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Auf dem Heimwege traf ich Jarmann. Ich hatte ihn darauf vorbereitet, daß an diesem Tage die Schlacht geliefert werden sollte.
»Hast du mit ihr gesprochen ... wie ist es gegangen?« fragte er lebhaft.
»Schlecht!«
»N–nein? ... Erzähle!«
»Komm' mit zu mir. Wir wollen in aller Ruhe einen Toddy trinken, und dann sollst du hören.«
Er kam mit. Der Toddy wurde gebraut, und bei einer Zigarre erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Er hörte sehr andächtig zu, unterbrach mich nur zuweilen mit einem Ausruf oder mit seinem gewöhnlichen kichernden Lachen, sobald etwas kam, was ihm besonders zusagte.
»Glaubst du, daß es gehen wird?« fragte er, als ich zu Ende war.
»Wenn sich diese Vorstellung mit den anderen Vorstellungen in ihrem Hirn einordnet – ja.«
Er lachte vor sich hin: »Nein, wie hübsch das werden wird!«
»Ja. Und gelingt es, dann will ich die heutige Unterredung niederschreiben, auch die eigentliche Verführungsszene – und wenn sie dann später einmal entweder zu Grunde geht oder etwas wird, dann arrangiere ich eine letzte Szene mit ihr, und schreibe die auch nieder – und dann veröffentliche ich das Ganze.«
Jarmann war aufgestanden und ging mit nervösen Schritten im Zimmer auf und ab. »Hol' mich der Teufel,« sagte er, »das wäre etwas; das zu lesen wäre den Leuten gesund, – und sie würden es auch lesen.«
Nach einer Weile blieb er stehen, sah mich an und sagte lachend: »Die Geschichte mit dem Wäschermädel war wirklich ein ausgezeichnetes Beispiel. Darauf kommt es gerade an: daß man das, was man tut, freiwillig tut« – und er trank einen tüchtigen Schluck Toddy, blies eine dicke Rauchwolke in die Luft und ging wieder einige Male im Zimmer auf und ab, blieb dann wieder stehen und lachte sein herzliches, kollerndes Lachen. »Du,« sagte er, »du solltest Dozent der Moralphilosophie an der Universität sein – das wäre etwas anderes als diese Monrad und Lyng – hehehe!«
Und er setzte sich in den Schaukelstuhl, stützte sich mit den gekreuzten Armen auf den Tisch und sah mir mit großen, glänzenden Augen ins Gesicht: – »Ist es nicht wirklich zum Teufelholen, daß nicht du Philosophie-Professor sein kannst an Stelle dieses Idioten!«
Ich lachte. »Ich fürchte,« sagte ich, »es würde in meinen Vorlesungen nicht viel Abwechslung geben. Übrigens – und wenn ich auch nicht Professor bin, so beabsichtige ich doch, als Lehrer aufzutreten.«
»Wo denn?«
»In einer Mädchenschule.«
»Du bist wohl verrückt!« Er lehnte sich im Schaukelstuhl zurück und lachte.
»O nein. Du weißt, daß ich immer dafür geschwärmt habe, Lehrer an einer Mädchenschule zu werden. Jetzt will ich selber eine errichten.« »An der Schule mußt du mich aber wahrhaftig Lehrer werden lassen!« Er schlug auf den Tisch und sah mich begeistert an. Ich schüttelte den Kopf und strich die Asche von meiner Zigarre: »Nein,« sagte ich, »das geht nicht, dazu fehlen dir alle Vorbedingungen.«
»So!« sagte er niedergeschlagen. »Was für eine Art von Schule soll es denn sein?«
»Ich will es dir erklären,« sagte ich, während ich mir einen neuen Toddy zubereitete. »Du begreifst doch, daß Lily im Grunde genommen zu alt ist – schon zweiundzwanzig Jahre – außerdem ist sie nicht hübsch genug. Selbst wenn sie, trotz ihres Alters, sich bekehren läßt, geht sie wahrscheinlich doch verloren. Im Dienste der Freiheit können wir jetzt eigentlich nur hübsche Mädchen brauchen – und dann müssen sie von frühester Jugend an erzogen werden – prosit!«
»Prosit! – Glaubst du, daß das notwendig ist ... daß sie so jung angelernt werden müssen?«
»Ja. Nur dann kann man sie ganz gewinnen.«
»Wieso?«
»Das ist doch leicht zu begreifen: Denke dir ein junges, hübsches Mädchen im Alter von fünfzehn bis sechzehn Jahren, üppig und lebensfrisch, und geschlechtlich gut begabt – das muß sie ja sein – denk' sie dir in der Zeit, da eben das Liebesbedürfnis und die Liebessehnsucht erwacht sind und das Leben wie ein lichter Traum vor ihnen liegt – lauter Liebe! ... Und stelle dir dann vor, wie die Liebe behandelt wird – nicht in Büchern, da wird sie ja bis zu einem gewissen Grade geduldet, aber im wirklichen Leben: man betrachtet sie wie einen wilden Vogel, der sich verflogen hat, fängt sie, zähmt sie und steckt sie in ein Bauer, wo sie verkümmert und durch Familienwärme und Mutterliebe ersetzt wird – und damit ist ihre Geschichte zu Ende. Wenn aber nicht, wenn wirklich eine neue Liebe aus der Asche der alten erstehen sollte, dann wehe dem Weibe, das sie nicht tief in seiner Brust verschließt und den Tod der Einsamkeit sterben läßt – denn die Geschichte soll zu Ende sein! ...
