Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XI.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Kurz nach neun Uhr wurde ich dadurch geweckt, daß Jarmann ins Zimmer kam. Ich fuhr mit den Beinen zum Bett heraus, blieb aber auf der Bettkante sitzen und rieb mir die Augen.

»Bist du spät nach Hause gekommen?« fragte er.

»Nein, aber spät ins Bett.«

Während ich mich ankleidete und Toilette machte, erzählte ich ihm die Begebenheiten des gestrigen Tages. Er hatte seinen gewöhnlichen Platz im Schaukelstuhl eingenommen und schaukelte langsam hin und her, während er ein Zigarette rauchte und zuhörte, ohne ein Wort zu sprechen; er rieb sich nur ab und zu die Hände und kicherte, wenn ihm etwas besonders gefiel.

Als wir dann eben fortgehen wollten, um zu frühstücken, sagte er plötzlich: »Du! Ich bin eigentlich aus einem ganz anderen Grunde zu dir gekommen: Hast du schon überdacht, was du heute Abend sagen sollst?«

»Daran gedacht hab' ich schon; doch bin ich noch nicht fertig. Ich werde es im Laufe des Vormittags niederschreiben; dann lerne ich's am Nachmittag auswendig.«

Jarmanns Bemerkung bezog sich auf Folgendes:

Am Sonntag vor vierzehn Tagen hatte im Arbeiterverein eine Diskussion über die Aufhebung der Prostitution begonnen. Die ganze Diskussion hatte lediglich aus einer Reihe elender Lamentationen über die herrschende Unsittlichkeit bestanden. Alle Redner waren ekelhaft feine Herren gewesen, und Jarmann war rasend geworden und hatte die größte Lust gehabt, das Wort zu verlangen und diesem gezierten Abschaum etwas Ordentliches zu versetzen. Er hatte aber nicht den Mut dazu gefunden und nur dagestanden, die Zähne zusammengebissen und, so oft ein neuer Redner auftrat, »Esel« ... »Idiot« ... vor sich hingemurmelt. – Am Sonntag darauf, heute vor acht Tagen, hatte er mich dann mit in die Versammlung geschleppt, und das Resultat war gewesen, daß ich ums Wort bat. Es waren aber so viele Redner vorgemerkt, daß ich in dieser Versammlung nicht zum Sprechen kam; erst heute Abend kam die Reihe an mich. Darauf bezog sich Jarmanns Bemerkung.

Wir frühstückten im Grand Hotel; dann begab ich mich nach Hause, um die Rede fertig zu stellen, während Jarmann spazieren ging.

– – Am Abend holte er mich von meiner Wohnung ab. Der Saal im Arbeiterverein war von drei schweren Kronleuchtern hell erleuchtet und gestopft voll von Menschen. Als wir eintraten, sahen wir nichts weiter als Kopf an Kopf – und dann rechts oben auf dem Katheder mitten an der Längsseite den Vorsitzenden, Herrn Hölaas.

Die Diskussion hatte schon begonnen.

Wir versuchten, uns durch die Menschenmasse vorzudrängen. Rechts von der Eingangstür stand eine kleine Tribüne, die sich etwa einen oder anderthalb Fuß über den Boden erhob, dicht angefüllt mit Menschen. Es gelang uns, dort einen Platz zu erobern. Von dort aus hatten wir eine brillante Aussicht über die Versammlung.

Unmittelbar vor dem Katheder, quer durch den Saal, streckte sich ein langer Tisch, an dem die Zeitungsreferenten Platz genommen hatten. Hinter ihnen zu beiden Seiten eine Reihe dichtbesetzter Bänke und hinter diesen wieder Kopf an Kopf dichtgedrängt bis zu den Wänden.

Ein Redner setzte sich – vielleicht kam ich an die Reihe! ... Mich überfiel ein fürchterliches Fieber; noch nie war ich öffentlich aufgetreten. Ich sah mich nach Jarmann um. Er starrte über die Versammlung und sah heiß und verwirrt aus; er hatte gewiß ebenso starkes Fieber wie ich. – Aber ein anderer war an der Reihe, ein anderer Name wurde genannt.

»Mir ist nicht gerade wohl zumute,« sagte ich zu Jarmann. – Er antwortete nicht, sah mich nur mit einer merkwürdigen Mischung von Mitleid und Begeisterung an.

»Ich hätte fast Lust, auf das Wort zu verzichten ...«

»Nein, das darfst du nicht!« – er stieß die Worte hervor und wurde blutrot.

»Nein, du kannst ruhig sein – aber es ist ein verflucht ekelhaftes Gefühl.« –

Wir starrten wieder über die Versammlung. Der Redner setzte sich, ohne daß ich ein Wort von dem, was er sagte, aufgefaßt hatte. Ich holte tief Atem – und dann wurde mein Name genannt.

