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Das waren traurige Tage. Einen um den anderem verbrachte ich damit, daß ich auf dem Sofa lag und gedanken- und gefühllos dem langweiligen Zigarrenrauch nachblickte, schlaffer Apathie verfallen, mit dem Gefühl eines schwer lastenden Druckes auf dem Gehirn.
Da ertappe ich mich eines Tages dabei, wie ich, auf dem Sofa liegend, in Gedanken dem feinen moralischen Publikum, das mich in die Lage gebracht hatte, eine Rede halte ...
Zum Teufel auch, das wäre doch ein Spaß, die Rede wirklich zu halten! ...
Wie sollte das aber gemacht werden?
Im Arbeiterverein? Nein, pfui Teufel, davon hatte ich genug bekommen ...
Im Studentenverein? – Ja, vielleicht konnte ich dort meinen Ruf retten und ihn dann auch beim großen Publikum wieder herstellen ... und vielleicht konnte dann noch alles gut werden ...
Ich mußte aber einen Anlaß haben, denn sonst sah es so merkwürdig aus ...
Ich dachte eine Weile über die Geschichte nach.
... Ja, richtig, Professor Lochmanns Thesen, die er bei der Diskussion über Irgens Hansens Vortrag »Die jüngste akademische Generation« aufgestellt hatte – das war ja eine brillante Grundlage. Die erste Hälfte dieser mehr als dreißig Thesen, die von der Unzuverlässigkeit der Wissenschaft handelte, war von Andreas Hansen bekämpft worden, der noch auf Lochmanns Entgegnung wartete; über die zweite Hälfte, die von Determinismus und freiem Willen handelte, war noch nichts Wesentliches gesagt worden – das konnte ich benützen ...
Ich arbeitete einen Vortrag aus und meldete ihn beim Vorstand an, der ihn für Sonnabend ankündigen ließ.
Ich kam etwas nach neun Uhr in das Vereinslokal. In dem kleinen Gang, der von der Garderobe nach dem kleinen Saal führt, blieb ich einen Augenblick stehen und sah in den Festsaal hinein. Er war gestopft voll. Bei diesem Anblick bekam ich Lampenfieber. Verflucht, darüber, hatte ich geglaubt, wäre ich hinaus.
Ich horchte einen Augenblick. Es wurde die Bierzeitung vorgelesen. Dann hatte ich noch reichlich Zeit. – Aber das verflixte Fieber; mir zitterten die Knie ...
Ich ging in den kleinen Saal, in dem sich außer den Kellnern niemand befand, setzte mich auf die Polsterbank dem Podium gegenüber, stärkte mich mit einem Glas Bier und zündete eine Zigarre an ....
Aus dem Festsaal klang eine Lachsalve herüber ... sie amüsierten sich also. Ich versuchte zuzuhören, konnte aber den Zusammenhang nicht verstehen ... Ich war auch zu aufgeregt! .... Wenn es doch erst vorüber wäre; diese Wartezeit war ja unerträglich ...
Ich verlangte eine Flasche Selters, die ich öffnen wollte, wenn die Bierzeitung vorgelesen war.
Die wollte aber kein Ende nehmen. Eine Lachsalve folgte auf die andere; es wurde aber immer weitergelesen ...
Endlich! – Ich öffnete die Flasche, goß das Wasser ins Glas und ging in den Saal.
Zwischen der Tür und dem Podium, als ich mich eben, das Glas in der einen, die Zigarre in der anderen Hand, durch die Menge hindurchdrängte, begegnete ich dem Vorsitzenden, der ein Gesicht zog, als wäre irgend etwas nicht in Ordnung.
»Na, da sind Sie ja!« sagte er wie ein Schulmeister, der einen davongelaufenen Schüler wiedergefunden hat, ging eilig zurück und stieg wieder auf das Katheder.
Und kaum war ich am Fußende des Katheders angelangt, als er auch schon mit einer Handbewegung nach der Richtung, in der ich stand, sagte: »Bitte! Herr Eek hat das Wort.«
»Da meine Stimme nicht stark ist,« sagte ich, »möchte ich gerne vom Katheder aus sprechen. Von dort aus wird man am besten verstanden.«
Dem Vorsitzenden war anzusehen, daß ihm das nicht gefiel. Er wies auf den tieferliegenden Seitenabsatz des Katheders hin: »Sie können ja dort stehen.«
Ich merkte den Widerwillen des Mannes und wurde ärgerlich. Und das war ganz gut; denn damit war das Fieber verschwunden. Ich stieg die eine Stufe hinauf und probierte, ob ich auf dem kleinen Seitenabsatz Raum für meine Ellenbogen hatte; er war aber zu schmal. – »Nein, hier kann ich nicht stehen,« sagte ich dann, stieg, ohne weiter zu fragen, hinauf und drängte den Vorsitzenden zur Seite, ihn keines Blickes würdigend. Er blieb neben mir stehen, ohne ein Wort zu sagen; mit gerade wohlwollenden Blicken sah er mich aber, wie ich später hörte, nicht an. Im Saale ging es noch ziemlich lärmend zu, und ich blickte deshalb eine Zeitlang ganz ruhig über die Versammlung hin.