Gut! Bringen wir nun das junge Mädchen, dessen Leben bisher nur den einen Inhalt: die Liebe hatte, dazu, daß sie das versteht – öffnen wir ihr die Augen, daß sie das als das Schicksal der Liebe in der Gesellschaft, in die sie eintreten soll, erkennt ... sie wird darüber aufs tiefste empört werden, und du wirst in ihr einen mächtigen Haß erzeugen können und einen wild begeisterten Trotz gegen all das, was daran schuld ist, daß die Liebe auf diese Weise zugrunde geht. Und verliebt sie sich dann in einen ganz freien Mann, der sie wieder liebt, aber nicht will, daß ihre Liebe in der Form der Familienwärme und Kinderliebe sich überleben und sie beide unfähig machen soll, überhaupt zu lieben – dann ist sie gerettet. Dann gibt sie sich ihm unbefangen hin und nimmt den Kampf gegen die Vorurteile der Gesellschaft auf – mutig und sicher, weil sie nicht dieselben Vorurteile in ihrer eigenen Brust zu bekämpfen hat.
Anders sind die Chancen, wenn sie in dem Alter, in dem das Liebesbedürfnis und die Liebessehnsucht in ihr erwachen, sich selber überlassen bleibt – wie geht es nämlich dann? ...
Na, du hast ja die kleinen Mädchen auf Karljohann bemerkt, die herrlichen Geschöpfe, die scharenweise herumstreifen und über wer weiß was lachen und sich amüsieren, ohne daß die meisten sie weiter beachten – »es sind ja nur Schulmädchen«. Eines schönen Tages ist aber eine von ihnen erwachsen. Man hat den Übergang gar nicht bemerkt. Jetzt sieht man's: die Brust ist voll geworden, die Hüften rund, die Figur hat die eigenartige jungfräuliche Anmut bekommen, die nur dieses Alter besitzt. Und sie geht nicht mehr in Gesellschaft der anderen. Nein, allein, höchstens mit einer Freundin zusammen, schreitet sie mit verwunderten, aufgeweckten Augen umher und wittert nun gleichsam nach dem Dasein, um über diejenige seiner Seiten Bescheid zu erhalten, die sich ihr jetzt erschlossen hat – die personifizierte Empfänglichkeit.
Das dauert aber nicht lange – einige wenige Monate, und es ist vorbei: die Hoffnung ist betrogen worden: es w ar nichts. Und der verwunderte, aufgeweckte Ausdruck in den Augen verschwindet, die Figur schrumpft gleichsam wieder ein, das Ganze sieht schlaffer aus, der Duft ist weg ... und dann siehst du sie wieder in Gesellschaft mit den anderen herumstreifen, lachen und sich amüsieren.
Das geht jetzt aber eigentlich nicht mehr an: jetzt soll sie ja erwachsen sein. Und da müssen die Mutter und ältere Freundinnen und Bekannte sich ihrer annehmen und sie darüber belehren, was schicklich und passend ist. Und wenn sie dann ihrer mädchenhaften Art am schicklichsten und passendsten ein Schnippchen schlägt, dann erklären sie ihr, daß es davon bis zum Unmoralischen nur einen Schritt ist. Und das Unmoralische kann sie ja fürs ganze Leben unglücklich machen.
Dann wird sie bedenklich, fängt an auf diese Vorstellungen zu hören, und nach und nach frißt das Schickliche und das Passende, um von dem Moralischen nicht zu reden, sich in ihr Fleisch ein und geht schließlich ins Blut über – und dann siehst du sie im Alter von siebzehn Jahren bescheiden wie ein wohlerzogenes, heiratsfähiges Mädchen einherschreiten, das sich von erwachsenen Herren den Hof machen läßt und auf einen Freier wartet.
Mache dann den Versuch, ihr die Augen zu öffnen! Versucht es dann , ihr beizubringen, daß all das, was ihr eingeimpft ist, nur Vorurteile sind – noch dazu Vorurteile, die das vernichten werden, was ihres Lebens Glück ausmachen sollte!
Wahrscheinlich wird sie dich dann kurz und bündig abweisen.
Selbst dann, wenn du sie nach langer, mühseliger Arbeit zum Verständnis bringst – Herrgott, dann hat sie ja das Gift im Blute, die Vorurteile sitzen tief in ihr selber fest, und dann will es etwas heißen, sie loszuwerden. Natürlich kann sie auch jetzt noch gerettet werden. Aber nur zwei Dinge können sie noch retten: entweder eine wirkliche tiefe, alles überwindende Liebe zu einem ganz freien Manne – dann fühlt sie, daß das Recht der Liebe das stärkere ist, schiebt alle Rücksichten beiseite und gerät mit der Gesellschaft in Konflikt. Oder eine wirklich tiefe Liebe zu einem gewöhnlichen Gesellschaftsmenschen, den sie aber der Verhältnisse wegen nicht bekommt. Dann kann sie nämlich, wenn alles verloren ist, wenn das Leben öde vor ihr liegt und sie hinterher zu der Einsicht kommt, daß die Geschichte mit der Moral nur Vorurteil ist, von Wut darüber erfaßt werden, daß der, den sie liebte und der sie liebte, sie nicht »genommen« hat) sonst wäre sie ja wenigstens nicht um ihr ganzes Lebensglück betrogen worden. Und dann kann sie vielleicht auf dieselbe Weise gerettet werden, die ich jetzt bei Lily versuche. Das Unglück ist aber, daß eine solche wirklich starke Liebe nicht auf Bäumen wächst, und im speziellen in einem Menschen, für den das Schickliche, Passende und das Moralische das Höchste in der Welt darstellt, natürlich nur schwer entsteht.