Ich stieg von der Tribüne herunter, drängte mich, angeglotzt von allen, an denen ich vorüber mußte, nach rechts vor nach dem Gang längs der Kathederwand und dann weiter bis zu diesem. Da hatte ich die freieste Aussicht. Ich stand einen Fuß hoch über dem Boden, hatte nur die Referenten und die sitzenden Zuhörer vor mir und konnte frei nach beiden Seiten des Saales sehen. Dann sollte ich anfangen. Aber das Blut stieg mir zu Kopf, ich wurde ganz verwirrt und wußte kein Wort mehr von dem, was ich sagen wollte. Glücklicherweise hatte der Vorsitzende eine Bemerkung zu machen: er wollte die folgenden Redner bitten, lauter zu reden, da die entfernter Stehenden geklagt hätten, daß sie kein Wort verstünden.

»Ich werde mein Bestes tun,« sagte ich. Meine Stimme klang trocken und scharf, etwas unbehaglich durch den Saal; aber ich fühlte daß sie den Raum völlig ausfüllte, ohne daß ich sie stärker zu erheben brauchte. Das gab mir Mut. Das Blut stieg wieder aus dem Kopfe zurück, die Rede stand mit einemmal wieder klar vor mir von Anfang bis zu Ende, alle die Gesichter, die mich anstarrten, genierten mich nicht mehr. Und ruhig lächelte ich zu Jarmann hinüber und begann –:

»Herr Vorsitzender! – Was mich bewogen hat, das Wort zu verlangen, ist nicht eine einzelne Bemerkung der früheren Redner, sondern die ganze Art und Weise, wie die Diskussion bisher geführt worden ist. Wollen wir nämlich zu einem vernünftigen Resultat kommen, so muß die Debatte ganz anders als bisher sich um die Frage konzentrieren: Ist die Prostitution die zweckmäßige Form für das Übel, das durch sie seinen Ausfluß findet? – oder, wenn nicht: welche andere Form muß dann an ihre Stelle gesetzt werden? – Welche Form das Übel zweckmäßigerweise haben muß, darüber müssen wir ja hier reden – über nichts anderes.

Ich will erklären, weshalb.

Das Übel selber besteht darin, daß in unserer auf der Ehe basierten Gesellschaft auch außerhalb der Ehe geschlechtlicher Verkehr zwischen den Geschlechtern gepflogen wird.

Worin wurzelt nun dieses Übel?

Einmal darin, daß unsere Gesellschaft auf der Ehe fußt, trotzdem sich zeigt, daß diese Institution nicht ein Ausdruck für die geschlechtlichen Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft ist; dann darin, daß die Verteilung des Ertrages der sozialen Arbeit eine solche ist, daß in unserer Gesellschaft eine Menge Frauen teils nur äußerst schwer, teils gar nicht von ihrer Arbeit leben können. – Das sind die Wurzeln des Übels, und diese Wurzeln wollen wir ja nicht ausrotten: wir wollen nicht Sozialismus, und wir wollen nicht freie Liebe. Wir wollen also diese Wurzeln bestehen lassen und damit auch das Übel behalten, das unausweichlich aus ihnen aufsprießt. Und da bleibt nur die eine Frage zur Diskussion übrig: In welcher Form wollen wir das Übel haben?

Man verschone uns also mit diesen elenden Lamentationen über das »Häßliche«, das »Unmoralische«, das »Unsittliche«, das »Unchristliche«, diesen »Schandfleck der Nation« – und Gott weiß welche Ausdrücke hier noch gebraucht sind. Man verschone uns mit dem Gerede von den Bierbrauereien, dem Biertrinken, den Großhändlern, der Liederlichkeit der Männer usw., die an der Existenz des Übels schuld sein sollen. Sehen wir der Wahrheit offen ins Auge und gestehen wir ehrlich, daß wir selber seine Existenz haben wollen, und beschränken wir also die Diskussion auf die Frage: in welcher Form müssen wir es zweckmäßigerweise haben?

Will man die Diskussion nicht darauf beschränken, will man wirklich hier darüber diskutieren, wie wir dieses Übel mit der Wurzel ausrotten können – ja, dann meine ich, daß das einzig Vernünftige, was hier gesagt worden ist, die Worte waren, die Bäcker Christensen am ersten Abend aussprach: »Laßt uns diese Sache nicht hier diskutieren« – diese Diskussion wird nämlich kaum früher in den Arbeiterverein gehören als in hundert Jahren. –

Ich kann mir denken, daß man gegen meine Worte einwenden wird: »Ja, was Sie sagen, wäre ja ganz richtig, wenn die Wurzeln des Übels wirklich die wären, die Sie genannt haben. Aber das ist gar nicht der Fall; das Übel wurzelt in ganz anderen Dingen.«

