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Es war in der Nacht zwischen Karfreitag und Sonnabend vor Ostern. Jarmann war in Gesellschaft gewesen und um zwei Uhr nach Hause gekommen.
Er zog sich aus und ging zu Bette, um wie gewöhnlich zu schlafen.
Er konnte aber keinen Schlaf finden: so ganz wach, kam es ihm vor, war er noch niemals gewesen.
Schließlich gab er den Gedanken ans Einschlafen auf, starrte zur Decke und dachte nach.
Anfangs stand das Gehirn gleichsam still; nach und nach fing es aber an, ganz von selber zu arbeiten.
... Es war also beschlossen: in einer Woche war er nicht mehr unter den Lebenden.
Er stutzte: nicht mehr unter den Lebenden? – Das war ein wunderlicher Gedanke. Er versuchte, ihn zu ergründen, begriff ihn aber nicht. Das Gehirn stand wieder still ...
Unsinn! Es war ja ganz einfach: da stand er ja, den Revolver im Munde, gegen den Gaumen gerichtet, die Linke um den Lauf, die Rechte am Kolben und den Daumen am Hahn; er fühlte den kalten Stahl am Daumen. Und dann drückte er los ...
Nein, er drückte nicht los. Seine Hand war auf einmal wie gelähmt, sein Gesicht wurde glühend heiß und sein Herz war so furchtbar beklommen, daß er unwillkürlich seine beiden Hände faltete und sie mit einer heftigen Bewegung unmittelbar unter dem Herzen hart gegen die linke Seite preßte.
In dieser Lage fand er sich selber, als er zur Besinnung kam; es war eine vollständige Halluzination gewesen ...
Er fuhr zusammen: Du großer Gott, er konnte also nicht! – Die Angst erfaßte ihn, er starrte mit ratlosen, verwirrten, weitgeöffneten Augen ins Leere, und der kalte Schweiß trat ihm auf Stirn und Schläfen ...
Du großer, allmächtiger Gott, er kann nicht! ... Und er starrte und starrte mit weitgeöffneten Augen: er konnte nicht ... er konnte nicht ...?
Er sank in sich zusammen.
Und er war seiner Sache so sicher gewesen, so sicher! Es war ihm nicht der leiseste Gedanke gekommen, daß er nicht seiner Wege gehen können sollte, wenn er es endlich satt hatte! Und nun hatte er es satt, er wollte gehen, und es war Wahnsinn, es nicht zu tun – und trotzdem: er konnte nicht!
Wer in Teufels Namen hielt ihn denn zurück!
Es war, als ob etwas Großes, Feuchtes, Kaltes ihn erfaßt hätte, ihn enger und enger umschlösse und festhielte ... ach, so fest, so fest!
Er wußte nicht, was es war, und dachte nicht daran, darüber ins reine zu kommen; er wußte nur daß er loskommen wollte. Und er mühte sich ab unter beständig zunehmender Angst. Und er hatte das Gefühl, als wüchsen bei dem Bemühen und bei der Angst die Kräfte ins Unglaubliche; schließlich, meinte er, mußte es ihm gelingen, sich davon zu befreien ...
Aber nein; es umschloß ihn immer enger und enger wie eine schreckliche Macht.
Dann machte er auf einmal mit Aufgebot aller seiner Kräfte eine letzte, äußerste, verzweifelte Anstrengung. Es dauerte eine Sekunde oder zwei – dann fühlte er plötzlich, wie seine Kräfte schwanden.
Er wollte eben vor Entsetzen laut schreien – da sank er plötzlich kraftlos zusammen, das Entsetzen war auf einmal wie weggeblasen, er lag nur schlaff da, ohne zu sehen, ohne zu hören, ohne zu denken, nur bis ins innerste Mark der Knochen von einer Empfindung der Schlaffheit, Apathie, Resignation durchdrungen.
Nach und nach kam er wieder zu sich.
Dann mußte er an die letzten paar Tage denken: er hatte alles ganz überlegen angesehen, er hatte mit dem Ganzen nichts mehr zu tun, das Leben lag abgeschlossen hinter ihm; nur noch wenige Tage, um vom Leben und seinen Freunden Abschied zu nehmen. O, er hatte sich so stolz und so frei gefühlt! ...
