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In furchtbarer Aufregung war Niehuus aus der Nähe der Mutter geflohen. Hatte sie ihn erkannt, wie er sie erkannte? Wie ein Brandmal glühte die Liebkosung ihrer arbeitsharten Finger auf seiner Hand.
Und Elsa war bei ihr! Wußte sie, wer die alte Frau war?
Scham und Angst brannten in der Seele des Fabrikanten, wirbelten in heißem Blutstrom durch sein Hirn. Aber die Angst war noch mächtiger als die Scham, die Angst vor Daga. In seinem Kopfe schien sich's zu drehen … immer im Kreise … immer schneller. Und dann war's, als müßte die Schädeldecke zerspringen.
Er versuchte zu denken und dachte immer nur eines. Daga dürfte nichts wissen, nichts erfahren von der alten Frau. Er wollte sie nicht verlieren, wollte nicht scheitern im Angesicht des Glücks. Was konnte er thun, die beiden auseinander zu halten? Wenn die Greisin jetzt hinging zu der schönen Braut und sagte: »Ich bin deine Schwiegermutter!« Wenn sie's hinausschrie in die Menge ringsum: »Dieser ist mein Sohn. Verlassen hat er mich. Er schwelgt im Reichtum, ich sitze im Elend!« – Anspeien würden sie ihn alle.
Und Daga! Und Daga!
Wie das wirbelte, das brannte in seinem Hirn!
Niehuus stand vor der Laube. Er konnte nicht weiter. Mit Hand hielt er sich am Eingangspfosten, sonst wäre er umgesunken.
Kommerzienrat Tychsen ward seiner gewahr. Er ergriff seinen Arm, hielt den Schwankenden fest.
»Niehuus! Mein Gott, Mann! Wie sehen Sie aus! Was ist Ihnen?«
»Ich … mir ist … lassen Sie nur! … Es … geht … schon besser!«
Ein Stuhl stand da. Niehuus setzte sich zitternd. Er war nicht mehr Herr seiner Glieder.
Der Kommerzienrat befahl, daß sofort der Wagen angespannt werde und schickte den Kellner nach Doktor Klüwer.
Der junge Arzt erkannte sofort, es war ein leichter Schlaganfall. –
Frau Brandow und Daga standen in der Nähe des Tanzsaals. Lilli trat zu ihnen.
»Erschrick nicht, Daga, Herr Niehuus fühlt sich nicht ganz wohl. Er möchte nach Hause fahren. Der Wagen wird bereits angespannt.«
Daga erschrak bis in die Tiefe ihrer Seele. Wenn er starb! Jetzt starb! Was war sie selbst alsdann? Er durfte nicht sterben, noch nicht! Eine Verlobte ist keine Gattin, eine Verlobte erbt nicht.
Sie faßte die Hände der Freundin. »Lilli, sag mir alles! Was ist ihm?« Angst sprach aus Ton und Bewegung, die Angst, welche der Selbstsucht entspringt.
»Nur ruhig, Daga, es hat keine Gefahr. Ein leichter Anfall, sagt Doktor Klüwer.«
Die Geheimrätin verlor die Ueberlegung nicht, Mit festem Griff faßte sie die Hand der Tochter. »Komm! Dein Platz ist an seiner Seite.«
Georg Niehuus war bereits in den Wagen gehoben. Als Daga seiner ansichtig wurde, entsetzte sie sich. Das linke Augenlid hing schlaff herab, daß die innere Haut blutigrot sichtbar wurde.
Frau Brandow bemerkte die unwillkürliche Zögerung. Sie schob ihre Tochter vorwärts.
Daga sah die Augen des Fabrikanten auf sich gerichtet. Ein Frösteln ging durch ihren Körper, aber ihre Hand glitt über sein Gesicht. Es galt die ganze Zukunft.
»Mein lieber armer Freund, was machst du für Dinge! Du wirst mir doch nicht krank werden! Wie fühlst du dich?«
»Bes-ser!« stammelte er.
»Gott sei Dank! Aber die Aufregung ist an allem schuld. Ein paar Tage Ruhe, dann hast du dich erholt und alles ist wieder gut.«
Dann saß Daga im Wagen neben Niehuus. Sein Kopf lag seitwärts an ihrer Schulter, die eiskalten Finger ruhten in ihrer Hand, daß ihr ein leises Frösteln im Arm emporstieg.