»Wollen Sie nicht anfangen?« fragte der Vorsitzende in schulmeisterlichem Tone.
»Erst muß es still geworden sein.«
Der Vorsitzende forderte daraufhin die Anwesenden auf, sich ruhig zu verhalten, und als es dann endlich einigermaßen still geworden war, fing ich an.
Ich sagte: »Meine Herren! Herr Professor Lochmann hat uns noch nicht das Vergnügen bereitet, seine Einwendungen gegen den Vortrag vorzubringen, den Andreas Hansen hier im Studentenverein gegen ihn und seine Thesen gehalten hat; ich will nun ein Supplement zu diesem Vortrage Hansens liefern und ich hoffe, daß Herr Lochmann mir das Vergnügen bereiten wird, auf das, was ich jetzt sage, zu antworten, und daß er gleichzeitig auf das antworten wird, was Herr Hansen vorgetragen hat.
Herr Professor Lochmann hat in einer Reihe von Jahren durch sein Auftreten im Studentenverein die moderne Wissenschaft in den Augen der jungen Studierenden zu verdächtigen versucht – wenigstens hat er ihr gegenüber Vorsicht angeraten – und wie man aus seinen Thesen ersieht, war sein wesentlicher Grund der, daß die moderne Wissenschaft den freien Willen verdächtigt – und an dem freien Willen will Herr Lochmann festhalten. Dieses Grundmotiv für das Auftreten des Herrn Lochmann will ich hier im Speziellen behandeln; es ist nämlich von Hansen nur beiläufig berührt worden.
Abgesehen davon, wie es eigentlich mit dieser Frage: freier Wille oder nicht freier Wille? steht, gibt es schon von vornherein gewichtige Gründe, die dafür sprechen, nicht an dem freien Willen festzuhalten; es verhält sich ja nämlich so, daß, wenn der Mensch freien Willen hat, das heißt, wenn ein Mensch, der so und so ist, bei diesen und jenen inneren und äußeren Verhältnissen handeln kann – nicht nur so, wie er wirklich handelt, sondern ebensogut in gerade entgegengesetzter Weise, daß ja dann alle Gesetzmäßigkeit auf psychologischem Gebiete aufgehoben ist. Und dann ist ja ein psychologisches Kunstwerk wie eine psychologische Wissenschaft ganz unmöglich. Denn ein psychologisches Kunstwerk stellt ja nichts anderes dar, als ein Mensch, der so und so ist, unter den und den inneren und äußeren Verhältnissen so und so handeln muß und nicht anders handeln kann; es ist mit anderen Worten eine Darstellung der psychologischen Gesetze in concreto. Und eine psychologische Wissenschaft ist ja nichts anderes als eine Darstellung dieser selben psychologischen Gesetze in abstracto. Gibt es nun also solche psychologischen Gesetze nicht, so kann es ja auch keine Darstellung von ihnen geben, und dann gibt es also weder ein psychologisches Kunstwerk, noch eine psychologische Wissenschaft; beides ist dann gleich unmöglich. Im Interesse der Kunst und der Wissenschaft liegt also schon von vornherein aller Anlaß vor, nicht an dem freien Willen festzuhalten.
Und weshalb soll man nun überhaupt an ihm festhalten?
Ja, meine Herren, aus Rücksicht auf die Moral müssen wir an dem freien Willen festhalten. Gibt es nämlich keinen freien Willen, dann gibt es auch keine Zurechnungsfähigkeit, und gibt es keine Zurechnungsfähigkeit, so fällt ja damit auch die Moral weg; denn es geht ja nicht an, die Moral gegenüber unzurechnungsfähigen Wesen geltend zu machen. Also: aus Rücksicht auf die Moral müssen wir an dem freien Willen festhalten.
