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Als sich das Personal im Garten an den langen Tischen zu einem kalten Imbiß niedersetzte, klingelte Kommerzienrat Tychsen in der Laube bereits an sein Glas. Er sprach sein Bedauern , daß Herr Niehuus, der geschätzte Begründer und langjährige Leiter des Unternehmens, dem Werke in so bedeutungsvoller Zeit untreu werden wolle. Der Wunsch nach Erlösung vom Geschäft sei ja begreiflich, indessen weder er selbst, Tychsen, noch die anderen Herren vom Verwaltungsrat gäben die Hoffnung auf, die bewährte Kraft der Aktiengesellschaft dennoch zu erhalten. Zum Beweise dessen habe er gleich den Kontrakt mitgebracht, unterstempelt und untersiegelt, fertig bis auf die Unterschrift des künftigen Direktors Georg Niehuus, dem mit Rücksicht auf seine bevorstehende Vermählung zunächst sechs Monate Urlaub bewilligt seien.
»Ja, ja, mein lieber Freund, schloß der Kommerzienrat, »ich sagte Ihnen schon einmal: Sie kommen nicht los! Ich wiederhole Ihnen heute: wir geben Sie nicht frei! – Sie aber, meine geehrten Damen und Herren, ich weiß es, Sie stimmen mit mir ein in den Ruf: Herr Georg Niehuus und seine liebreizende Braut, unsere künftige Frau Direktor, sie leben hoch, Hoch, hoch!«
Von allen Seiten streckten sich dem Paare Gläser entgegen, der Fabrikant aber wiegte bedenklich den Kopf.
»Du mußt doch anstoßen,« erinnerte Daga.
»Aber ich kann mein Einverständnis mit dem Schluß nicht zugeben.«
»Weshalb nicht?«
»Möchtest Du es denn, Daga?«
»Wo Frauen lieben, wollen sie bewundern. Unsere höchste Begeisterung gehört dem wirkenden Mann, dem Mann der That.«
Vor dem Eingang der Laube machte sich eine Bewegung bemerkbar. Die Beamtenschaft erschien.
»Sie werden verlangt, lieber Niehuus,« rief der Kommerzienrat. »Aber ich denke, draußen ist mehr Platz für uns alle. Wir möchten auch gern wissen, was Ihnen die Herren zu sagen haben.«
Der erste Beamte entledigte sich seiner Aufgabe in schwungvollen Worten. Er wußte sich in Uebereinstimmung mit dem Verwaltungsrat und trug starke Farben auf.
Abermals wiegte Niehuus den Kopf. Was sollte er erwidern? Einwilligen, seinen ganzen Lebensplan ändern? Nein! Als der Beamte, tief bewegt durch seine eigenen Worte, mit dem üblichen Lebehoch schloß, befand sich der Gefeierte in keineswegs gehobener Stimmung.
Bevor er indessen antworten konnte, geschah etwas Unerwartetes.
Die Arbeiterschaft rückte heran, allen voran Robert Gützlaff. Die Beamten wichen zur Seite, so daß sie die Damen und Herren vom Verwaltungsrat rechts und flankierten. Georg Niehuus stand vor den anderen, seine Verlobte seitwärts von ihm, ein wenig zurück. Es gewann fast den Anschein, als ob sich zwei Heerhaufen gegenübertraten.
Hinter Gützlaff zogen sich die Arbeiter schweigend zum Halbkreis auseinander, so daß sich der Fabrikant und sein Monteur inmitten aller gegenüberstanden.
Als Gützlaff zu sprechen begann, schob Niehuus die Hand zwischen die Knöpfe seines langen Gehrocks wie jemand, der weiß, was man vorbringen wird, der es über sich ergehen läßt, obgleich er entschlossen ist, das Gegenteil zu thun. Der Wortlaut der Rede interessierte ihn wenig. Was konnte der junge Mensch sagen, das er nicht von anderen oft genug gehört hatte?
Seine Blicke schweiften über die Köpfe der dicht gedrängten Menge. »Bei uns bleiben!« – »Direktor werden!« scholl es aus dem Haufen, so oft der Redner atemschöpfend eine Pause machte. Alle, die da standen, hatten ihm gedient mit ihrem Geist und ihrer Kraft. Sie würden es wieder thun, sobald er es wollte. Früher hatte er sie nie so auf einem Haufen gesehen, er hatte mehr an den Gewinn als an die Herrschaft über die Menschen gedacht. Erst jetzt kam ihm diese Seite so recht zum Bewußtsein: und welch stolzes Bewußtsein war das! Ein sozialer Fürst war er geworden und gewesen durch eigene Kraft. Er konnte es noch sein. Wirklich ein erhebendes Gefühl!
Der junge Mensch, der da sprach, gab sich wirklich alle erdenkliche Mühe. Man konnte vielleicht etwas für ihn thun. Ein Geldgeschenk oder dergleichen. Niehuus richtete die Augen auf sein Gesicht, es war ihm früher noch nicht aufgefallen. Auch jetzt ließ es ihn gleichgültig.
