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Bleigrau lagert die Luft über dem Friedhofe. Schwere, schwarze Wolken hängen in der Windstille tief herab. Die Bäume recken ihre mageren, nackten, schwarzen Zweige unheimlich strotzend, wie verzweifelt, in das stille, drohende Grau der Luft hinauf.
Der Friedhof liegt öde da. Der Totengräber steht, auf seinen Spaten gelehnt, allein neben dem aufgeworfenen Grabe und sieht zu dem kleinen gotischen Leichenhause hinauf, das oben auf der Terrasse an dem oberen Ende des Friedhofes liegt.
Droben am Leichenhause haben sich einige Menschen versammelt: Studenten, Kadetten, Offiziere, Damen, Dirnen – und fünf, sechs schwarzgekleidete Musikanten, deren blitzende Instrumente zusammen mit den Uniformen der Kadetten und Offiziere, mit den Blumen und Bändern der Damenhüte, der Versammlung etwas Buntes geben, das gar nicht mit der bleigrauen Luft, der Totenstille und dem Schweigen ringsum in Einklang steht.
Im Leichenhause steht, mit Blumen und Kränzen bedeckt, der Sarg. Fünf, sechs verweinte Frauen sitzen auf Bänken die Wände entlang. Jarmanns Verwandte und nähere Bekannte stehen rund herum; nur die eine Ecke bleibt frei. Dort steht der Pastor, allein, feierlich vor sich hinstarrend, und wartet auf den Chef der Kriegsschule, der der Zeremonie beiwohnen soll.
Endlich kommt der Chef. Dem Pastor wird ein Zeichen gegeben, und er tritt an den Sarg, dahin, wo Jarmanns Kopf unter den Blumen ruht, sieht einen Augenblick feierlich über die Versammlung hin und beginnt dann:
»Ernstgestimmte Trauerversammlung! Wenn wir bei diesem traurigen Begräbnis nach altem kirchlichen Brauch ein Wort zum Lebewohl und zum Abschied sagen, so kann das in diesem Falle ebensowenig wie in einem anderen einem Urteil über den Verstorbenen gleichkommen. Wir Menschen haben nicht das Recht, ein solches zu fällen. Es steht ja geschrieben: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, und wir kennen auch ein anderes Wort: Wer will einen gefallenen Knecht richten? Jeder steht und fällt vor seinem eigenen Herrn. Und sollte also ein Gedanke in dieser Richtung in uns aufsteigen, so müssen wir diesen Gedanken überwinden und alles Gott anheimstellen. Wohl aber muß ein Wort gesagt werden, das über die erschütterte Gemütsstimmung Licht werfen kann, die uns, denke ich, alle bei der Nachricht von dem Geschehenen übermannt hat.
Was zuvor nicht einmal denen, die den jungen Mann am besten kannten, klar war, das steht uns allen klar vor Augen: Er hatte einen schweren Kampf zu bestehen ... mächtige Feinde umlauerten seine Seele ... er schwebte in großer Gefahr – und oftmals war er der Verzweiflung nahe. – Das können wir jetzt verstehen und ganz deutlich sehen, jetzt, wo die Hilfe, wo die Liebe der Menschen zu spät ausziehen, um ihn zu retten. Und da müssen wir den ernsten Gedanken uns zur Mahnung gereichen lassen, daß wir lernen müssen, unserem Seelenfeinde zu begegnen! Wir dürfen ihn nicht gering achten! Es ist eine schlechte Kriegskunst, die Stärke seines Feindes und seiner Waffen zu verachten. Nein, wir müssen der Gefahr ins Auge sehen und beizeiten auf den Feind achten, der uns umgibt, nicht zum wenigsten in unserer Zeit, wo so viele niederreißende Mächte Gewalt haben ...wo so mancher Zweifel an unsere Seele klopft ...wo so vieles das, was für heilig und erhaben gegolten hat, zerstört und vernichtet, und so vieles niederreißt und an Stelle dessen, was niedergerissen ist, nichts Neues aufbaut. Das sind gefährliche Feinde, die sogar den Glauben und die Kraft manches alten Mannes untergraben können – geschweige denn die Kraft eines Jünglings, der solch einer Wirkung ausgesetzt wurde.
Muß nun aber dies uns gesagt sein, die wir leben, so laßt es uns als eine Mahnung gesagt sein, als eine Warnung für uns, Junge und Alte, in dieser Stunde – was wir hier gelernt haben und was wir jetzt am besten begreifen und erwägen können.