Und alle die Bekannten, von denen er wußte, daß sie ihn für einen gewöhnlichen Taugenichts hielten – wenn er ihnen in diesen Tagen begegnet war, dann hatte er sich das Vergnügen gemacht, sie zuerst grüßen zu lassen ... und dann hatte er ihnen beim Erwidern ihres Grußes beinahe gnädig zugelächelt – sie waren ihm so kläglich klein und erbärmlich vorgekommen, und er selber sich so groß und frei ...
Nun sah er sie wieder, diese widerlichen Gesichter; sie scharten sich um ihn mit spöttischen hochmütigen Mienen und lächelten ihn impertinent-mitleidig an: hatten sie nun nicht recht? War er etwas anderes als ein gewöhnlicher Taugenichts? He! Und sie waren vielleicht nicht so klein und erbärmlich im Vergleich zu ihm!
Er starrte sie an und mußte die Zähne zusammenbeißen, um seine Wut zu unterdrücken.
Die Gesichter merkten aber seine ohnmächtige Wut; sie wurden hochmütiger und immer hochmütiger. Schließlich verdichteten sie sich vor seinen Augen zu einem einzigen großen ekelhaften triumphierenden Lächeln.
Er ertappte sich dabei, wie er eben auf dieses dumme Lächeln spucken wollte. Er fühlte sich plötzlich so matt und kraftlos, daß sich alles vor seinen Augen im Kreise drehte ... und er wollte ja arbeiten ... er wollte ja etwas schreiben, da er nun doch leben sollte ... Dann aber mußte er erst etwas haben, um sich zu stärken, etwas zu essen und zu trinken ... und dann wollte er nach Hause gehen und anfangen. – War niemand unter ihnen, der ihm ein paar Kronen geben konnte?
Wieder sah er alle Gesichter um sich herum. Sie zogen mit überlegenen Mienen ihre Börsen und gaben ihm einige Kronen, aber mit verächtlichem, mitleidigem Lächeln.
Es kochte in ihm, er dankte nicht, ergriff nur das Geld, kehrte sich um und eilte davon – o, wie widerlich klein und verächtlich waren sie! – Er bog um die nächste Straßenecke, um so bald als möglich von ihnen wegzukommen.
Als er aber gerade um die Ecke bog, begegnete er ihnen wieder!
Er stutzte und blieb ratlos stehen: Verflucht! Konnte er sie denn gar nicht loswerden?
Sie gingen aber über die Straße hinüber, sie wollten wahrscheinlich nichts mit ihm zu tun haben.
Das verwirrte ihn. Er erinnerte sich nicht mehr ... es war ihm wüst im Kopf ... wie dem aber auch war, er mußte sie wieder einholen ... er sollte ja etwas tun ... und ohne Geld konnte er nicht arbeiten ... und er konnte kein Geld bekommen, ohne zu arbeiten ... er mußte sie wieder einholen ... und er lief über die Straße und holte sie ein.
Sie sahen ihn ärgerlich an. Was er wollte, fragten sie.
Kronen!
Nein!
Und sie sahen ihn verächtlich an und gingen weiter.
Er blieb mit steifen Armen und geballten Fäusten stehen und starrte ihnen wütend nach. Die breiten, zufriedenen Rücken bewegten sich langsam und ruhig weiter, als wenn er gar nicht existierte. – Jetzt gingen sie am Marinedepartement vorbei ... bald würden sie um die nächste Ecke biegen ... und dann würden sie verschwunden sein, und er würde wieder allein und hilflos dastehen ...
Er stürzte ihnen nach.
An der Ecke holte er sie ein, faßte sie am Arme und drehte sie um.
»Elende, erbärmliche Gesellen!« schrie er; »begreift ihr nicht, daß ich tausendmal mehr wert bin als ihr?«
Sie sahen sich an, lächelten, zuckten die Achseln und blinzelten sich zu: er mußte ja verrückt sein.
»Tausendmal mehr wert bin ich als ihr alle zusammen!« schrie er dann.
Sie kehrten sich um und wollten gehen; er hielt sie aber wieder an.
»Elendes Gesindel,« sagte er wütend; »das Leben, das ihr führt, hab' ich ja verschmäht; es war zu klein und erbärmlich für mich! Für mich gehört etwas unendlich viel Größeres!«
Die widerlichen Gesichter lachten.