Doktor Klüwer nahm den beiden gegenüber Platz. Durch die Landschaft ging die Fahrt sanft und leise. Die Gummiräder und die vortreffliche Federung fingen die Stöße auf, wo der Weg holperig war. Gesprochen wurde fast nichts. Nur daß Daga zuweilen ein Wort zur Beruhigung flüsterte. Dann zuckten die Finger des Kranken in ihrer Hand, und sie fühlte von neuem die Kälte.
Ihre Augen gingen über den Kopf ihres Bräutigams hinweg in die Landschaft, aber sie bemerkte nichts von den blühenden Wiesen und den wogenden Feldern. Auch Doktor Klüwer vergaß sie. Unablässig arbeitete ihr Geist.
Zahllose Frauen werden Witwe. Sie selbst würde auch einmal Witwe sein. Das hatte sie mit erwogen, als sie alles erwog. Aber wie lange Zeit war bis dahin? Daß sie selbst dann verblüht sein könnte, war früher ihre heimliche Angst gewesen. In der letzten Zeit nicht mehr.
Niehuus' Konstitution deutete ja darauf hin, daß einmal eine Katastrophe eintreten könnte. Nun war sie da und viel zu früh. Eine Braut ist keine Frau, sie erbt nicht. Sonst wäre ja alles gut gewesen, wie es nun kam. Nur Frauen werden Witwe. Sie konnte noch nicht Witwe werden, weil sie nicht Frau war.
Daga horchte in sich hinein. Wie das wohl sein müßte, jung sein und reich? Reich und frei dabei! … Davon war sie nun weiter entfernt als je. Das Aufgebot hatte man bestellt, nur um eine kurze Spanne Zeit handelte es sich. Aber die Katastrophe kam zu früh. Erst Frau werden, erst den Weg frei zu den Millionen! Dann konnte sie jung sein und reich und frei!
Daga zitterte für das Leben des Mannes, dessen Haupt an ihrer Schulter ruhte.
»Wie fühlst du dich, Georg?«
»Bes … ser … Daga!«
Ein Seufzer der Erleichterung hob Dagas Brust. Vielleicht, daß das Schlimmste noch nicht eintrat, jetzt noch nicht!
»Halte dich nur recht ruhig, Georg. Bald sind wir zu Hause.«
Frau Brandow und Elsa fuhren schneller und trafen früher in Niehuus' Wohnung ein. So war alles zu seiner Aufnahme bereit.
Der Kranke wurde gebettet.
»Der Anfall ist verhältnimäßig leicht. Ruhe, nur Ruhe ist vorläufig das einzige,« sagte Doktor Klüwer,
Eine Pflegerin wurde telephonisch beordert, für die Damen Brandow blieb nichts mehr zu thun, Elsa war gleich nach der Ankunft zu den Brüdern heimgeeilt. Auch Frau Geheimrat und Daga begaben sich nach Hause. Man mußte sich umkleiden.
»Was nun, Mama?«
»Wir können hoffen, daß uns das Schlimmste erspart bleibt. Doktor Klüwer hält den Anfall für leicht. Und wenn die nächsten Tage vorübergehen, ohne daß eine Wiederholung erfolgt, glaubt er Niehuus vollständig wieder herzustellen.«
»Er glaubt. Kann er's verbürgen? Mama, ich sterbe vor Angst. Wenn sich der Anfall wiederholt, verstärkt! Eine Braut, der ihr Bräutigam stirbt, ist das bedauernswerteste Geschöpf auf der Welt.«
»Was das Schicksal bringt, muß man tragen, Kind.« 5
»Aber wenn er stirbt, bin ich Witwe und bin's doch nicht. Ich hülle mich in Trauergewänder, als wäre mein Gatte gestorben, und habe doch keines der Rechte einer verwitweten Frau. Daß das Aufgebot bereits erfüllt ist, ändert daran nichts – gar nichts! Mein Gott, konnte das nicht ein paar Tage später kommen! Nur ein paar Tage!«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du hast mich doch sonst verstanden. Wäre ich schon seine Frau, so gehörte mir das Erbe des ganz allein stehenden Mannes. Als Braut mag ich sehen, wo ich bleibe, wenn er stirbt. Begehrenswerter wird kein Mädchen, das den Ring eines anderen bereits am Finger trug.«
»Man müßte anregen, daß er ein Testament macht. Verwandte hat er nicht, weshalb sollte er's nicht thun?«
»Nein, Mama, nichts von Testament! Das macht ihn nur kopfscheu. Kranke sind argwöhnisch, und ich hin noch nicht seine Frau. Aber daß die standesamtliche Verbindung ohne Verzug vorgenommen wird, will ich zu erreichen suchen. Auf den gesetzlichen Akt kommt es an, auf die Feier verzichte ich mehr als gern. Bin ich sein Weib, bleibt mir das Erbe auch ohne Testament. Das soll meine Aufgabe sein.«
Die Nacht war herabgesunken. Die Wärterin hatte sich in den anstoßenden Raum zurückgezogen, die Thür blieb offen, daß gedämpfter Lichtschein ins Krankenzimmer fiel, gerade genug, die Umrisse der Gegenstände erkennbar zu machen. Totenstille überall.