Aber ein anderes Gesicht schob sich neben den Sprecher. Langsam, unmerklich fast löste es sich aus seiner Umgebung, bis es Niehuus' Blicke gefangen hielt. Ein altes, runzeliges Gesicht, ein Frauengesicht. Und in dem Gesicht zwei Augen – gute, treue, alte Augen! Sie begegneten den Blicken des Fabrikanten, hingen sich daran fest, daß er nicht mehr los konnte.
Und mit einem Schlag versank die ganze Umgebung für Georg Niehuus. Nur das alte Gesicht blieb vor ihm und die guten treuen Augen.
»Georg,« hörte er wie aus weiter Ferne. »Dein Vater trägt schwere Last. Vergiß uns nicht ganz in der Fremde!«
Niemand hatte es gesagt, niemand gehört. Nur vor Georg Niehuus' Ohren klang es. Das Gewissen schrie es ihm zu, daß es seine Seele traf wie ein Peitschenhieb. Wer Vater und Mutter vergißt und darben läßt, der ist ein Elender. Georg Niehuus erbebte bis ins Mark, Ein sozialer Fürst? Er? Ein Elender war er trotz Stellung und Reichtum.
Und noch immer vor ihm das alte runzelige Gesicht, noch immer die guten, treuen Augen, die an den seinen hingen! Er legte die Hand über die Stirn. Er wollte nicht sehen, was vor ihm war.
Die Leute stießen einander an. Leise raunend lief es durch die Reihen: »Wie bewegt er ist von der Rede!«
Vor den Ohren des Fabrikanten brauste es, seine Brust drohte zu zerspringen. Die Vergangenheit kam über ihn. Inmitten des Glanzes und der Ehre traf sie ihn ohne Vorbereitung, riß mit Geierklauen an seiner Seele.
Und immer wieder: »Georg, dein Väter trägt schwere Last! Vergiß uns nicht ganz in der Fremde!« In ihm schrie es, schrie mit der Stimme der Mutter, die er so lange vergessen hatte.
»Bei uns bleiben!« – »Direktor werden!« Es klang so fern wie Rufe aus einer anderen Welt.
»Sag doch endlich Ja, lieber Georg!« Dagas Stimme war es. Wie tönte sie fern! Aber vor ihm die Augen der Mutter mahnten an Schuld, forderten Sühne.
»Sag Ja, Georg!«
»Ich will's, ich will's!« stieß er hervor und wandte sich ab. Er wußte nicht, was er that und sagte.
Einen Augenblick betretenes Schweigen ringsum, dann brausende Hochrufe.
»Er will!« – »Er bleibt!! – »Er hat's versprochen!« »Es lebe unser Direktor!«
Keiner wußte, daß er den Schrei eines aufgerüttelten Gewissens gehört. Keiner ahnte, wem er gegolten. Hundert Hände streckten sich aus, die Rechte des Fabrikanten zu fassen.
Kommerzienrat Tychsen eilte herbei. »Niehuus, Freund, so ist es recht! Habe ich nicht gesagt, Sie kommen nicht los? Aber nun vorwärts! Erst Ihren Namen unter den Kontrakt!«
Der Fabrikant blickte mit wirren Augen um sich. Da waren sie alle wieder, an die er nicht mehr gedacht, alles war wie vorher. Nur das alte Gesicht war verschwunden, und die mahnenden Augen. Das Gedränge hatte sie verschlungen. Oder waren sie gar nicht da gewesen? Hatte seine Phantasie ihm Gespenster gezeigt?
Wie aus einem bösen Traum erwachend, sah Niehuus seine Braut an. »Was habe ich eigentlich gesagt?«
»Was du gesagt hast?« Daga blickte verwundert auf. »Ja, weißt du denn das nicht?«
»Ich möchte es von dir hören.«
»Du wirst bleiben.«
»Sie wollen es!« rief der Kommerzienrat. »Sie bleiben Direktor, wie der prächtige junge Mensch es Ihnen ans Herz legte. Er soll einen Freund an mir haben, der junge Mann. Aber davon nachher. Erst kommen Sie.«
Niehuus strich mit der Hand über seine Stirn. Um die Lippen spielte ein seltsames Lächeln. »Habe ich's gesagt, soll's dabei bleiben. Ein Mann, ein Wort!«
»Versteht sich! Kommen Sie nur. Für die Leute lassen wir ein paar Tonnen Bier auflegen. Kommen Sie.!«
Es war ein eigenartiger Blick, den Daga ihrem Verlobten nachsandte. Was war vorgegangen in der letzten Minute? Niehuus gab eine Zusage in auffallender, ganz ungewöhnlicher Form, gab sie allen früheren Entschlüssen zum Trotz Und wußte in derselben Sekunde nicht, daß er es gethan. Sein Versprechen hatte also einen anderen Sinn, galt einer anderen Sache, von der kein Mensch etwas ahnte. Was konnte das sein?