Und deshalb gilt es, wie gesagt, die Mädchen von früher Jugend auf zu erziehen. Und deshalb soll meine Schule für Mädchen von vierzehn bis sechzehn Jahren sein.«
Jarmann hatte, während ich sprach, im Schaukelstuhl zurückgelehnt dagesessen und nachdenklich stark geraucht.
»Woher in aller Welt willst du aber die Schülerinnen bekommen?« fragte er verwundert.
»Ach,« sagte ich und zündete meine Zigarre wieder an, die mir ausgegangen war: »ich habe schon so halb und halb einige.«
»Nein! – Erzähle!« Und er steckte beide Hände in die Hosentaschen, lehnte sich zurück und sah mich, die Zigarre zwischen den Zähnen, fest an.
»Das ist eine ganze kleine Geschichte,« sagte ich. »Bereite dir noch ein Glas Toddy, dann sollst du alles hören.« Und er braute sich einen Trank, und ich erzählte:
»Vor fünf bis sechs Jahren begegnete ich immer einem ganz hübschen jungen Mädchen mit einem merkwürdigen Gesicht – bleich, stark sinnlich, mit einem Zug von Trotz und Verachtung um die fest zusammengebissenen Lippen; sie mochte wohl sechzehn, siebzehn Jahre alt sein. Ich sah sie, so oft wir uns begegneten, fest an, und sie sah mich wieder an, mit einem Paar Augen, daß es mir durch alle Glieder ging. Gleichzeitig aber schürzte sie die Lippen so überlegen höhnisch lächelnd ... als wollte sie sagen: ich weiß wohl, daß ich hübsch bin, und ich weiß, was Sinne sind, komm mir aber nicht zu nahe! Die Augen zogen mich an, die Lippen stießen mich ab.
Ich hatte starke Lust, sie kennen zu lernen; es wurde aber niemals etwas daraus. Ich hatte nicht den Mut zum Angriff, und eines schönen Tages verschwand sie und kam mir ganz aus dem Gesichtskreis – bis sie neulich plötzlich wieder auftauchte. Aber nicht mehr als dieselbe von früher. Die blassen, stark sinnlichen Züge waren schlaff geworden, die Augen, die strahlenden Augen, matt und stechend; sie litt in unheimlichem Maße an Bleichsucht, und das höhnische, herausfordernde Lächeln war bitterbös geworden; sie sah aus, als wollte sie am liebsten beißen. Es wäre wahrhaftig kein Vergnügen gewesen, sie wieder zu sehen, wäre sie nur allein gekommen. Mit ihr zusammen tauchte aber auch eine jüngere Schwester auf, ein Schulmädchen von fünfzehn bis sechzehn Jahren, frisch, keck und üppig, mit halblangem Rock und zwei langen schwarzen Schulmädchenzöpfen im Rücken. Die Kleider hingen etwas verwahrlost an ihr herab, sie waren auch etwas abgetragen und die Schuhe ausgetreten; sie schritt aber schlank und sicher, beinahe übermütig die Straße hinab mit keck gewölbter Brust und einem schwachen Wiegen der Hüften, als fühlte sie sich stark als Weib. Und aus dem vollen, naiv-sinnlichen Kindergesicht mit dem braunen, mattgoldenen Teint spähten zwei wunderbare braune Kinderaugen froh und unternehmungslustig heraus, während ein munteres Lächeln ihre roten Kußlippen umträumte. Ein Kind mit Geschlecht! das war der Totaleindruck.
Zuerst begegnete ich ihr immer in Begleitung ihrer älteren Schwester, die ihr erzählt haben mochte, daß ich sie seiner Zeit vergebens angeschmachtet hatte, und wie wenn das eine unverschämte Frechheit von mir gewesen wäre, beehrte mich die jüngere mit einem überlegenen, verächtlichen Lächeln. Das Lächeln verletzte mich aber nicht, es freute mich herzlich, damit bedacht zu werden, weil es erstens so schön war und mir zweitens einen guten Anlaß gab, ihr wieder keck ins Gesicht zu lächeln und den kindlichen, unschuldig-sinnlichen Ausdruck in ihren Augen zu genießen – du kannst mir glauben, sie hat ein paar Augen: ganz einfarbig braun mit dicker Hornhaut, die ihnen einen eigentümlichen Glanz verleiht, und voller Leben. Und wie sie einen ansehen kann!
Na, eines Tages gehe ich nun mit Fritz Hassel auf Karljohann spazieren. Sie geht vor mir mit einer Freundin zusammen, wir schreiten an ihnen vorüber, ich drehe mich um, bekomme mein gewöhnliches Lächeln und gehe weiter – da packt mich Fritz plötzlich am Arm und hält mich auf: »Hahaha!« lacht er, »sie streckt dir die Zuge heraus.«
Ich wandte mich blitzschnell um, sie zog die Zunge ein, und sie, ihre Freundin, Fritz und ich, wir blieben einander gegenüber stehen und lachten. Bis Gerda – so heißt sie – ihre Freundin beim Arme nahm und in die Königstraße hineinzog, an deren Ecke wir standen.