In dieser Einsamkeit lag Niehuus die ganze Nacht, die furchtbare Nacht, wo der Schlaf das Auge flieht, wo der Geist geängstigt wandert, wo er Ruhe sucht und sie nicht findet.
Der Sturm hatte Niehuus' Seele ergriffen, aufgewühlt in der Tiefe … einmal … zweimal. Die eisige Rinde barst, daß der Sonnenschein hineindringen konnte.
»Werden Sie nur recht glücklich, Herr! Recht, recht glücklich!« So hatte die Mutter gesprochen mild und warm. Der Sturm zerstört im Augenblick, langsam weckt der warme Strahl das keimende Leben.
Die Hand hatte ihm die Mutter gestreichelt, weil sie ihn erkannt hatte als ihren Sohn. Jetzt wußte er es. Kein Wort der Anklage gegen ihn, der sie im Elend ließ seit Jahren, der sie verleugnete noch zuletzt. Nur Wünsche, heiße gute Wünsche aus dem Mutterherzen für den Sohn!
»Möchten Sie nie einsam werden, Herr. Möchten Sie nie fühlen, wie weh das thut, einsam sein und alt«
Der Sturmwind schleudert die Schollen zusammen, daß sie knirschend sich aneinander reiben, im warmen Sonnenschein aber zerschmilzt das Eis
»Wie weh das thut, einsam und alt!« In selbiger Stunde erfuhr er es. Noch sah er Daga am Wagen. Entsetzen sprach aus ihren Auge, in ihren Händen zitterte das Grauen, das Grauen vor dem, den sie lieben sollte. Im Herzen blieb er verlassen, weil er krank war und alt.
In einsamer Nacht sah Georg Niehuus die zwei Marksteine seines Lebens. An beiden tönte dieselbe liebevolle Stimme, wachten dieselben guten treuen Augen, an beiden stand die Gestalt der Mutter, und er vergaß sie, verleugnete sie.
Zwischen diesen Polen lag sein ganzes Leben. Was war's gewesen? Die Jagd nach einem Truggebilde und eine Kette von Schuld. Die Selbstsucht hatte sie geschmiedet Glied um Glied, Vergessene Kindespflicht, mißhandeltes Elternrecht, himmelhoch getürmte Schuld!
Und als er sich auf der Höhe wähnte, als er selbstsüchtig genießen wollte, was er selbstsüchtig zusammengescharrt, als er die Mutter, die er vergessen, verleugnete von Angesicht zu Angesicht, da riß ihm das Schicksal die süße Frucht am Munde fort, da mußte er erkennen, daß er alt war und verlassen. Mutterliebe hatte er zertreten, als sie ihn suchte, Frauenliebe wendete sich grauend von ihm, als er ihr nachjagte.
Aber durfte er anklagen, der vor dem Richterspruch zitterte? Was hatte er Daga vorzuwerfen, als daß sie jung war, und er alt? Nicht anklagen, sühnen sollte er. Dazu blieb ihm eine Gnadenfrist.
Blieb sie ihm? Hatte er noch Zeit zur Sühne? Das Schwert hing über ihm gezückt und drohend. Wann fiel es nieder?
Gestern riß ihm die Bestürzung das Versprechen aus der Seele: »Ich will's!« Er vergaß es noch schneller, als er's gegeben. Gestern war Zeit. Würde die Frist auch morgen noch währen? Das Schwert hing über ihm. Jede Minute bedeutete einen Schritt zur Ewigkeit. Welches war die letzte?