»Das Leben aber, das du führst,« sagte einer, »das hast du ja nicht verschmäht; das war nicht zu klein für dich! Das war das Große, das du brauchtest – wohl bekomm's!«
Sie lachten laut.
Das genierte ihn aber nicht mehr: er hatte wieder den Revolver in der Hand und sah ihn an wie einen guten alten Freund. Und ein behagliches Lächeln umspielte seinen Mund, während er sie von der Seite anblickte.
Sie lächelten verächtlich; die Geschichte mit dem Revolver war ja lediglich Spiegelfechterei, das wußten sie ebensogut wie er.
Ihre Verachtung irritierte ihn aber nicht; er fuhr nun fort, gemütlich zu lächeln.
»Es ist wahr, ich habe etwas von der Hefe, mitgenommen,« sagte er ruhig und spielte mit dem Revolver. »Das tut aber nichts. Ich bin trotzdem tausendmal mehr wert als ihr alle zusammen. Ich möchte mich mit dem Leben, das ihr führen sollt, nicht herumschleppen, und wenn ihr es mir nachwürft. Ich bin bei Gott dafür zu gut.«
Er hob lächelnd den Revolver, schloß das linke Auge und zielte über die Straße hinüber.
So blieb er ein paar Sekunden stehen, dann wandte er plötzlich mit einer eleganten Bewegung des Handgelenkes den Revolver rückwärts gegen seinen Kopf und führte den Lauf in den Mund gegen den Gaumen.
Dann blickte er wieder die Gesichter an.
Sie sahen ganz ärgerlich drein; ach nein, nun könnte es mit der Komödie genug sein!
Ihr Ärger amüsierte ihn, und es war ihm ein Genuß sie schelmisch lächelnd und überlegen anzusehen und sich daran zu weiden, wie sie immer ärgerlicher und ärgerlicher wurden, je länger er sie mit seinem irritierenden Lächeln ansah.
Schließlich aber wurde sein Lächeln schlaffer, er bekam einen Ausdruck traurigen Mitleids. Und dann drückte er ganz ruhig los.
Er hatte die Empfindung, als ginge ihm ein Stich durchs Gehirn, die Gesichter verschwanden, und ihm wurde schwindlig.
Lange vermochte er nichts deutlich zu erkennen, er hatte nur eine herrliche, friedliche Empfindung ...
Dann kam er aber plötzlich wieder zu sich. Und er richtete sich im Bette mit freudestrahlendem Gesicht auf, streckte mit einer energischen Bewegung seine rechte Hand geradeaus, drohte mit geballter Faust ins Leere und sagte mit triumphierendem Lächeln: »Ich werde schon beweisen, daß ich es kann.«
Dann legte er sich mit Behagen wieder hin. Eine gleichmäßige, sanfte Wärme ergoß sich über seine Schultern und strömte wohltuend durch alle seine Glieder ...
Ach, es war herrlich, seiner selbst ganz sicher zu sein.
Er fühlte sich wieder ganz stolz und frei.
Es war ein schrecklicher Anfall gewesen, nun war er aber Gottseidank vorüber; und er war sicher, daß er sich nicht wiederholte. Und selbst wenn er es täte – jetzt wußte er, wie er ihn vertreiben konnte. Es war aber gar keine Rede davon ... jetzt war es einfürallemal überstanden ... o, wie fühlte er sich stolz und frei! ...
Er lächelte: Es hatte schon einen Sinn, wie er das Leben aufgefaßt hatte. Das Leben hatte ihn nicht glücklich machen können, das hatte er gleich von Anfang an gefühlt. Anfangs zwar dunkel und unklar, dann aber immer klarer und klarer, bis es ihm schließlich im Verkehr mit Hermann Eek zur absoluten Gewißheit geworden war, daß bei der augenblicklichen Gestaltung des Lebens Leute seines Schlages zugrunde gehen mußten. Erst war er darüber indigniert gewesen, und er hatte etwas tun wollen, damit es einmal anders werden könnte. Er hatte arbeiten wollen. Als er aber darüber ins reine gekommen war, wie er etwas in der Richtung hätte ausrichten können – da hatte sich gezeigt, daß seine Energie so lange ungenutzt dagelegen hatte, daß sie kraftlos geworden war; selbst für das, was ihn interessierte, vermochte er nicht so viel zu arbeiten, daß ihm seine diesbezüglichen Leistungen eine Position in der Gesellschaft verschaffen konnten. Und dann hatte er sich selber gesagt: gut, so pfeife ich also auf das Ganze und nehme nur das, was gratis zu erhalten ist, und wenn das getan ist, dann gehe ich meiner Wege. – Und jetzt war nichts mehr gratis zu erhalten ... wenigstens nichts, worum er sich kümmerte – ergo bedankte er sich und ging ...
