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Wenn ich an meine Knabenzeit zurückdenke, steht mir sofort ein Szene deutlich vor Augen:
In einem bürgerlichen Zimmer mit kahlen, meergrünen Wänden liege ich im Bett. Meergrüne Wände – das ist das einzige, was ich weiß ... und dann, daß ich sterben werde. Ich weiß das aber nicht mit voller Klarheit. Der Tod und die meergrüne Farbe sind in meinem Bewußtsein so merkwürdig unklar zusammengeflossen, wenn ich im Halbschlummer mit geschlossenen Augen daliege, ohne Schmerzen und ohne Sehnsucht, nur müde, unsagbar müde und mit dieser nebelhaften meergrünen Vorstellung vom bevorstehenden Tode.
Zuweilen fühle ich, daß man mir den Mund öffnet und mir etwas einflößt – Bouillon, Rheinwein oder Portwein – und ich mache eine matte Schluckbewegung, und es gleitet hinab. – Und dann bleibt wieder das Meergrüne und der Tod. – Ich habe keine Auffassung von der Zeit.
Plötzlich werde ich auf einmal ganz wach und öffne die Augen. Ich vermag mich aber nicht zu bewegen, ich bin allzu müde und kann nicht denken; ich starre nur geradeaus über das Bett weg. Allmählich kommt mir zum Bewußtsein, daß ich auf einige große schwarze Buchstaben starre, die sich von weißem Grunde abheben –: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben,« steht dort. Es ist ein Haussegen, der rechts von der Tür an der meergrünen Wand hängt.
Ich fahre fort, die Buchstaben anzustarren –
Da höre ich aber plötzlich links von mir ein krampfhaftes Schluchzen und mache den matten Versuch, in der Richtung, des Lautes zu sehen. Es geht ganz langsam: schließlich aber gelingt es doch.
Vor dem Tisch am Fenster sitzt die Mutter. Und sie weint. Bleich und mager, das dunkelbraune Haar in der Mitte gescheitelt, glatt über die Schläfen hinabgestrichen und im Nacken in einem kleinen Knoten zusammengefaßt, sitzt sie in dem grauen Morgenkleid da, den Kopf auf die Hand gestützt, und starrt in das trübe Wetter hinaus, und die Tränen rinnen ihr das vergrämte Gesicht hinab über die vorstehenden Backenknochen, in die bleiche Wangenhöhle und um die zuckenden Mundwinkel, die sich zuweilen bei einem neuen Anfall von Schluchzen krampfhaft bewegen.
Ich sehe sie eine Weile an, empfinde aber nichts dabei; ich bin zu schwach, um einen Eindruck erhalten zu können – und begreife nicht, weshalb sie weint.
Da wird mir klar, daß sie weint, weil ich sterben muß.
...Ich bin der dritte. Erst war es Christian. Dann war es Nils. Sie fielen in einen dumpfen Schlaf, und dann starben sie. Jetzt ist die Reihe an mir ... Mir ist es gleichgültig ...
Um die Mutter aber ist mir's leid. Ihretwegen möchte ich gern gesund werden.
Dann kommt mir in den Sinn, daß ich Seemann geworden wäre, wenn ich weiter gelebt hätte ... Ich hätte die Welt umsegelt und fremde Länder gesehen. Und ich stelle mir wieder vor, was für ein Mensch ich denn geworden wäre ... wenn alle Versuchungen an mich herangetreten wären ... an den fremden Orten, wo mich niemand kannte und wo ich nicht zu fürchten brauchte, daß jemand von meinen Taten erzählte ... Ich hatte ja gehört, daß alle Seeleute, wenn sie in der Fremde ans Land kämen, gottlose, unchristliche Menschen wären. Ich würde es auch werden. Sehr. Ich würde ein furchtbar gottloses Leben führen ... in Ausschweifungen mich wälzen ... ich wußte, daß ich gar nicht anders können würde. – Und stürbe ich dann, ohne Zeit dazu zu gewinnen, mich zu bekehren ... oder wenn Gott nichts von mir wissen wollte, weil ich mein ganzes Leben mit dem Hintergedanken verlebt hatte, mich erst im letzten Augenblick zu bekehren? Nein, da war es wirklich besser, daß ich jetzt starb ... als ein Kind Gottes ... selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben ...