In stiller Nacht sah Georg Niehuus den Weg vor sich, den er gehen mußte. Die Selbstsucht durfte nicht mehr teil haben an seinem Leben. Seine Mutter gehörte zu ihm für den Rest ihrer Tage. Nichts und niemand sollte sie mehr trennen. Keine Sühne war's, keine Verminderung seiner Schuld, nur ein Ende derselben, daß sie nicht hinaufwuchs zum Himmel. Daga aber sollte Herrin sein über ihr Schicksal. Sie selbst sollte wählen. Wenn sie ihn liebte, dann mußte sie auch seine Mutter ehren.
O, daß nur der Morgen käme!
Die Nacht verging. Der neue Tag brachte neues Licht. Die Wärterin erschrak vor der Verwüstung in den Zügen des Kranken. So sehr sie sich auch bemühte, den Eindruck zu verbergen, Niehuus verstand doch, weshalb sie zusammenzuckte Er durfte nicht säumen.
Daga kam. Leise erhob sich die Pflegerin, um der Braut ihren Platz abzutreten. Der Kranke bemerkte den eingetretenen Wechsel sogleich. Seine Augen richteten sich auf das Gesicht seiner Verlobten.
Daga fühlte ein leises Frösteln, aber sie bezwang sich. »Wie befindest du dich, lieber Georg?«
»Danke! Besser!«
»Gott sei Dank! Halte dich nur ferner ruhig, wie der Arzt es verlangt, dann stehst du bald wieder auf.«
»Meinst du?«
»Gewiß! Mehr als das, ich weiß es.«
»Woher?«
»Doktor Klüwer sagt es. Außerdem – ich fühle es in mir. Es kann gar nicht anders sein, weil ich's will, weil ich's verlange vom Schicksal. Du bist mein und gehörst mir. Ich will dich nicht verlieren. – Aber nun kein Wort mehr. Du sollst Ruhe haben. Der Arzt befiehlt es.«
Dagas ganzes Verhältnis zu dem Manne, der vor ihr auf den Kissen lag, war auf Lüge gebaut. Die Lüge mußte weiterhelfen, daß das Fundament nicht fortschwamm, bevor noch der Bau unter Dach kam.
Jede Minute konnte das Hirn auslöschen, an welchem ihre ganze Zukunft hing. Ihr Haupt sank tiefer und tiefer, bis ihr Gesicht die Kissen berührte, bis sich's darin vergrub. Ein leises Beben ging durch ihren Körper. Wirklicher Schmerz hätte sich nicht anders geäußert als diese berechnete Heuchelei.
»Weshalb weinst du, Daga?« fragte Georg Niehuus seine Braut.
»Soll ich nicht weinen?« entgegnete sie. »Fremde Hände rüsten dein Lager, fremde Augen bewachen deinen Schlummer, fremder Sorge ist deine Genesung anvertraut, und ich selber muß fremd sein hier. Ich bin traurig, daß ich nicht bleiben darf, wo mein Platz ist, daß ich fortgehen muß nach kargen Minuten. Fern von dir, wo ich nicht mehr daheim bin, muß ich mich sorgen um dich. Darum weine ich, Georg.«
Wie treuherzig das klang! So schlicht und doch so lieb! Hatte er ihr dennoch unrecht gethan, als er Grauen argwöhnte, wo angstvolle Sorge sich geäußert hatte?