Jawohl, es hatte einen recht guten Sinn gehabt, wie er das Leben aufgefaßt hatte; es war das Leben eines stolzen und freien Mannes gewesen ...
Nun mochte er aber nicht mehr daran denken, nun wollte er sich nur noch damit beschäftigen, wie er diese letzten Tage auf die angenehmste Art verbringen konnte.
Übrigens, da er nun einmal dabei war, so dürfte er ganz gut auch gleich Zeit und Ort bestimmen. Dann war das besorgt, und er hatte mit dem Ganzen nichts mehr zu tun.
... Der Ort? – Ja-a-a ... in seinem Zimmer wollte er es auf alle Fälle nicht tun. Das wäre ein Anrecht an den »Schwestern« gewesen, den beiden Damen, bei denen er wohnte. Ihnen würde es sowieso nahe genug gehen. In der letzten Zeit, die er bei ihnen wohnte, hatten sie ihn wirklich lieb gewonnen. Er war überzeugt, daß sie nicht einmal an das Geld denken würden, das er ihnen schuldete. Sie würden nur daran denken, wie furchtbar es war, daß dieser hübsche, junge Mensch, der solange bei ihnen gewohnt und sich immer still und anständig benommen hatte, sich jetzt selber aus der Welt hinaus- und in die Hölle hineinexpediert hatte. Sie würden das nicht begreifen können und über sein trauriges Schicksal weinen.
Er sah es im Geiste, wie sie anfingen zu weinen, wenn sie davon erfuhren, sah sie weinen und weinen, als hätte es einer von ihren eigenen Verwandten getan.
Er mußte lächeln: Herrgott, sie weinten ja nicht über ihn, sie hatten ja keine Ahnung davon, wie er war. Nein, der, über den sie weinten, das war ein ganz anderer, eine Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie, die nie existiert hatte.
Er lachte, er mußte an etwas denken, was Ostern vorigen Jahres, gerade vor einem Jahre, passiert war.
Am Abend vor dem ersten Ostertag hatte er bei einem Kameraden Grog getrunken, hatte dann ein Weib aufgegabelt und war bis gegen Morgen bei ihr geblieben. Als er nach Hause gekommen war, war er sehr müde gewesen – er hatte die ganze Zeit über bei dem Mädchen kein Auge zugetan – und er war daher, kaum daß er sich ausgezogen hatte, in Schlaf gefallen und hatte geschlafen wie ein Stein. Dann war aber um sechs Uhr das Dienstmädchen ins Zimmer gekommen, hatte ihn geweckt und gefragt, ob er nicht mit den Schwestern in die Frühpredigt gehen wolle. Er hätte am liebsten das Mädchen auf der Stelle totgeschlagen, weil es ihn im Schlafe gestört hatte, so matt und schläfrig war er gewesen; dann war ihm aber in den Sinn gekommen, daß er den »Schwestern« beinahe 300 Kronen schuldete und daß ihm des Kredits wegen darum zu tun sein mußte, die bestmögliche Meinung von seiner Person in ihnen zu erwecken. Und daher hatte er geantwortet: ja, danke, das würde er sehr gerne tun, und es sei von den Schwestern sehr liebenswürdig, daß sie an ihn gedacht hätten. Und dann war er aufgestanden und mit den Schwestern in die Erlöserkirche gegangen. In der Kirche aber war er ihnen entwischt und so schnell wie möglich wieder hinausgelaufen. Und da er nicht nach Hause gehen wollte, damit das Mädchen nicht bemerkte, daß er vor der Zeit kam, so war er zu einem Weibe gegangen und bei ihr bis Mittag geblieben ...