Fritz und ich, wir gingen dann weiter bis zur Post. Als wir aber zurückkehrten und die Königstraße passierten, kam Gerda gerade allein zurück, lachte uns zu, aber etwas ängstlich, bog schnell um die Ecke und eilte weiter. Wir gingen lachend hinterdrein, sie wurde immer ängstlicher, und nachdem sie ein paarmal vergebens versucht hatte, uns los zu werden, indem sie bald sehr langsam ging, um uns vorbeizulassen, bald wieder sehr schnell, um uns zu entfliehen, fing sie plötzlich zu springen und zu laufen an, und wir sahen sie schließlich nach der Drammensstraße zu verschwinden.
Seit jenem Tage lächelte sie nicht mehr verächtlich, wenn sie mir begegnete, sie lachte schelmisch, und streckte zuweilen auch die Zunge heraus: wir standen jetzt auf weit vertraulicherem Fuße.
Da wandelte mich eines Tages, als ich ihr wieder begegnete und wir wie gewöhnlich uns zugelächelt hatten, unmittelbar nachdem ich an ihr vorübergekommen war, die unbezwingliche Luft an, ihr noch einmal in die herrlichen Augen zu sehen. Ich kehrte um, ging an ihr vorbei, kehrte wieder um und begegnete ihr wieder. Sie bemerkte es, lachte noch mehr als gewöhnlich, und da machte ich dasselbe Manöver noch einmal. Das amüsierte, sie, sie fing auch an, recht oft umzukehren, und schließlich waren wir uns im Verlauf einer knappen halben Stunde wenigstens zehnmal begegnet. Als sie dann nach Hause ging, folgte ich ihr, und jetzt war sie ganz und gar nicht ängstlich, schien im Gegenteil ihr Vergnügen daran zu haben, daß ich hinter ihr dreinging, wandte sich des öfteren um und lachte mir zu.
Wir gingen die Drammensstraße hinaus und bogen dann links in eine der neuangelegten Straßen ein. Bevor sie in das Haus, in dem sie wohnte, hineintrat, kehrte sie sich noch einmal um, lachte – und verschwand. Als ich aber zur Haustür hineinsah, stand sie noch beim Treppenaufgang und stampfte den Schnee von den Füßen. Da ging ich in den Hausflur hinein und sagte: »Ich hätte so große Lust, Sie kennen zu lernen, Fräulein!«
Sie stand mit dem einen Fuße auf der untersten Treppenstufe, sah lächelnd auf den anderen Fuß herab, von dessen Sohle sie den Schnee abstieß, antwortete aber nicht. »Nun haben wir uns,« sagte ich, »schon so lange par distance zugelächelt – finden Sie es nicht an der Zeit, daß wir uns nun näher kennen lernen?«
Sie antwortete nicht, fuhr nur lächelnd fort, den Schnee von den Fußsohlen abzustoßen. »Es wäre doch viel amüsanter,« fuhr ich fort, »wenn wir nebeneinander gingen und uns unterhielten, als wenn wir so wie jetzt hintereinander herjagen.«
Sie antwortete immer noch nicht, blieb nur in gleicher Stellung stehen. Da trat ich näher heran.
In demselben Augenblicke sahen mich aber die braunen Augen scheu an, der Körper beugte sich langsam vor, sie stand auf dem Sprunge, bereit, die Treppe hinaufzueilen, wenn ich ihr zu nahe käme. Da blieb ich natürlich stehen. Und sie blieb dort auf dem Anstand, lächelte mir aber schelmisch zu.
»Darf ich nicht Ihre Bekanntschaft machen?« fragte ich wieder.
Sie bedachte sich einen Augenblick, trat mit dem einen Fuße wieder von der Stufe herunter, richtete sich auf, nahm die Miene einer Dame an und sagte mit spaßigem Knix: »Sie dürfen mich auf der Straße grüßen, aber ansprechen dürfen Sie mich nicht.«
»O, gestatten Sie mir das doch auch.«
»Nein.«
Das wurde in so entschiedenem Tone gesagt, daß ich mich sogleich zufrieden gab.
»Wie unangenehm! ... na, aber grüßen darf ich Sie nun also?«
»Das dürfen Sie.«
»Also Adieu, Fräulein!«
»Adieu!«
Als ich ein paar Schritte weiter gegangen war, kehrte ich um; ich wollte lieber in anderer Richtung gehen. Doch – da stand sie ja in der Haustür! Und ich mußte laut auflachen; denn in demselben Augenblick, als meine Augen den ihren begegneten, streckte sie den Kopf vor, das Kinn geradeaus. Sie gähnte halb, halb lächelte sie mit breitem Mund, zeigte die Zähne, und kniff die Augen mit sinnlichem Ausdruck zusammen ... eine merkwürdig kindliche Grimasse, als wollte sie sagen: »Ätsch! nun hab' ich dich doch zum Narren gehabt!« Dann verschwand sie wieder im Hausflur.
Ich natürlich hinterdrein. Sie stand wieder beim Treppenaufgang auf dem Sprung.
»Sagen Sie doch ja!« bat ich.
Sie nahm aber wieder die Miene einer Dame an, wiederholte ihr entschiedenes Nein, und ich mußte zum zweiten Male gehen.