»Daga, hast du mich lieb?«
»Ich bin deine Braut, und du kannst zweifeln! O, daß ich dein Weib wäre, um dich zu pflegen Tag und Nacht! Bist du gesund, dann magst du noch einmal fragen, wenn's dir nötig deucht.«
Sie strich mit der Hand über die Augen. »Es ist nicht, wie ich's mir wünsche. Ich muß es tragen. – Doch jetzt still! Ich bin eine schlechte Pflegerin. Der Arzt hat Ruhe geboten, Und ich belästige dich mit meinen thörichten Gedanken. Still, sprich nicht! Ich darf's nicht, leiden!«
»Daga!«
»Lieber Georg.«
»Möchtest du, daß unsere Verbindung beschleunigt werde? Die Zeit des Aufgebots ist um. Wir könnten den Beamten rufen lassen, daß er uns hier still vereinigt. Möchtest du mein Weib werden, wie ich hier bin – gelähmt, gebrochen, vielleicht dem Tode nahe?«
Ein Gefühl des Triumphes durchrieselte Dagas Brust. Das Ziel lag vor ihr. »Ja, Georg! Nur das Recht möchte ich haben, dich immer zu pflegen, das Recht, das mir noch fehlt.«
»Hast du mich lieb, Daga?«
»Sagte ich's nicht eben? Was soll ich thun, es dir zu beweisen?«
»Antworten.«
»Du glaubst mir ja nicht.«
»Immer hast du's umschrieben, wenn ich fragte. So damals am Fluß im Kirschenland, so heute. Sieh mir ins Gesicht und sprich drei Worte. Ich werde dir glauben, wenn du es sagst. Hast du mich lieb?«
Das junge frische Leben in Daga lehnte sich auf gegen die Gemeinschaft mit der menschlichen Ruine, die jeden Augenblick zusammenstürzen konnte. Unwillkürlich sträubte sich ihre Zunge gegen den Mißbrauch des Wortes Liebe, das jauchzende Hingabe bedeutet mit Leib und Leben. Aber da war kein Ausweichen mehr. Ihre Zukunft stand auf des Messers Schneide in diesem Augenblick, hing an einem Laut ihres Mundes. Niehuus' Augen hafteten starr an ihrem Gesicht, daß auch sie keinen Blick abwenden durfte.
Heiß und heißer rann es durch ihre Brust von ohnmächtigem Grimm, daß er sich nicht genügen ließ an heuchlerischen Zeichen, daß er sie zwang, ihm Liebe ins Gesicht zu lügen, sich zu erniedrigen vor sich selbst durch solches Bekenntnis. Sie haßte den Mann.
Blutrot stieg's ihr in Stirn und Angesicht. Aber als sie sich über ihn neigte, sah's aus wie bräutliche Verwirrung, die in purpurnen Rosen blühte auf ihren Wangen. Ihr Auge blickte mild. Um seine Stirn fächelte der Atem ihres Mundes.
»Ich liebe dich, Georg!«
Wie leiser Hauch klang es von ihren Lippen, aber im Herzen schrie es laut: »Du bezahlst mir diese Minute!«
Niehuus tastete nach ihrer Hand. »Ich danke dir, Daga. Nun hilf mir auch eine Schuld tilgen, die mich erdrückt. Ich habe meine Mutter verlassen. Ich sah sie gestern und verleugnete sie.«
Nicht unvorbereitet traf es Daga, dennoch ging es wie ein Schwindel durch ihr Haupt. »Deine Mutter!« Atemlos klang es von ihren Lippen.
»Sie lebt in Armut und Niedrigkeit. Bringe sie mir, Daga, daß meine Seele leicht wird von der Schuld.«
Wie eine Brandfackel fielen Beichte und Bitte in Dagas Seele. Niehuus' Mutter war die einzige, die wahre Erbin. Und von der Großmutter fiel es an den Enkel. Nichts blieb für sie selbst als der alte Mann, die menschliche Ruine. Getäuscht und betrogen
all die Zeit! Gedemütigt, erniedrigt vor sich selbst noch in der letzten Minute!
O, wie sie ihn haßte, den Mann, der das an ihr gethan! Heißer, brennender Haß durchflutete ihre Seele auch gegen die Frau, welche die Hand ausstreckte nach den Schätzen, die ihr allein gehören sollten, Haß gegen Gützlaff, den Monteur, gegen Elsa, ihre eigene Schwester, die mit ihm im Bunde war.
»Willst du mir helfen, Daga, daß ich sühnen kann?«
»Deine Mutter? Ich kenne sie nicht. Wo finde ich sie?«
»Ich sah Elsa mit ihr zusammen. Frage deine Schwester. Suche die Spur, Daga, bringe mir meine alte Mutter, daß sie die Schuld von mir nimmt, die mich erdrückt! Und wenn du sie gefunden hast, wenn sie hier vor meinem Lager steht, dann rufe den Beamten, daß er uns verbindet für den Rest meiner Tage, sei er groß oder klein.«
Auch das noch. Eine Bedingung, sonst nahm er sie nicht! Das Maß war voll.
Daga stand auf. Sie mußte hinaus, mußte überlegen, was nun zu thun sei. Feinde ringsum! Kampf galt es, Kampf nach allen Seiten. Und wenn's die Schwester war, die sich ihr in den Weg stellte, Verderben über jeden, der die Hand aufhob nach ihrem Gut! Sie war ja Herrin des Schicksals,
Nichts in Dagas Stimme verriet, was in ihr vorging. Ihre Augen blickten freundlich und mild.