Und er erinnerte sich noch vieler anderer ähnlicher Geschichten ...
Er lächelte; nein, sie hatten keine Ahnung davon, wer er war.
Und nun würden sie weinen und weinen und glauben, sie weinten über ihn; und dann weinten sie über einen ganz anderen Menschen als über ihn – das war doch im Grunde genommen allzu komisch, und er konnte sich nicht helfen, er mußte lachen. –
Dann aber kam ihm jemand in den Sinn, der auch weinen würde – und das war nicht komisch: seine arme gute Mutter, deren Liebling er war. Es würde ihr Tod sein. Sie glaubte auch an Gott und an die Hölle.
Die Arme! Er sah sie daheim geschäftig hin- und hergehen, bald in der Küche, bald im Wohnzimmer, bald draußen auf dem Hofe, immer mit ihren fleißigen Händen zugreifen und immer an ihn denken, nur an ihn, ihren lieben Jungen, von dem sie nie etwas hörte.
Er hatte in den letzten Monaten nicht mehr nach Hause geschrieben. Er hatte die Verbindung mit seinem Heim abgebrochen, um sich selbst und seinen Angehörigen die Trennung zu erleichtern, wenn sie endlich kam. Davon hatte sie ja aber keine Ahnung. Sie begriff nicht, was mit ihm geschehen war, daß er ihr nicht schrieb.
An jedem Posttag in diesen Monaten hatte sie, so beschäftigt sie war, sich hingesetzt und ihn gebeten und immer wieder gebeten, zu schreiben.
Zuerst hatte sie ihn ausgescholten: »Den häßlichen Jungen, der seine Mutter solange ohne Nachricht von sich lassen konnte. Nun müsse er sich wirklich zusammennehmen und schreiben.«
Er hatte nicht geschrieben.
Dann hatte sie ihn angefleht: »er wisse nicht, wie wehe ihr das täte, sie müsse ja reinweg glauben, daß er sie nicht mehr lieb habe. Aber er habe sie ja lieb, und er werde ihr schreiben, nicht wahr? Ach, er würde es tun?«
Er hatte es aber nicht getan.
Dann war sie ängstlicher geworden und hatte gebeten und gebettelt – dringlicher und dringlicher in jedem Briefe, den sie schrieb.
Er war aber unerbittlich gewesen.
Dann war ihr die Angst gekommen.
Und das war es, was er gewollt hatte: sie sollte es ahnen, bevor es kam.
Er erinnerte sich noch genau des letzten Briefes, den er von ihr erhalten hatte: »Was in aller Welt ginge denn mit ihrem lieben Jungen vor? Weshalb schriebe er denn nicht? Wäre ihm denn etwas Fürchterliches passiert ... ein Kummer oder ein Unglück? O, er müsse, müsse ihr schreiben und ihr alles erzählen; sie wäre ja seine liebe Mutter ... sie stünde ihm ja am nächsten ... sie hätte solche Angst ... sie dächte den ganzen Tag über nur an ihn ... und des Nachts könne sie nicht schlafen ... sie dächte nur an ihren lieben Jungen. Sie hielte das nicht aus ... sie würde krank ... sie fühlte, wie sie mit jedem Tage, der verging, bei all dem, was sie litt, älter und älter würde – und er brauchte nur ein einziges Wort zu schreiben, ein einziges Wort, sie verlange nicht mehr – und das wäre doch so wenig ...«
Und dann hatte sie angefangen zu weinen, während sie diesen Brief schrieb. Und einige Tränen waren auf den Brief getropft, so daß einige Buchstaben halb ausgewischt waren. Er erinnerte sich dieser ausgewischten Buchstaben ganz genau; sie hatten ihn zum Weinen gebracht. Er war aber fest geblieben: so hatte er sie ja gerade vorbereiten wollen.