Als ich ein paar Schritte vom Hause entfernt mich abermals umkehrte, sah ich eine Sekunde lang dieselbe kindische Grimasse. Als ich aber zum dritten Male in den Hausflur trat und auf sie zuging und wieder bat: »Sagen Sie doch ja! Können Sie denn nicht ja sagen?« da flog sie eins zwei drei die Treppe hinauf und sah, spöttisch lachend, durch das Gitterwerk des Treppengeländers zu mir herunter. Ich blieb stehen und lachte auch. Als ich dann endlich gehen mußte, kam sie nicht mehr heraus.
Am Nachmittag, so zwischen vier und fünf, als es schon anfing zu dunkeln traf ich sie aber wieder auf Karljohann, grüßte und folgte ihr. Wieder ging es die Drammensstraße hinauf und links ab, aber an der Straße vorüber, in der sie wohnt. Wir kamen in eine neue, eben angelegte Straße. Auf der einen Seite einige Häuser, auf der anderen Seite Bauplätze und freies Feld; kein Mensch. Sie schritt ein paar Schritte in die Straße hinein, blieb dann, mir den Rücken zukehrend, stehen und sah über die Bauplätze hin. Ach blieb einen halben Schritt hinter ihr stehen, sagte jedoch eine Weile keinen Ton: Sie rührte sich nicht.
»Hier können wir aber doch ganz gut ein Stück zusammen spazieren gehen,« sagte ich endlich. »Es ist ja niemand da, und dunkel ist es auch.«
Sie antwortete nichts und blieb ruhig stehen.
»Nicht wahr,, nun gehen wir zusammen spazieren? Nur heute Abend!?«
»Na ja,« sagte sie plötzlich keck, kehrte sich um und lachte mich mit ihrem herrlichen Kinderlachen an. Dann schlenderten wir, langsam und gelassen, vergnügt die Straße hinab; die Hüften trafen sich wie zufällig bei jedem zweiten Schritt, aber wir taten, als merkten wir das nicht. Wir stellten uns vor, fragten uns nach unseren Bekannten aus und suchten irgend eine Familie ausfindig zu machen, bei der wir uns hätten treffen und unsere Bekanntschaft legitimieren können. Das letzte war aber unmöglich, wir hatten nur insoweit gemeinsame Bekannte, als sie über einige von den Herren unterrichtet war, mit denen sie mich zusammen gesehen hatte – von diesen hatte sie »sehr vieles gehört, was sie nicht erzählen wollte« – und sie lachte mich schalkhaft an, als sie das sagte. Das Ende vom Liede war aber doch, daß ich die Erlaubnis erhielt, mit ihr auf der Straße spazieren zu gehen – »sie kümmerte sich nicht im geringsten um das, was die Leute sagten!« ...
»Weshalb haben Sie aber so große Lust, mich kennen zu lernen?« fragte sie schließlich, als wir vor ihrer Wohnung standen. Und sie sah mich fest an, als ob sie eine sofortige Erklärung erwartete.
»Weshalb? – Natürlich, weil ich Sie hübsch finde – und dann, weil ich glaube, daß wir aneinander Gefallen finden werden.«
Sie dachte eine Weile nach, dann schien es aber, als ob die Antwort sie befriedigte, sie verabschiedete sich mit einem Lächeln und ging die Treppe hinauf.« –
»Und dann?« fragte Jarmann, als ich schwieg.
»Seither sind erst drei bis vier Tage vergangen. Ich habe nun Tag für Tag einige Worte mit ihr gewechselt, und sie ist verdammt süß; ich bin aber mit ihr noch nicht weiter gekommen, sie ist viel zu wenig erotisch veranlagt, als daß wir so ohne weiteres dazu übergehen könnten, von Geschäften zu reden ... Na, ich habe sie mir also als Nummer eins in meiner Schule gedacht.«
»Nummer eins?« fragte Jarmann eifrig. »Hast du schon mehrere in Aussicht?«
»Freilich! Als ich am letzten Sonntag zum Mittagessen in die Stadt ging und über den Olafsplatz kam, standen dort vor Gjertsens Schule einige Mädchen von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Ich musterte sie natürlich im Vorübergehen, war aber nicht wenig überrascht, als eines von ihnen, ein kleiner hübscher Blondkopf, mir ganz ernst ins Gesicht starrte und in einem Tone, als wären wir gute alte Bekannte, mir zunickend sprach: »Guten Tag, Herr Eek!« Ich nickte ihr natürlich auch zu und sagte ebenso vertraulich: »Guten Tag.« Als ich vorüber gegangen war, fingen sie alle laut an zu lachen – so sind sie nun einmal! – Ich dachte mir aber meinen Teil und ging quietschvergnügt weiter. Wie ich nun am Nachmittag desselben Tages in der Dämmerung die Universitätsstraße hinaufpilgre, sehe ich wenige Schritte vor mir denselben kleinen Blondkopf wieder. Natürlich in Begleitung einer Freundin; das ist ja das Unangenehme bei diesen Kleinen, daß sie nie allein gehen. Ich gehe aber doch vor, hole sie ein, grüße und sage »Guten Abend«. Einen Augenblick war sie ganz erschrocken, hielt unwillkürlich den Arm vor den Kopf und wandte das Gesicht weg, als wollte sie einen Schlag parieren; dann aber faßte sie sich wieder, ließ den Arm sinken, lachte, sagte keck »Guten Abend« und sah fast herausfordernd zu mir empor. Die Freundin staunte mich neugierig an.