Weshalb aber halten wir an der Moral fest? –
Aus Rücksicht auf die Kunst und Wissenschaft? Nein, diese fordern lediglich Gesetzmäßigkeit und nicht Moral. Oder etwa aus Rücksicht auf die Gesellschaft? Nein, die Gesellschaft braucht nur ihre Gesetze und die Institutionen, durch die sie diese Gesetze durchführt. Mehr braucht die Gesellschaft nicht, um zu bestehen, und wenn wir also die Moral wegnehmen, so stürzen wir damit die Gesellschaft noch lange nicht über den Haufen. Die Bestrebungen, die Moral auszurotten, sind nicht gesellschaftumstürzend.
Nachdem ich gründlich meine Ansicht über die Unmöglichkeit eines freien Willens und über die Gegensätze zwischen ihm und Religion, ökonomische und politische Freiheit, und Gesellschaft und Individuum geäußert, fuhr ich fort: Gott oder Welt? Es sind zwei verschiedene Willen, von zwei himmelweit verschiedenen Sympathien getragen, die sich hier gegenüberstehen. Und es kann gar nicht davon die Rede sein, darüber zu diskutieren, welcher von diesen beiden Willen der richtigste ist. Wessen Sympathien nun einmal in der Richtung auf die ewige Seligkeit im Himmel gehen, der will die ewige Seligkeit gewinnen, und wessen Sympathien nun einmal in der Richtung auf die Freiheit gehen, der will die Verwirklichung der Freiheit hier auf Erden. Und des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Die einzige Diskussion, von der hier die Rede sein kann, ist eine Diskussion innerhalb der einzelnen Parteien, eine Diskussion, durch die die Anhänger der Partei zur Klarheit darüber kommen, was die Partei eigentlich will und welche Mittel sie anwenden muß, um diesen ihren Willen durchzusetzen. Im übrigen aber keine Diskussion – nein, Kampf auf Leben und Tod darum, wer die Sympathien der aufwachsenden Generation an sich reißen und damit ihren Willen zu seinem Willen machen kann.
Meine Herren! Es ist klar, daß die, die die ewige Seligkeit im Himmel wollen und die deshalb Christum und Moral aufrecht zu erhalten wünschen, daß die auch an dem freien Willen festhalten müssen, weil die Moral und infolgedessen das Christentum den freien Willen zu ihrer Voraussetzung haben, und es ist auch klar, daß die Menschen, die sich zwar nicht viel um die ewige Seligkeit kümmern, die sich aber einbilden, daß sie sich am besten stehen werden, wenn die gegenwärtigen Gesellschaftszustände beibehalten werden, und die erkennen, daß Christentum und Moral das beste Mittel sind, um diese bestehenden Gesellschaftszustände zu erhalten – es ist klar, sage ich, daß auch diese Menschen sich denen anschließen, die die ewige Seligkeit wollen, und mit ihnen an dem freien Willen festhalten müssen. Ebenso klar ist es ja aber, daß wir anderen, die wir uns nach einer freien Gesellschaft freier Menschen hier auf Erden sehnen, daß wir an dem freien Willen nicht festhalten können, wenn auch Christentum und Moral voraussetzt, daß der Mensch, freien Willen hat. Im Gegenteil: gerade weil Christentum und Moral den freien Willen zur Voraussetzung haben, gerade deshalb müssen wir schon von vornherein im Namen der Freiheit den freien Willen leugnen. Und kommt dann dazu, daß Kunst und Wissenschaft das Gegenteil von freien Willen voraussetzen, so meine ich, können wir getrost dem freien Willen den Abschied geben und ihn für sich selber sorgen lassen.«
»Frech!« zischte Monrad zu Lochmann hinüber, als ich schloß.
Es war, während ich sprach, ganz still geworden. Dem Vorsitzenden war es neben mir bald unbequem geworden; er war zurückgetreten und hatte die ganze Zeit mit gekreuzten Armen, an die weiße Wand gelehnt, dagestanden. Von dort aus hatte er während des ganzes Vortrages mit seinem blassen scharfen Gesicht und den tiefliegenden, aus der Entfernung tiefsinnig aussehenden Augen feierlich über die Versammlung geblickt – zuweilen auch einen strafenden Seitenblick auf mich Armen geworfen.