Dann hatte sie aber aufgehört zu weinen und hatte weiter geschrieben. »Sie wäre auf einmal so froh geworden; auf einmal wäre sie dessen ganz sicher geworden, daß er diesmal antworten würde,« erzählte sie. Dann hatte sie einen munteren Ton angeschlagen und hatte von dem erzählt, was sie alles zu tun hatte: »An dem Tische läge eine ganze Masse Unterzeug und wartete auf sie, das sollte der Bruder Konrad mit bekommen, der bald nach Bergen fahren und in einem Bureau angestellt werden sollte. Ach, es sei soviel zu tun. Und draußen bei der Rolle warte auch eine Menge Zeug, ach, wenn er nur da wäre, dann hätte er ihr beim Rollen helfen müssen.«
Ihm traten Tränen in die Augen. Ja, wenn er dort wäre. Er würde ihr helfen. Er würde ihr die Rolle drehen, wie er es als kleiner Junge getan hatte. Und er würde sie immerfort ansehen! O, wie es ihn freuen würde, sie, während er die Rolle drehte, zum letzten Male anzusehen. Und wäre sie mit der Arbeit fertig, dann wollte er ihr um den Hals fallen und sie küssen ... sie auf den Mund küssen, auf die Stirn, auf die Schläfe, auf die Augen, auf die Hände, überall hin, überall hin! O, er wollte sie küssen, daß es ihr ganz angst würde, ganz angst – so angst, daß sie plötzlich begreifen müßte, sie sähe ihn jetzt zum letztenmal.
Und dann wollte er sich losreißen und fliehen.
Und wie verzweifelt sie auch dann werden würde, wenn sie erführe, daß er es getan hätte – sie würde dann doch wenigstens den Trost haben, daß er sie so innig geliebt hatte, sie so innig geliebt hatte – bis zum letzten Augenblick ...
Nun erfuhr sie aber nichts davon. Es war ein Unrecht. Aber das ließ sich nicht ändern. Herrgott, es war nicht seine Schuld. Es ließ sich nicht machen. Noch vor einigen Tagen hatte er geglaubt, es ließe sich machen. Da hatte er Helmer und Johnsen ihren letzten Brief gezeigt, und Helmer hatte ihn ausgescholten: »Es wäre empörend, daß er nicht schriebe ... es wäre barbarisch ... es wäre ... es wäre ... kurz und gut: es ginge nicht an, er solle sich gefälligst gleich hinsetzen und schreiben.«
Und Johnsen hatte still zugehört und kein Wort gesagt; als er dann aber ihn ansah, hatte er ihm in seiner stillen stummen Art zugenickt.
Und dann hatte er plötzlich gesagt: ja, er wollte schreiben, und hatte sie gebeten zu gehen. Er hatte nämlich einen Plan gefaßt: er wollte ihr noch einmal schreiben, er wollte seine ganze innige Liebe zu ihr in die Worte des Briefes hineinlegen, sie sollte sie beim Lesen überströmen und sie so ergreifen, daß sie fühlte: das, was er für sie beim Schreiben gefühlt hätte, das wäre mehr als die gewöhnliche Liebe eines ganzen Lebens. – Und dann würde ihr eine Ahnung von dem aufsteigen, was bevorstand. – Ja, so wollte er sie vorbereiten.
Und er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt.
Alles aber, was er schrieb, war so kalt und tot ausgefallen. Er konnte es nicht so herausbringen, wie er es haben wollte.
Und er hatte darüber, wie er schreiben sollte, nachgedacht und nachgedacht, daß ihm das Gehirn ganz wehe tat. Aber nein, es war unmöglich; er mußte es aufgeben, und selbst wenn er im übrigen es so herausbringen konnte, wie er wollte, selbst wenn der ganze Brief nur Liebe, Liebe zu ihr atmete, wie sollte sie an diese schriftliche Liebe glauben können? Wenn er sie wirklich so sehr liebte, wie konnte er denn das tun, was, wie er wußte, ihr den Tod bringen mußte? – Das würde sie nicht begreifen können – Nein, wenn er sie dazu veranlassen wollte, es zu begreifen, dann hätte er ihr ausführlich erklären müssen, wie er war ... wie er so geworden war ... welcher erbärmliche Wicht er sein würde, wenn er nun nicht das Leben verließe ... wie er ihr ein langer zehrender Kummer werden würde ihr ganzes Leben hindurch, wenn er ihr nun nicht an Stelle dieses langen Kummers dieses eine große Leid ein- für allemal antäte – alles das müßte er ihr erklären. Dann erst würde sie begreifen können, daß er sie so unendlich liebte und trotzdem genötigt war, ihr Lebewohl zu sagen, aber dann müßte er ihr ja nicht nur einen Brief, sondern ein ganzes Buch schreiben – und zwar ein Buch, das er gar nicht abfassen konnte. – Und übrigens, selbst wenn er dieses Buch hätte zustande bringen können – sie würde es doch niemals haben begreifen können. Das war ja im Grunde genommen das Teuflische an dem Ganzen.