Was weiterhin hier gesagt werden soll, ist dann nur ein Lebewohl für den Schüler, den Kameraden, den Freund. Er war ja doch auch ein Mensch, nach Gottes Bild geschaffen, er hatte seinen Platz in der Kriegsschule, er hatte dort seine Freunde und Bekannten und seine Vorgesetzten. Er war ja doch auch unter denen, an die sich die eine oder die andere Hoffnung knüpfte – und wohl nicht die geringste Hoffnung bei den Eltern, die so weit weg von hier wohnen. Und nun ist es also unsere Pflicht, ihm dieses Lebewohl zuzurufen als das letzte, das ihm hier auf Erden gesagt werden kann, und zu diesem Lebewohl auch eins zu fügen von seinen trauernden Eltern aus seiner fernen Heimat, die wohl jetzt bereits erfahren haben, was geschehen ist ... die am allermeisten darunter leiden werden ... und die wohl so niedergebeugt und zerknirscht werden durch die Nachricht, daß wir wohl, so wir uns in ihre Seele hineinversetzen, fast glauben müssen, es möchte sie dem Grabe näherbringen. – Und sollte sich bei den alten Leuten in ihrem Heim zu ihrem großen Kummer der versöhnende Gedanke gesellen, daß er doch noch so jung, daß er noch so unerfahren ... und daß er so unglücklich war; und sollte dieser Gedanke das Andenken an ihn etwas vergolden und eine kleine schwache Hoffnung über sein Grab hinaus wecken – dann werden wir, teure Versammlung ... wir werden nicht das Herz haben, den Eltern diese Hoffnung zu nehmen. Lassen wir sie der Hoffnung leben, wenn diese die Schmerzen ihrer Wunden einigermaßen zu lindern vermag.
Und dann wollen wir endlich das Gebet für uns selbst an Gott richten, der auch hier in dieser ernsten Stunde zugegen ist – das Gebet für uns alle: daß wir wandern möchten in der Furcht des Herrn alle unsere Tage, und daß wir immer uns des lieben Wortes erinnern möchten, das so ermunternd und einladend von Gott selber klingt, wenn er sagt: »Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.« – O, wenn etwas uns bedrückt, wenn die Verzweiflung ihr Grauen in unser Herz senken will – o, laßt uns dann nicht des guten Rates vergessen, den Gott uns selber gegeben hat, ihn in der Stunde der Not anzurufen! Dann wird er uns, ganz gewiß befreien, dann wird er für uns einen Ausweg finden, uns eine Aussicht eröffnen – daß wir in der Stunde des Kummers und Schmerzes nicht untergehen. Der Herr helfe uns allen dazu, um seiner Barmherzigkeit willen. Amen.« –
Der Pastor tritt feierlich in seine Ecke zurück, und dann wird ein Lied gesungen, das Jarmanns Kameraden für die Feier ausgewählt haben:
Geht nun hin und grabt mein Grab!
Meinen Lauf hab' ich vollendet,
Lege nun den Wanderstab
Hin, wo alles Ird'sche endet;
Lege selbst nun mich hinein
In das Bette sonder Pein.
Was soll ich hienieden noch
In dem dunklen Tale machen?
Denn wie mächtig, stolz und hoch
Wir auch stellen unsre Sachen,
Muß es doch wie Sand zergeh'n,
Wenn die Winde drüber weh'n.
Und dann spielt die Musik einen Trauermarsch, in dem das Kornett die ganze Zeit hoch oben im Diskant schreit – und der Zug ordnet sich, mit der Musik an der Spitze, und bewegt sich langsam und mit Mühe den schlüpfrigen, lehmigen Hügel hinab, während alle Dirnen zu beiden Seiten des Zuges sich schnell vorwärts drängen und zum Grabe eilen, um dort einen guten Platz zu finden.
Endlich ist man am Grabe angelangt. Die Musik hört auf, der Sarg wird hinabgelassen, der Pastor stellt sich zu Häupten des Sarges, der Trauermarschall zu Füßen Jarmanns, der Chef in die Mitte – und das Gefolge, mit der Musik in der Mitte, im Halbkreis rings herum. Auf der anderen Seite des Grabes stehen alle Dirnen und einige andere Zuschauer.
Der Kirchendiener reicht dem Pastor die Schaufel: »Von Staub bist du genommen, zu Staub sollst du werden, vom Staube wirst du auferstehen.« Und zwischen jedem Satze hört man die Erde dumpf auf den Deckel des Sarges aufschlagen.
Dann spielt die Musik denselben Trauermarsch aufs neue, während der Pastor, der Chef, auch viele andere auf die Bretter über dem aufgeworfenen Grabe hinaufsteigen und hinabsehen, die Zivilisten den Hut vor dem Gesicht, das Militär die Hand an der Mütze.
Zu Füßen des Grabes aber, halb auf der aufgeworfenen Erde, steht groß und finster Hjalmar, den Marschallstab mit der linken Hand in die Erde gepflanzt, die Rechte am Mützenrand, leicht vornübergeneigt, in ehrerbietiger Stellung – wie an jenem Abend, an dem er von dem Verstorbenen Abschied genommen hatte. Der schwarze Trauerflor hängt von seinem Arm herab, und die Tränen stürzen über das magere, braune, steinharte, reglose Gesicht, während die Musik ihre Trauertöne spielt, das Kornett im Diskant schreit und die Bäume die mageren, nackten, schwarzen Arme verzweifelnd in die bleigraue Luft emporrecken.
Dann hört die Musik auf. Das Gefolge löst sich auf und geht langsam, gruppenweise und einzeln, die schlüpfrige, lehmige Anhöhe wieder hinauf, auf das Leichenhaus zu.
Und dann sind sie alle verschwunden, und Jarmann bleibt allein auf dem öden Friedhof liegen und verfault unter Blumen und Kränzen.