Als ich vom Katheder herunterstieg, war es im Saale mäuschenstill. Und selbst nachdem ich auf der Bank gleich unter dem Katheder Platz genommen hatte, neben Professor Monrad, der mit seinen ausdruckslosen Fischaugen ins Leere starrte, herrschte noch einige Sekunden lang eine dumpfe Stille, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
Nun war aber der Vorsitzende wieder aufs Katheder gestiegen und hatte ernst über die lautlose Versammlung hingeblickt. Endlich öffnete er seinen Mund und sagte: »Der Vorstand hat Herrn Eek erlaubt, diesen Vortrag zu halten – er kannte ja den Inhalt nicht; ich glaube aber nicht, daß der Verein an dieser Stelle solch unreifes Auftreten wünscht ...«
Ein stürmischer Beifall brach los, und ich dankte meinem Schöpfer, daß ich doch der erste Redner war, der von seiten dieses Mobs keinen Beifall geerntet hatte.
Da stand aber Irgens Hansen mit zornrotem Gesicht auf und rief: »Es ist ungehörig, was der Herr Vorsitzende sich erlaubt hat: anstatt gegen einen Vortrag, dem er nicht zustimmt, Gründe vorzubringen, hat er ihn mit einem tadelnden Prädikat abfertigen wollen. Und doppelt ungehörig ist es, wenn so etwas nicht von einem gewöhnlichen Vereinsmitglied, sondern vom Vorsitzenden selber geschieht.
Abermals stürmischer Applaus. Dann fuhr Irgens Hansen fort:
»Wenn der Herr Vorsitzende sich übrigens mit Herrn Eek in eine Diskussion einlassen wollte, so fürchte ich, würde es der Herr Vorsitzende sein, der den Kürzeren zöge!«
Lebhaftes Zischen.
Als es wieder still geworden war, bestieg der alte Lochmann das Katheder. Den Kopf schief geneigt, starrte er auf seine gekreuzten Arme hinab und sagte mit seiner schwachen, dünnen Stimme: »Ich glaube, wir müssen Herrn Eek sehr dankbar sein für die überaus schöne Art, wie er uns das Wesen des Christentums geschildert hat. Ich muß wirklich gestehen, ich wurde dabei ganz andächtig gestimmt. Im übrigen will ich sagen, daß ich im wesentlichen mit Herrn Eek völlig übereinstimme; auf der anderen Seite stimme ich aber natürlich mit ihm im wesentlichen durchaus nicht überein. Er hat ganz richtig präzisiert, worum sich der Kampf eigentlich dreht; aber ich kann natürlich die Partei nicht ergreifen, die er ergriffen hat. Es wird mir ein Vergnügen sein, den Vortrag des Herrn Eck zugleich mit dem des Herrn Hansen zu widerlegen; heute abend bin ich aber nicht darauf vorbereitet.«
Darauf stieg er wieder vom Katheder herunter und setzte sich neben seinen Genossen Monrad, der immer noch mit seinen häßlichen Fischaugen über die Versammlung hinglotzte.
Dann äußerte Herr Mourly Vold – der Philosoph, der sich einige Jahre später um die Professur für Philosophie bewarb – der Vortrag habe einen Widerspruch enthalten: anfangs sei ja der freie Wille geleugnet – und später immer von Freiheit geredet worden.
Ich klärte den philosophischen Herrn darüber auf, daß es sich bei der Freiheit um die Fähigkeit handelt, den Willen durchzuführen, den man hat, während die Annahme des »freien Willens« darauf hinausläuft, daß man unter denselben Verhältnissen einen anderen Willen soll haben können als den, den man wirklich hat.
Nachdem diesem törichten Einwand auf diese Weise begegnet worden war, verlangte niemand mehr das Wort.
Als dann das langweilige, traditionelle Punschgelage begann, gingen wir anderen in das Restaurant, wo wir bis vier Uhr sitzen blieben, schwatzten und tranken.
Am nächsten Tage suchte ich um die Mittagszeit Jarmann auf; er hatte nicht in den Studentenverein kommen können, da er wegen rückständiger Beiträge ausgeschlossen worden war.
Er lag, eine Pfeife rauchend, auf dem Sofa – in Wergelands Gedichten vertieft. Ich las ihm den Vortrag vor. Als ich fertig war, sagte er: »Das war keck. Da haben sie endlich einmal das ganze Programm zu hören bekommen.«
Nach einiger Zeit setzte er aber traurig hinzu: »Ich glaube aber nicht, daß das etwas helfen wird.«
»Das glaube ich auch nicht.«
Wir blieben noch eine Weile sitzen und sahen uns mit traurigen Mienen an. Dann steckte ich das Manuskript in die Tasche und ging.
Das Ganze hatte auch wirklich nur den Erfolg, daß einige Konservative, die den Vortrag gehört hatten, äußerten, »Ja, da könnten sie begreifen, daß man Liberaler sein könne.« Das Ganze war also völlig vergebens; ich war und blieb sozial unmöglich.