Und trotzdem – es war doch eigentümlich, sterben zu müssen, bevor man es probiert hatte ... ich hatte mir oft gedacht: Wenn ich sterben müßte, dann wollte ich auf alle Fälle alles daransetzen, um es erst einmal probieren zu können ... nur einmal, damit ich nicht aus dem Leben schiede, ohne zu wissen, wie es war. – Das war ein gottloser Gedanke. Jetzt dachte ich aber nicht mehr so ... ich fühlte mich so rein ... ich hatte keine Gelüste ...
Und welche Gelüste hatte ich alle gehabt! ...
Jetzt konnte mir so etwas nicht einfallen. Wahrscheinlich aber nur deshalb, weil ich müde war. Würde ich wieder gesund und stark, dann würden gewiß auch die schrecklichen Gelüste wieder kommen. Natürlich. – O, wie gottlos würde ich dann werden, wenn ich auf See ginge. – Nein, es war am besten so; jetzt konnte ich als ein Kind Gottes sterben ...
Die Mutter aber tat mir so leid. Wie sie weinte; jetzt hatte sie den Kopf auf die gekreuzten Arme gelegt und schluchzte laut ...
Dann fällt mir ein: ich will ihr alles erklären: was für ein Mensch ich geworden wäre, wäre ich am Leben geblieben ... dann würde sie sich darüber freuen, daß es so gekommen war; und dann treffen wir uns ja im Himmel ... das hätten wir sonst vielleicht nicht getan. – Gerade deswegen läßt mich Gott vielleicht jetzt sterben ... Ich will es ihr erklären, dann wird sie nicht so viel weinen ... ja, das will ich –:
»Mutter!«
Ich konnte das Wort nur flüstern, mehr Kraft hatte ich nicht. Sie hörte es aber, fuhr auf und kniete vor dem Bette nieder, fuhr mir durchs Haar, küßte mich auf die Stirn – nicht auf den Mund, ich hatte ja Diphtheritis – und sah mir liebevoll in die Augen, während ihr die Tränen in Strömen die Wangen hinabliefen. Drei Tage hatte sie vergebens auf ein Wort, auf einen Blick gewartet; ich hatte meinen Mund nicht aufgetan, kein Auge geöffnet.
Dann wollte ich anfangen zu reden und ihr alles erklären. Wie hätte ich es ihr aber sagen können? ... ihr, die niemals etwas von solchen Dingen geahnt hatte? ... ihr, die so keusch, so rein war? ... Ich konnte nicht einmal die Worte aussprechen. – Und selbst wenn ich's könnte ...? – Nein, sie sollte nicht erfahren, wie entsetzlich gemein und schweinisch ich gewesen war ... sonst würde sie jedesmal daran denken, so oft sie sich meiner erinnerte ... und das wollte ich nicht. – Nein!
Und ich blieb stumm und regungslos liegen und sah sie nur mit einem seltsamen Blicke an.
Ich konnte nicht sehen, daß sie das entsetzte; sie glaubte gewiß, daß jetzt der Tod käme, denn sie schlang ihren Arm um meinen Hals, und warf sich über mich und drückte mich an sich, daß es weh tat, sehr weh und schluchzte, als ob sie sterben müßte.
Sie tat mir fürchterlich leid, und ich hätte gern ein Wort gesagt. Ich versuchte es aber nicht – sie drückte mich auch so fest an sich – und so verlor ich wieder das Bewußtsein, und alles floh wieder zusammen in dem müden, neblichten meergrünen Gedanken an den Tod.
Ich war damals zwölf Jahre alt.