Und er war vom Schreibtische aufgestanden und hatte auf den Boden gestampft: Das war der Fluch der Gesellschaftsverhältnisse, unter denen wir leben, daß selbst die Mütter ihre eigenen Kinder nicht verstehen können! ...
Das war der Fluch dieser Dressurerziehung, daß man die nicht verstehen kann, die sich nicht haben dressieren lassen, und wären sie die eigenen Kinder! ...
Ja, das war der Fluch dieser verdammten Erziehung in Religion und Moral.
Und er war mit nervösen Schritten und heißem Kopf und geballten Fäusten im Zimmer auf- und abgegangen und hatte immer und immer wieder »diese ganze verdammte Wirtschaft« verflucht.
Schließlich war er vor dem Schreibtische stehen geblieben und hatte den angefangenen Brief in die Schreibmappe gesteckt. Dann hatte er sich auf das Sofa gelegt und versucht, an etwas anderes zu denken. –
Kurze Zeit darauf hatte er einen Spaziergang unternommen, und als er zurückgekommen war, hatte er Helmer und Johnsen vorgefunden.
»Na, hast du also geschrieben?« hatte Helmer gefragt, wie er ins Zimmer trat.
Ja, er hätte eben den Brief in den Kasten geworfen, hatte Jarmann versichert.
Helmer aber, der in seiner Abwesenheit die Briefmappe untersucht und den angefangenen Brief gefunden und zu sich gesteckt hatte, hatte ihn erst starr angesehen und dann gesagt: »Das ist ja eine gemeine Lüge, ich habe ja den Brief hier« – und er hatte den Brief aus der Tasche gezogen und gezeigt.
Er hatte nicht geantwortet, nur leicht mit den Achseln gezuckt, doch dabei so unglücklich dreingeschaut, daß es Helmer nicht über das Herz gebracht hatte, mehr darüber zu reden; er hatte eingesehen, daß da nichts mehr auszurichten war. Und Johnsen hatte ganz ernst und verständnisvoll ins Leere gestarrt.
Wie gern ihn die beiden hatten! Sie verstanden ihn. Für sie brauchte er nicht erst ein Buch zu schreiben. Sie verstanden ihn ohne das. Und sie hatten ihn gern. Sie würden ihn vermissen, ihn sehr vermissen, wenn er weg war; sie würden sich aber trotzdem seinetwegen freuen, daß er ein Ende gemacht hatte ... Ach, wie herrlich es war, mit intelligenten Menschen zusammenzuleben. Von ihnen konnte er Abschied nehmen, aber nicht von seiner eigenen Mutter. – O, wie furchtbar weh es ihm tat ... er sah sie wieder still und geschäftig daheim hin und her gehen, immer an ihn denkend, an ihn denkend, ihren Liebling ... und dann würde plötzlich der Schlag herabsausen ...
Es durchschauerte ihn. Er hatte das Gefühl, als stünde das Herz still und hörte der Puls auf zu schlagen.
Dann machte er mit einem Male eine abwehrende Handbewegung. Nein, da war nun nichts mehr zu ändern, nun wollte er nicht mehr daran denken. Es blieben ihm ja nur noch wenige Tage übrig, und die sollten ganz ihm und seinen Freunden gehören. Für die Mutter war er ja bereits tot. Er wollte sich diese letzten Tage nicht dadurch verbittern, daß er immer und ewig an das dachte, was nun einmal nicht anders sein konnte; er wollte sie froh und munter zusammen mit seinen Kameraden verbringen, die ihn kannten und verstanden. Und dann wollte er auch ihnen in munterer Gesellschaft Lebewohl sagen.
Und dann zu allerletzt – dann wollte er zu einem Mädchen gehen und bei ihr von diesem gesegneten weiblichen Geschlecht Abschied nehmen, das ihm doch in seinem kurzen vernichteten Leben wenigstens eine gute Zerstreuung gewesen war ...
