Namen narrte sie. Zwischen dem reichen Mann und dem verschollenen Handwerksgesellen bestand keine Verbindung, das sagte sie sich selbst. Und doch, es ließ ihr keine Ruhe.

Großmutter Neuhaus schalt sich thöricht. Es half nichts, sie wollte ihn dennoch sehen. Ein Menschenalter hindurch hatte ihr Herz die Hoffnung auf ein Wiedersehen gepflegt, über Ungemach und Schicksalsschläge hinweg rettete sie sich die Sehnsucht nach dem Verlorenen; je näher dem Ziel ihrer eigenen Pilgerfahrt, desto inbrünstiger wurde ihr Verlangen. Nur Gewißheit wollte sie haben, Gewißheit, und wäre es ein Grab! Aber gerade, daß sie nach Gewißheit suchte, verriet die nie ersterbende Hoffnung auf die Wiederkehr des Lebendigen.

Am nächsten Mittag stand sie in der Nähe der Fabrik. Georg Niehuus kam nicht.

Die alte Frau hatte im Laufe eines langen Lebens Geduld gelernt. Am nächsten Mittag war sie pünktlich wieder zur Stelle, ebenso den dritten und vierten Tag, Endlich kam er. Ob's freilich der Fabrikant war, das wußte Großmutter Neuhaus nicht. Aber ein Wagen rollte daher, und ein junges Mädchen saß darin, schön wie der aufgehende Tag. An ihrer Seite ein älterer Herr mit glattem, rotem, rundem Gesicht. Nicht rechts, nicht links wendete er den Kopf, er hatte nur Blicke für das junge Mädchen.

Großmutter Neuhaus sah den Wagen daherrollen – näher und näher im scharfen Trab. Sie sagte kein Wort, sie regte sich nicht. Nur ihre Augen wurden größer und größer, je näher der Wagen kam und der Mann in demselben.

Jetzt fuhr er an ihr vorüber, kaum drei Schritte entfernt. Ein leises Beben ging durch den Körper der alten Frau, aber ihre Augen verließen den Mann nicht, der neben dem jungen Mädchen saß. Von hinten sah sie seinen Kopf und die Schultern, wie sie ihn eben von vorn gesehen.

Weiter und weiter rollte der Wagen, und als er im Gewühl der Straßen verschwand, da hob ein tiefer, langer Atemzug die Brust der alten Frau. Noch immer stand sie still, ihre Augen hingen noch immer an dem Punkt, wo der Wagen verschwand. Sie regte sich nicht, sie sagte kein Wort. Das Bild wollte sie festhalten, das eine Bild.

Wie aus tiefem Traum erwachend, hob sich ihre Brust zum andernmal. Still trat sie den Heimweg an.

Zwei Kinder kamen des Weges, zwei Mädchen. Eine stieß die andere an und deutete mit den Augen auf Großmutter Neuhaus. Heiße, schwere Tropfen rollten über die runzeligen Wangen – die alte Frau weinte.

 

Zu Robert Gützlaff sagte Großmutter Neuhaus kein Wort von ihren Gängen um die Mittagszeit. Auch das schließliche Ergebnis erwähnte sie nicht. Ob er nicht dennoch davon wußte? Er hätte wenigstens ahnen können, daß etwas geschehen sei, denn die Großmutter zeigte sich im Wesen und Verhalten sehr verändert. Aber gerade zu dieser Zeit hatte Robert Gützlaff so viel an andere Dinge zu denken, daß sein Blick für die seelischen Vorgänge in seiner Umgebung sich ganz auffallend trübte.

Das Plauderstündchen mit Elsa Brandow war nicht vergessen, im Gegenteil, er erinnerte sich recht gern daran. Und je öfter das geschah, desto mehr neigte er zu der Ansicht, es würde recht freundlich vom Zufall sein, wenn er ihm die hübsche kleine Gouvernante noch einmal entgegenführte. So stark zählte Robert Gützlaff auf die Beihilfe des Zufalls, daß er sich mit hellen Augen und seltener Herzensfreudigkeit auf allen seinen Wegen nach derselben umsah, besonders nach Feierabend, wenn die Erzieherin, wie er zu glauben geneigt war, mit ihrem Zögling ins Freie ging. Um abends gerüstet zu sein, zog er schon morgens seinen guten Rock an, nicht gerade den allerbesten, aber immerhin einen Rock, dessen sich ein junger Herr nicht zu schämen braucht, der dem Zufall ausgesetzt ist, mit einer liebenswürdigen jungen Dame einige Worte wechseln zu müssen.

Aber der Zufall beeilte sich nicht im geringsten, Robert Gützlaffs Vertrauen zu rechtfertigen.

Auch der Junge, der Max, schien gar nicht mehr an den Monteur zu denken. Alle Geheimnisse des Kranbaues hatte ihm derselbe auseinandergesetzt, und nun dieser Undank! Aber rechne nur einer auf die Erkenntlichkeit oder den Wissensdrang eines Quartaners!

Robert Gützlaffs Weltanschauung verdüsterte sich mehr und mehr.

 

Indessen blieb Großmutter Neuhaus still und in sich gekehrt. Er war's nicht, er konnte es nicht sein. Ihr Sohn, ihr Georg, war ein armer Handwerksgesell, der andere, der im Wagen vorüberfuhr, mußte sein Geld messen, weil er's nicht zählen konnte. Dieser Mann schwamm im Ueberfluß, sie aber hatte ihr Heim, ihres Georgs Vaterhaus, verkaufen müssen der Schulden halber.

Schlecht ist, wer seine Mutter vergißt. Ihr Georg war nicht schlecht, und darum konnte der Mann im Wagen ihr Sohn nicht sein. Sie hatte ihn ja auch nur ganz flüchtig gesehen, kaum einen Augenblick im Vorbeifahren. Eine gewisse Aehnlichkeit war ihr ja aufgefallen. Was wollte das aber besagen? Kann ein Mann von Fünfzig überhaupt Aehnlichkeit haben mit einem jungen Gesellen von Siebzehn? Zudem waren ihre Augen schon schwach und hatten sie ganz sicher getäuscht.

Ja, wenn sie ihn einmal dicht in der Nähe sehen könnte und in ganzer Person, nicht bloß im Wagen und nicht bloß den Oberkörper, wenn mit ihm sprechen dürfte, seine Stimme hören! Dann würde sie Gewißheit haben!

Ihre Augen hatten gelogen … mußten gelogen haben.



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