»Dein Wunsch ist mein Wunsch. So laß mich denn gehen. Ich will versuchen, was ich kann, aber du zürnst nicht, wenn deine Sehnsucht schneller ist als ich. Leb wohl, Georg! Halte dich still. Erst werde ich hören, was Elsa weiß, dann will ich suchen.«
»Dank dir, Daga. Bringe mir meine Mutter, dann rufe den Standesbeamten.«
In unbeschreiblicher Aufregung verließ Daga das Haus. Sie selbst sollte sie ihm bringen – daß sie eine Närrin wäre! Unter dieser Voraussetzung hatte die Beschleunigung der Hochzeit gar keinen Zweck.
Was galt ihr die ganze Ehe, wenn ihr die Millionen entgingen, oder wenn ihr nur ein kleiner Teil davon zufiel? Aber sie hielt den Schlüssel des Schicksals in Verwahrung, der ihre Bahn frei machte. Nur einen Weg müßte sie finden, ihn benutzen zu können.
Zunächst galt es zu ergründen, wie weit ihre Schwester eingeweiht war. Wußte Elsa, wie die Sache lag? Hatte sie's ihr verschwiegen? War vielleicht gar eine Intrigue gesponnen hinter ihrem Rücken?
Daga biß die Zähne zusammen, »Wehe ihr, wenn sie meine Wege kreuzt! ist!« –
Frau Brandow war nicht zu Hause.
»Sie ist bei Kommerzienrats,« sagte Elsa. »Wie geht's Herrn Niehuus?«
Daga zuckte die Achsel. »Gut, den Umständen nach.«
Dann kam sie auf die Angelegenheit, die ihr am Herzen lag. Aber kein Zucken der Wimper verriet die furchtbare Spannung, mit der sie die Antwort erwartete.
»Was war denn das für eine alte Frau, Elsa, gestern beim Fest? Ich sah dich mit ihr sprechen.«
»Du meinst Frau Neuhaus, das reizende Großmütterchen des Herrn Gützlaff. Herr Niehuus sprach auch ein paar Worte mit ihr, bald darauf muß er den Anfall gehabt haben.«
»Wie kommt so eine alte Frau unter die jungen Leute? Da waren doch Mädchen genug zum Tanz.«
»Interessieren dich die Verhältnisse der Arbeiter plötzlich so sehr, Daga? Ich weiß nichts weiter, als daß sie am Waldsaum saß und dem Sonnenuntergang zusah wie ich, und daß sie mit mir zum Garten zurückging, wo Herr Niehuus uns traf.«
»Ich frage auch nur, weil mir's auffiel, daß meine Schwester mit solchen Leuten so intim verkehrt.«
»Du meinst, das schickt sich nicht für die Schwester der künftigen Frau Direktor? Sei unbesorgt, Daga. Ich weiß, was ich thue. Das alte Mütterchen ist einfach reizend.«
Daga atmete auf. Wenn Elsa nichts Näheres wußte – und es hatte den Anschein – dann gab es auf dieser Seite keinen Verdacht in Bezug auf das, was gethan werden mußte. Aber mit ihrer Mutter wollte sie jetzt doch reden, ihre Ansicht hören. Niehuus' Bekenntnis hatte die Sachlage seit gestern verschoben, Wenn sie jetzt ebenfalls zu Kommerzienrats ging, bot sich auf dem Heimweg die beste Gelegenheit zu ungestörter Aussprache.
Bei Tychsen traf sie außer ihrer Mutter auch Doktor Klüwer. Was derselbe sagte, ließ sie hoch aufhorchen.
Der Arzt hielt ein Zeitungsblatt in der Hand. Er sprach mit flammendem Eifer.
»Unerhört ist's, daß man vor solchen Zahlen die Augen verschließt. In kaum drei Tagen ist die Summe der Erkrankungen auf etliche Hundert gestiegen. Und überall die gleichen, gar nicht mehr zu verkennenden Symptome. Wenn es so weitergeht – und da nichts geschieht, wird es so weitergehen – dann haben wir mit Ablauf der Woche tausend Fälle auf den Tag.«
»Aber das wäre ja furchtbar! Wie ist das möglich?« rief der Kommerzienrat.