Während wir drei so weiter gingen und über alles mögliche schwatzten, merkte ich, daß uns einige Knaben umschwärmten: bald waren sie vor, bald hinter uns; ehe wir es uns versahen, stürzten sie plötzlich an uns vorbei und riefen uns etwas zu, bald einen Namen, bald ein unverständliches Wort ...
»Sind das vielleicht Ihre Kavaliere?« fragte ich die Mädchen.
»I wo!« antwortete mein kleiner Blondkopf; der Tonfall war verächtlich.
»Dann möchte ich nämlich nicht im Wege sein!« ...
»Keine Spur! Wir kennen sie gar nicht.«
Wie sie das aber sagte, eilten die Knaben gerade wieder an uns vorbei und stürmten vor uns in einen Torweg, und als wir dort vorüberkamen, riefen sie unter Kichern und Lachen »Kamma« und »Agnes«. Die Mädchen wurden nervös und unruhig; es war klar, daß sie die Jungen kannten.
Auf dem Olafsplatz, wo sie wohnten, nahm ich Abschied und fragte, ob sie etwas dagegen hätten, mit mir spazieren zu gehen, wenn ich ihnen begegnete. Dagegen hätten sie nichts, sagten sie.
Dann eilte ich weiter. Ich war aber noch nicht einmal über den Platz gekommen, als ich trippelnde Schritte hinter mir hörte: die beiden Kleinen kamen angelaufen.
»Entschuldigen Sie,« sagte der kleine Blondkopf feierlich, »wir vergaßen uns vorzustellen – ist Ihr Name nicht Eek?«
»Jawohl, das müssen Sie doch wissen, da Sie mir heute Vormittag ja Guten Tag sagten,« erwiderte ich lachend.
Sie lachten ebenfalls.
»Und heißen Sie nicht Kamma?« fragte ich dann.
»Ja, freilich!« rief die Freundin, als verriete sie ein Geheimnis.
»Und sie heißt Agnes!« beeilte sich Kamma zu sagen, indem sie auf die Freundin zeigte.
Dann sagten sie Adieu und liefen wieder über den Platz zurück. Ich sah ihnen nach. Kaum waren sie in das Haustor hineingegangen, da waren auch ihre kleinen Kavaliere da und schlüpften hinter ihnen zur Tür hinein. Etwas ärgerlich ging ich nach Hause: ich hätte sie so gern unsichtbar belauscht ...«
»Da hast du also Nummer zwei und drei,« sagte ich zu Jarmann, »und Nummer vier und fünf und sechs und sieben, das sind einige Freundinnen von diesen beiden, die ich später getroffen und gegrüßt habe, erst mit ihnen zusammen und dann allein. Sie erwidern den Gruß sehr freundlich und scheinen gar nichts dagegen zu haben, meine nähere Bekanntschaft zu machen.«
Jarmann sah eine Weile vor sich hin und sagte dann ganz traurig: »Es ist zu dumm, daß ich meine Schwestern nicht in der Stadt habe. Sie sind beide hübsch, besonders die eine, es hätte mich gefreut, sie dir in Behandlung zu geben.« Und er schien ganz unglücklich darüber zu sein, daß er nicht einen Beitrag zur Errichtung der Schule beisteuern konnte. – Ich war ganz gerührt. Ich mußte daran denken, wie es ein anderer guter Freund von mir vor einigen Tagen aufgenommen hatte, als ich ihm meinen Schulplan entwickelte und von meinen zukünftigen Schülerinnen erzählte. »Ja,« sagte er, als ich fertig war, »das ist sehr interessant, aber – gottlob, daß du meine Schwestern nicht kennst!« Ich verglich unwillkürlich diesen Ausruf mit dem Jarmanns und fühlte den ganzen Unterschied. Und ich betrachtete ihn, wie er zusammengesunken im Schaukelstuhl saß und mit betrübtem Gesicht vor sich hinstarrte. O, hätte er in den Familien in der Stadt verkehrt, aus denen ich die Schule am liebsten rekrutieren wollte und aus denen man die nötige weibliche Unterstützung für das Unternehmen hätte holen können! Er würde alles getan haben, was in seinen Kräften stand, um mich dort einzuführen, er würde das Bedürfnis gehabt haben, durchzusetzen, daß ich in denselben Sphären verkehrte wie er und mit meinen Augen sähe, was er mit seinen Augen sah, damit wir später unsere Meinungen austauschen, unsere Beobachtungen ergänzen und darnach unsere Pläne entwerfen könnten. Wir hätten zusammen leben und arbeiten dürfen – war es nicht abscheulich, daß er nicht in der Lage war.
»Ja,« sagte ich, »es ist wirklich dumm, daß du deine Schwestern nicht hier hast – besonders da sie hübsch sind –.«
»Ja, nicht wahr?« – und er stand auf und ging nervös auf und ab. Bald darauf blieb er stehen, sah mich an und sagte: »Aber du! – Du mußt mich an deiner Schule Lehrer werden lassen!«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, Lieber, das getraute ich mich doch nicht.«
»Weshalb nicht?« »Erstens bist du selber nicht genügend theoretisch ausgebildet ... Du müßtest ja selber erst eine gründliche Erziehung durchmachen ...«
»Aber das könnte ich ja tun!«
»Du würdest dazu kaum die nötige Energie besitzen. Gesetzt aber den Fall, du hättest sie – trotzdem? – Du mit deiner Hengstnatur ... ich wäre ja nie sicher, ob du mir nicht das Ganze verdürbest ... in einem leidenschaftlichen Augenblick die Frucht pflücktest, bevor sie reif geworden.«
Am seinen Mund kam ein schmerzlicher Zug. Er stand auf und starrte mich an. »Du solltest dich schämen, das von mir zu glauben,« sagte er traurig.