Und während der Rede war es geschehen. Etwas Fremdes hatte sich ihm zwingend aufgedrängt. Während der Rede unterjochte es sein ganzes Denken, Fühlen, Wollen derart, daß er das Bewußtsein der Gegenwart verlor und die Gewalt über sich selbst und seine eigenen Worte. Und er hielt fest an dem, was zu versprechen offenbar nicht seine Absicht gewesen war, er hielt fest daran, um nicht merken zu lassen, daß ein Geheimnis im Hintergrund schlief.
Eine Falte erschien zwischen Dagas Brauen. Es durfte kein Geheimnis geben, das sie nicht kannte. Hing die Person des Redner damit zusammen? Derselbe Mensch sprach vorhin mit Elsa.
Bald stand Daga vor dem Monteur.
»Ich danke Ihnen herzlich, Herr – Herr – Sehen Sie, nun weiß ich Ihren Namen nicht einmal!«
»Gützlaff.«
»Also herzlichen Dank, Herr Gützlaff. Sie haben erreicht, was keiner vermochte.«
Sie reichte ihm die Hand, und indem sie es that, fühlte sie gleichzeitig ihre herabhängende Linke ergriffen. Etwas Rauhes glitt streichelnd darüber hin.
Beinahe erschrocken gewahrte Daga harte, braune, knochendürre Finger auf ihrer zarten, weichen Haut. Dann blickte sie in ein gutes, altes, runzeliges Gesicht, in zwei treue, feucht schimmernde Augen.
»Er wird ja nun der Herr Direktor! Und Sie sind so jung und so schön – machen Sie ihn nur recht glücklich, liebes Fräulein.«
Dagas Züge erstarrten. Ihre Augen blickten strenge Abwehr, die Stimme klang eisig. »Wer sind Sie? Was wünschen Sie?«
»Meine Großmutter,« beeilte sich Robert Gützlaff zu erklären.
»So, Ihre Großmutter?« Ein wenig gedehnt kam es über Dagas Lippen. »Dann allerdings!«
»Ja, die Frau Neuhaus bin ich,« sagte die Greisin ruhig. »Und nun komm nur, Robert. Wir wollen nicht mehr stören.«
So gingen die beiden zurück nach den Tischen der Arbeiter. Robert achtete der Seltsamkeit der Greisin nicht weiter. In seinem Kopfe herrschte der Gedanke an Elsa.
Dagas Blicke folgten den Fortschreitenden. Die Falte zwischen ihren Brauen war tiefer als vorhin. Neuhaus … Niehuus. Hochdeutsch … plattdeutsch! War da ein Zusammenhang? Die aufdringliche Liebkosung der alten Frau galt offenbar nicht ihrer Person, sie galt der Braut des Fabrikanten. Verbarg sich da der Schlüssel zu Niehuus' Geheimnis? –
Lilli Tychsen hängte sich an Dagas Arm. »Na, Mädchen, wie gefällt dir dein zukünftiger Schwager?«
»Ich glaube, du bist nicht ganz bei Trost, Lilli.«
»Ich? – Ja, sag doch, was sollte die lange Unterhaltung mit Herrn Gützlaff? Du hast ihm gedankt … natürlich! Aber nur mit Worten. Thaten will ich sehen. Sei mir behilflich, ihn mit Elsa zu versöhnen, oder Elsa mit ihm.«
»Ich denke gar nicht daran!«
»Wie herb du das sagst. Gar nicht schwesterlich und gar nicht lieb.«
»Was geht mich die Kinderei an? Was kümmert sie dich?«
»Kinderei?« Lillis Blicke suchten die blaue Himmelsferne, beinahe schwärmerisch leuchtete es auf in ihren Augen. »Kinderei? Ach, Daga, wo hört sie auf und wo fängt die Glückseligkeit an? Hermann kommt uns nach. Ich kann's kaum erwarten, bis er hier ist. Und wenn er hier sein wird, necken wir uns. Das ist auch Kinderei. Und wie selig fühle ich mich dabei! Wer selber glücklich ist, will andere glücklich machen. Du nicht auch, Daga?«
Die Braut des Fabrikanten blieb die Antwort schuldig. Rastlos sprang ihr Geist von einem zum anderen. Neuhaus … Niehuus. Gützlaff … Elsa. Waren das wirklich Ringe, die sich schlossen? Griffen die Glieder ineinander zur Kette? – Mochten sie es! Ketten verbinden, aber Ketten erwürgen auch. Sich selbst vergessend, starrte Daga ins Leere; ihre Stirn lag in Falten.
Befremdet sah Lilli die Freundin an. »Was hast du nur, Daga? Woran denkst du?«
Daga besann sich auf die Gegenwart. Sie schob die Hand in Lillis Arm, die Augen blickten wieder heiter. »Worüber ich nachdenke? Mancher sieht das Glück als bescheidenes Veilchen, das duftig im Schatten blüht, dem anderen ist es ein funkelnder Stern, und Sterne glänzen am hellsten in kalter Winternacht. – Doch darüber soll man nicht streiten. Komm, Lilli!«