Und wenn er damit fertig war und der vierte Ostertag anbrach und die anderen Kadetten wieder ihre langweilige Arbeit aufnahmen – dann sollte es geschehen ...
Aber wo? An den Ort, an dem es geschehen sollte, hatte er ja eigentlich denken wollen.
Nein, nicht bei dem Mädchen; er wollte sie nicht zu Tode erschrecken.
Wo nur aber? Am liebsten hätte er sich ein großes, elegantes Zimmer gemietet, mit weichen, behaglichen Brüsseler Teppichen auf dem Boden und seinen Möbeln. Auch ein Spiegel hätte da sein müssen, ein großer Spiegel, der von der Decke bis auf den Fußboden reichte. Vor ihn hätte er hintreten wollen in voller Uniform, die Mütze auf dem Kopf, den Säbel an der Seite, und sich selber zum letzten Male ins Gesicht sehen wollen – dann erst auf sein Konterfei im Spiegel zielen und sehen, wie ruhig er blieb – dann aber auf einmal die kleine elegante Wendung des Handgelenks machen, den Revolver gegen den Kopf richten und den Lauf in den Mund, an den Gaumen führen – dann endlich ein letztes Lächeln auf sein Konterfei im Spiegel werfen, das gleichfalls gelächelt hätte. Und dann! – Er machte eine energische Bewegung mit dem Zeigefinger, als ob er losdrückte.
Wieder hatte er das Gefühl, als ginge ihm ein Stich durch den Kopf, und wieder wurde ihm schwindlig; dann blieb er aber liegen und hatte ein förmliches Wollustgefühl bei dem Gedanken, daß er nun mit allem fix und fertig wäre.
Er lächelte: es war wirklich nicht schwer, wenn man das Leben so gern loswerden wollte ...
Inzwischen war es im Zimmer hell geworden. Sein Blick fiel auf ein Holzschnittporträt Jaabäks, das mit Reißzwecken an der obersten Türfüllung befestigt war. Das interessierte ihn aber jetzt nicht, und sein Blick glitt mechanisch von der Tür weiter nach rechts und fiel auf eine Büste Goethes, die oben auf dem Bücherregal über der Kommode stand ... Nein, er interessierte ihn jetzt auch nicht.
Er sah wieder weg, und nun fiel sein Blick auf die Wand über dem Bett. Da hingen zwei Holzschnitte: einer von Johann Sverdrup aus den fünfziger Jahren und einer von demselben aus dem Jahre 1882. Er hatte sie selber aus Verdensgang ausgeschnitten und mit Reißzwecken an die Wand geheftet.
Er sah die Bilder an, und eine merkwürdige Stimmung kam über ihn.
... Er selber war ein tödlich verwundeter Soldat ein junger Rekrut, der auf dem Schlachtfelde liegen geblieben war ... Und der dort oben war der General, der das siegreiche Heer weiter vorwärts führte, dem weichenden Feinde entgegen ...
Es war aber ein langer und schwieriger Feldzug. Auch der General würde auf dem Schlachtfelde bleiben, und das Heer würde über sein Grab hinweg weiter vorrücken.
Und erst lange, lange nachher würde der endliche Sieg gewonnen werden ... ... Etwas früher oder etwas später ... ?! ... Herrgott, wenn man einmal nach dem Ziel des Kampfes und nicht nach dem Kampfe selber trachtete ...
Und trotzdem, er wäre gern dabei gewesen. Aber er konnte nicht mehr.
Seine Gedanken verwirrten sich.
Er starrte hinter dem General drein mit dem weiterziehenden Heer. Und das Heer schwoll ins Unendliche. Es handelte sich nicht mehr um ein Heer, es handelte sich um ein ganzes Volk, das auf der Wanderung war. Die Volksmasse zog immer weiter. Und alle kehrten ihm, dem sterbenden Rekruten, den Rücken zu; keiner sah zurück, und er blieb ganz allein liegen. Das war aber gar kein unangenehmes Gefühl; er freute sich im Grunde genommen darüber, daß niemand sich um ihn bekümmerte; denn er war so müde, so todmüde ... Und die Volksmasse schwoll immer mehr an. Schließlich war es nur eine ungeheure schwarze Masse.
Und dann sah er nichts mehr – und er schlief mit einem müden Lächeln um den Mund ein.