Ich zuckte die Achseln. »Herrgott, es würde ja ganz menschlich sein!«
»Nein, weißt du was!« sagte er indigniert. »Glaubst du, ich könnte mich vergessen, wo es sich um das handelt? Glaubst du wirklich, daß ich so wenig ideal veranlagt bin?«
»Im Gegenteil. Du bist sehr ideal veranlagt. Du bist aber ein loser Stimmungsmensch ... und wenn das Blut kocht, weißt du, ist der Verstand weg ... eine zufällige Situation, und der Hengst kommt zum Vorschein, und du verdirbst mir eine der Schülerinnen.
»Keine Spur! Niemals!« Er machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung, und seine kleinen Augen glänzten.
Ich schüttelte wieder den Kopf. »Nein, mein Lieber, du weißt doch selber, daß du nicht so viel Macht über dich hast, um dies Niemals aussprechen zu können.«
»Und ich bin überzeugt, daß davon niemals die Rede sein könnte, wo es sich um eine solche Sache handelt,« sagte er, setzte sich wieder in den Schaukelstuhl und starrte vor sich hin. »Aber du,« sagte er dann –: »bist du übrigens so sicher, daß ein solches Mädchen ganz zugrunde gerichtet werden würde, selbst wenn sie verführt würde, und sich nicht freiwillig hingäbe?«
»Nein, ganz sicher bin ich nicht; ich glaube aber, es würde ihr für beständig einen Knax geben. Denke nur daran, daß der Hang zur Korrektheit in dem Punkt bei unseren jungen Mädchen von langer Zeit her vererbt ist. Und hat sich eine erst mit dem Gefühle hingegeben, es war vielleicht doch nicht so richtig, es zu tun, so fürchte ich, daß sie selbst beim ausgezeichnetsten Verständnis hinterher, wenn die Anfechtungen kommen sich des Gedankens nicht wird erwehren können: habe ich mich nicht etwa im Grunde diesen modernen Ideen deswegen ergeben, um meinen Fehltritt zu rechtfertigen?«
»Ja, darin hast du vielleicht recht,« sagte Jarmann und sah wieder vor sich hin. –
Es war spät geworden, als wir das letzte Glas leerten, Jarmann sich eine frische Zigarre anzündete und sodann aufbrach. Ich ging mit ihm hinab und schloß die Haustür auf.
Das Wetter war rauh, es stürmte und regnete, er schlug den Kragen hoch, knöpfte den Rock fest zu, zog die Krempe seines kleinen runden Filzhutes wie einen Schirm über die Augen und schritt die Straße hinab durch das Schneegestöber mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Taschen des Überziehers, Oberkörper und Kopf vorgebeugt, dem Winde entgegen.
Der Schnee stob ihm ins Gesicht, er sah nichts anderes vor sich als ein Gewimmel von neuen und immer neuen Schneeflocken, die unablässig schräg durch die Luft tanzten, bald weiß beim Schein einer Gaslaterne, bald grau von der schwarzen Luft sich abhebend, und, naß wie sie waren, hängten sie sich an seine Kleider und bedeckten sie bald mit einer dichten Decke. Zuweilen trieb ihm ein plötzlicher Windstoß das ganze Schneegestöber unter den Hut, so daß er bald den Atem verlor, während er nach dem Hut griff, um ihn festzuhalten.
Er achtete aber nicht darauf, schritt nur auf dem glatten Wege weiter, den Körper dem Sturm und Schnee entgegenstemmend, ohne weiter zu denken, ganz erfüllt und begeistert von der neuen Zukunftshoffnung, die an diesem Abend vor ihm aufgetaucht war.
Er ging nicht direkt nach Hause. Er schöpfte tief Atem. In solcher Stimmung war er seit langer Zeit nicht gewesen, seit jener Frühjahrsnacht nach der Framsitzung nicht mehr. Wie deutlich er sich an alles erinnerte: die Brücke im Mondschein ... unten den schwarzen Fluß, von den schwarzen Schlagschatten der Häuser verdunkelt, weiter oben sich zwischen Bäumen und Büschen hindurchschlängelnd, silbern glitzernd im Mondschein ...
... Ein schöneres und reineres Leben sollen wir leben, jeder einzelne von uns und alle miteinander! Darum handelte es sich, und er sollte dabei sein, dieses schönere, reichere Leben zu schaffen – das sollte sein Lebenswerk sein! ...
Plötzlich durchfuhr ihn ein Zweifel: war es nicht etwa bloß eine augenblickliche Stimmung, eine Täuschung, die vorübergehen würde wie damals? ...
Nein! Damals hatte er nicht gewußt, was das Leben reicher und schöner machen sollte, und er hatte es auch nicht aus sich selbst heraus finden können; er hatte ja niemals denken gelernt. Jetzt wußte er aber, was es war: die Liebe! Die Liebe sollte auf den Thron gesetzt werden und das Leben des Menschen beherrschen, sie sollte das Ziel der Arbeit und die treibende Kraft der Arbeit sein! ... nicht ein Ziel, das »einmal« erreicht werden sollte – nein, ein Ziel das man immer erreicht! – die Liebe sollte das tägliche Brot sein von Anfang an ...