»Möglich? Es kann gar nicht anders sein. Sehen Sie doch den Himmel an. Bleiern und schwer liegt er auf der Stadt, seit Wochen, seit Monaten schon, aber kein Regen. Dabei wird die Erde durchwühlt und aufgegraben bis in die Tiefe für die Zwecke der Neuanlagen. Alle giftigen Senkstoffe, die seit Menschenaltern da faulen, werden frei. Die Fleete sind trocken, die Wasserleitung ist in jämmerlichem Zustande, das Wasser, das sie giebt, ist geradezu Gift geworden. Wer es ungekocht genießt, muß krank werden.«
»Mir graut!« sagte Lilli.
»Bald wird uns allen grauen,« fuhr Doktor Klüwer fort. »Jedes Ding hat seine Zeit, und hier ist die Zeit erfüllt. Viele Sünden sind hier zu büßen. Die einfachsten sanitären Forderungen sind gröblich vernachlässigt worden seit langem. Nun haben wir die Cholera hier, sie ist zu Schiff aus dem Osten eingeschleppt worden, und hier findet sie den denkbar günstigsten Boden. Wir stehen vor einer Katastrophe. Aber die Behörden verschließen Augen und Ohren, man möchte die Sache totschweigen, während die täglich steigende Totenziffer bereits in alle Welt hinausschreit: Die Cholera ist hier.«
»Und Sie meinen?« fragte Tychsen.
»Ich meine, daß wir Tagen entgegen gehen, wie diese Stadt sie noch nicht gesehen hat. Unser Wasser ist Gift.«
Der Kommerzienrat stand auf. »Ich bin kein Arzt, ich kann nichts helfen. Wir reisen noch heute.«
»Tausend werden fliehen, und Zehntausend werden sterben,« sagte Doktor Klüwer,
Lilli trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. »Und was wirst du thun, Hermann?«
»Ich bleibe natürlich. Der Platz des Arztes ist bei den Kranken und Sterbenden.«
»Und mein Platz ist bei dir.«
»Ich werde kaum Zeit haben, dich zu sehen. Es ist besser, du reisest mit deinem Vater, du kannst mir hier nicht helfen, Lilli.«
»Aber du wirst fühlen, daß ich in der Nähe bin. Wenn du müde bist, kommst du zu uns.«
»Es ist besser, du reisest, Lilli.«
»Wo du bleibst, da bleibe ich auch.«
»Na, ich seh's schon kommen, daß ich auch hier bleiben muß,« sagte der Kommerzienrat. »Das hat man nun davon, wenn man einen Arzt zum Schwiegersohn nimmt.«
Die Damen Brandow hatten schweigend zugehört, jetzt verabschiedeten sie sich, beide in tiefen Gedanken.
Also die Cholera war in Hamburg, täglich starben viele Menschen, man verheimlichte es nur noch.
Je länger Daga über die Sache nachdachte, desto mehr fühlte sie sich persönlich davon berührt. Zum Beispiel wenn jemand vergiftet wurde! Eine solche Sache fällt immer auf. Jemand ist gesund und stirbt dann plötzlich. So etwas spricht sich herum. Für die Aerzte ist es gar kein Kunststück, ganz rasch festzustellen, an welchem Gift der Betreffende gestorben ist oder die Betreffende. Dann sehen sich die Gerichte den Fall an, und es dauert gar nicht lange, so haben sie's heraus, wer ein Interesse daran nahm, daß derjenige oder diejenige nicht mehr unter den Lebenden weilte. Wenn Eifersucht vorliegt oder wenn einer erben will, kommen solche Dinge vor, und wer so etwas gethan hat, der wird meist entdeckt. Aber jetzt. Wenn die Cholera heftiger wurde, wenn täglich vielleicht viele Hunderte starben, wer fragte dann noch nach dem einzelnen?
Daga geriet in immer tieferes Sinnen. Wenn einer einen Feind hatte oder sonst jemand, dem er nicht wohl wollte, konnte er ihn jetzt leicht loswerden. Wenn einer jetzt plötzlich starb, da kam kein Arzt und suchte nach dem Gift, da fragte kein Gericht, wer erben würde. Wer tot war, war tot. Er hatte eben die Cholera gehabt. Wenn Tausend an einem Tage starben, wie Doktor Klüwer sagte, kam es gar nicht darauf an, ob man noch einen mehr begrub oder zwei. In solchen Zeiten, wie Doktor Klüwer meinte, daß sie kommen würden, war es ganz leicht, jemand zu beseitigen, der im Wege war.