Ach, weshalb lernte man das nicht in der Schule – und richtete das Leben nicht darnach ein! ... Da wäre sein Leben anders geworden; denn was ihm gefehlt hatte, das war gerade diese treibende Kraft gewesen, deshalb war es gegangen, wie es gegangen war ...
Die Liebe! ... Ein paarmal war er ihr auf seinem Wege begegnet, sie hatte ihn mit ihrem Hauche berührt, war dann aber weiter gezogen –: er erinnerte sich seines Kummers, als Anna nach Stockholm reiste; er erinnerte sich, wie er in seinem Bette geschluchzt hatte, als ihm klar geworden war, daß er Fräulein Bamberg für immer verloren hatte ... Die Liebe hatte an die Tür seiner Herzkammer geklopft, war aber niemals hineingekommen ...
Selbst aber, wenn sie hineingekommen wäre – er hätte sie doch nur als verbotene Frucht genossen, sie niemals mit einer Arbeit in Verbindung gesetzt – hätte also doch dann da gestanden, wo er jetzt stand. Reicher an Erinnerungen wohl, aber doch wie jetzt, ohne eine Tat vollbracht zu haben.
Nein, von Anfang an mußte man lieben und geliebt werden und dadurch das volle wirkliche Verständnis für den Reichtum und die Schönheit des Lebens erhalten ... Und von Anfang an mußte man das Empfinden davon haben, daß die Arbeit die notwendige Bedingung ist, um dieses herrliche Leben zu erhalten! – Dann würden auch Leute seines Kalibers dazu kommen, zu arbeiten und etwas zu werden – jetzt mußten sie zugrunde gehen, wie er zugrunde gegangen war.
Zugrunde gegangen?– ja, er war zugrunde gegangen, das fühlte er ... Und es war seine eigene Schuld, sagten die anderen: weshalb hatte er niemals etwas arbeiten wollen!
Ach, er hätte als Schuljunge wissen sollen, was er jetzt wußte ... da hätte er auch etwas tun wollen; wie die Sache lag, hatte er ja nicht wollen können.
Die Bestien, die auf seinen eigenen Willen das warfen, woran ihre Erziehung und ihre verdammten Gesellschaftsverhältnisse schuld waren! – Die Finger bewegten sich in seiner Tasche wie Klauen, er hätte sie zu fassen bekommen mögen –: sie waren aber sicher, sie wußten, daß er sie nicht erreichen konnte: sie hatten ja die Macht ...
Mochte dem aber sein wie es wolle: noch war er nicht tot; noch würden sie vielleicht von ihm zu hören bekommen, dem verachteten Taugenichts! ... Und vielleicht kam noch der Tag, da die Angehörigen seiner großen Familie: die mit dem Leben Unzufriedenen und daher Energielosen, ihm für das dankten, was er getan hatte, um sie vor dem Untergang zu retten ...
Die Aufgabe lag vor ihm; es kam nur darauf an, sich darüber schlüssig zu werden, wie sie angegriffen werden sollte; dann wollte er schon die Arbeit auf sich nehmen. Jetzt hatte er die nötige treibende Kraft für seine Energie gefunden –: sie sollten nicht zugrunde gehen, die armen Menschen, die wie er zu einem reicheren Leben geboren waren, als zu diesem elenden, das die Gesellschaft ihnen jetzt bot ...
Was sollte er aber tun? ... Wie sollte er die Sache anfassen? ....
O, Hermann Eek würde ihn schon darauf bringen, wie er ihn schon auf das andere gebracht hatte! Es kam schon noch ... Diese Abende, die er in der letzten Zeit bei Hermann Eek verlebt hatte ... er hörte nur immer zu, sprach fast nie ein Wort ... Alles aber was Hermann Eek sagte, das war ihm aus der Seele gesprochen ... war nur Wort für Wort das, was in ihm selber lebte und schon lange dort gelebt hatte, ohne daß er es auszudrücken vermocht hätte ... Und das würde schon auch noch werden! Kam Zeit, kam Rat ... Würde die Schule gegründet, wer konnte dann wissen, ob er nicht doch Lehrer wurde! .... Er wollte schon Eeks Bedenken überwinden – und, du großer Gott, welch lustige Arbeit würde das werden! – Ach, wenn er dann in diesen hübschen Köpfen all das aufsprießen sah, was ihn selber begeisterte! Und wenn er dann sah, wie es in lebenskräftige Handlung umgesetzt wurde, ein Schlag ins Gesicht denen, die er von ganzem Herzen haßte, aber nicht treffen konnte! Und er erhob seine Hand und drohte in das Schneegestöber hinein, während er zwischen den Zähnen murmelte: Ihr verfluchten Kreaturen, es kommt, ja es kommt ein Tag des Gerichts, da werdet Ihr zu hassen anfangen und wir die Macht bekommen! – Und unwillkürlich schritt er rascher vorwärts, wie um mit den hurtigen Schlägen seines Herzens Takt zu halten.
Plötzlich blieb er überrascht vor seiner Haustür stehen. Ohne es zu ahnen, war er auf weiten Umwegen dorthin gelangt. Seine Füße waren klitschnaß, die Nässe sickerte unter den Kleidern an Hals und Rücken hinab, Gesicht und Handgelenke glühten. Er achtete aber kaum darauf. Er eilte auf sein Zimmer, riß die Kleider vom Leibe, stürzte sich ins Bett und blieb lange liegen, ins Dunkel starrend, von Zukunftsträumen berauscht – bis er endlich einschlief.