Aber Niehuus' Mutter und der Enkel waren nicht nur im Wege, sondern auch fern. Da lag die Hauptschwierigkeit. Man mußte doch auf irgend eine Weise mit ihnen in Verbindung treten, um –
»Du sagst ja gar nichts, Daga. Wie geht's Herrn Niehuus?« fragte die Mutter.
Daga fuhr ein wenig zusammen bei der Anrede. »Wie meinst du, Mama? Ach so! Ich fand sein Aussehen nicht gut.«
»Ist etwas verabredet worden?«
Daga war nun doch wieder einen Augenblick zweifelhaft, ob sie alles sagen sollte. Schließlich indessen … ein guter Rat war viel wert unter solchen Umständen.
»Niehuus' Mutter lebt noch.«
»Was sagst du! Seine Mutter?« Grenzenloses Erstaunen, mit Schrecken gemischt, malte sich in den Zügen der Rätin.
»Ja. Gestern ist er ihr begegnet unter den Arbeitern. Ich vermute, die Aufregung hat mitgewirkt bei dem Anfall.«
»Und … ich meine die alte Frau … weiß sie, wer er ist?«
»Daß sie es vermutet, scheint mir gewiß. Darauf kommt es indessen weniger an. Er selbst will sie sehen, er fühlt Reue – jetzt nach all den Jahren. Weißt du, was das für mich, für uns bedeutet? Das alte Weib beerbt ihn, wenn er stirbt. Und ich soll sie ihm bringen! Ich! Wenn sie da ist, kann die Trauung stattfinden … jeden Augenblick.«
Von dem Monteur, dem Enkel der alten Frau, erwähnte Daga absichtlich auch jetzt noch nichts. Ein Zufall konnte Elsas Beziehungen zu demselben ans Licht bringen, und dann war es zum mindesten zweifelhaft, auf wessen Seite sich die Mutter stellen würde, oder vielmehr es war gar nicht zweifelhaft, daß sie eine Verbindung ihrer jüngsten Tochter mit dem Neffen des reichen Mannes begünstigen würde. Das wünschte Daga nicht. Sie selbst wollte erben, allein!
»Und was denkst du zu thun?« fragte die Geheimrätin.
»Vorläufig nichts. Eine Zeitlang wird Niehuus sich hinhalten lassen. Er weiß nicht, wo sie wohnt, ich kann also suchen, ohne sie gleich zu finden.«
»Das scheint mir auch das beste. Man gewinnt Zeit zur Ueberlegung. Zudem – wenn Doktor Klüwer recht behält, gehen wir ja netten Zuständen entgegen. Wer weiß, was unterdes geschieht!«
»Das denke ich auch. Wasser ist Gift. In den Arbeitervierteln sterben bei Epidemien stets die meisten Leute.«
Die Geheimrätin seufzte. »Darauf lassen sich keine Häuser bauen. Ich kann mir nicht helfen, Daga, gerade jetzt, wo Niehuus' Leben sozusagen an einem Faden hängt, macht uns das Auftauchen der alten Frau einen bösen Strich durch die Rechnung. So lange keine Leibeserben vorhanden sind, gehen die Rechte der Mutter den deinigen vor, selbst wenn ihr verheiratet seid. Es müßte schon ein Testament gemacht werden. Aber ob er das will? Und was schreibt er hinein? Uebergehen wird er seine Mutter kaum, wenn seine Sehnsucht nach ihr plötzlich so groß ist. Wir müssen eben abwarten und das beste hoffen. Schließlich fällt ja auch die Hinterlassenschaft der Schwiegermutter wieder an die Frau, wenn sonst kein Erbe da ist.«
Daga gab keine Antwort. Ihr Gesicht sah finster und drohend aus. Wenn sonst kein Erbe da ist! – Es war aber einer da, der Enkel der alten Frau, Robert Gützlaff, an den sich Elsa drängte.
Abwarten … ja! Vorerst! Vielleicht kamen ihr die Zeitverhältnisse zu Hilfe. Sie würde froh sein, wenn der Weg frei wurde ohne ihr Zuthun. Was Niehuus begann, wenn sie die alte Frau nicht brachte, das war entscheidend, das wollte sie zunächst abwarten.