Nun, ich habe nicht die Absicht, mich auf eine eingehende Debatte darüber einzulassen, worin die Wurzeln des Übels bestehen und worin nicht. Aber indem ich davon ausgehe, daß alle darin einig sind, daß die ökonomischen Verhältnisse eine der Hauptwurzeln sind, und daß also der Dissens die andere der von mir genannten Wurzeln treffen muß –: die Institution der Ehe – so will ich auf zweierlei hinweisen: 1. auf das häufige Vorkommen der Bleichsucht bei jungen Mädchen der bessergestellten Gesellschaftsklassen, in denen das Vorurteil gegen außerehelichen Geschlechtsverkehr am größten ist; und 2. auf die Beispiele, die wir nun einmal dafür haben, daß die menschliche Natur sich gegen die Schranken aufbäumt, die die Institution der Ehe gegenüber der individuellen Freiheit errichtet hat, und sie um jeden Preis niederreißt – um jeden Preis! Ich will z. B. an ein Ereignis erinnern, das sich neulich hier zugetragen hat und das wir alle noch in Erinnerung haben –: diese drei jungen Mädchen aus guter Familie, die die meisten Goldschmiede in der Stadt bestahlen ...«

Pastor Hansen: »Herr Vorsitzender! Darf das in die Diskussion hineingezogen werden?«

Der Vorsitzende: »Wenn der Redner es zu seiner Argumentation braucht, kann ich's ihm nicht verbieten.«

Ich: »Ja, ich brauche es. – Man hat mir erzählt, diese drei jungen Mädchen hätten die Ausbeute ihrer Diebstähle dazu verwandt, sich ein Zimmer zu mieten und Wein anzuschaffen, mit dem sie auf diesem Zimmer einige junge Burschen freihielten, die sie gern hatten, die aber weder über die Mittel noch die Gelegenheit verfügten, sie mit sich nach Hause zu nehmen.«

Pastor Hansen: »Herr Vorsitzender, es kann doch unmöglich notwendig sein, das in die Debatte hineinzuziehen.«

Der Vorsitzende: »Darüber kann ich erst urteilen, wenn der Redner aus dem referierten Ereignis seine Nutzanwendung gezogen hat.«

Ich: »Diese drei Mädchen waren, so viel mir bekannt, nicht bleichsüchtig, auf jeden Fall war ihr Unternehmen kein bleichsüchtiges Unternehmen. – Und ich will hinzufügen: in meinem Herzen ist größere Freude über diese drei als über 997 sogenannte unverdorbene, bleichsüchtige Mädels. Sie sind mir nämlich ein Anzeichen dafür, daß einmal die Wende kommen wird, da die Mehrzahl unserer Frauen, wie jetzt diese drei, sich gegen die tausendjährigen Schranken der Unfreiheit erheben wird, die die Institution der Ehe gegen die individuelle Freiheit errichtet hat – und sie niederreißen wird um jeden Preis. – Und wenn das geschieht, dann ist die Stunde der Freiheit da ...«

Pastor Hansen: »Es ist ungehörig, daß der Redner in dieser Weise fortfahren darf.«

Referent Habel (sich in seinem Stuhl zurücklehnend und zu seinem Freunde, dem Vorsitzenden, hinaufsehend): »Das ist ja eine Schweinerei.«

Schuhmacher Skaarer (indigniert über die Versammlung blickend): »Das gilt unseren Töchtern.«

Ich: »Ach, leider nein, Herr Skaarer, wahrscheinlich nicht einmal die Töchter unserer Enkel.«

Der Vorsitzende: »Ich frage die Versammlung, ob sie wünscht, daß der Redner fortfährt oder nicht.«

Laute Rufe von allen Seiten: »Nein! Nein! Nein!«

Der Vorsitzende: »Wenn also der Redner fortfahren will, so muß er über andere Dinge reden.«

Ich: »Nun ja, was die Frage selber betrifft: in welcher Form die Unsittlichkeit noch am ehesten zu ertragen wäre, so geht meine Meinung dahin, daß es am zweckmäßigsten sein würde, wenn der Staat die ganze Sache in die Hand nähme, öffentliche Bordelle einrichtete mit passenden Abteilungen für die verschiedenen Gesellschaftsklassen, und für die größtmögliche Sicherheit vor venerischen Krankheiten sorgte, speziell durch strenge Visitation der Männer, die die Bordelle benutzen. Was die Mädchen betrifft, die der Staat in diesen Bordellen anstellt, so ist es klar, daß er für sie ebenso wie für die anderen Gesellschaftsklassen, die andere Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen, die volle mitbürgerliche Achtung verlangen müßte (allgemeines Gelächter) ... die volle mitbürgerliche Achtung! – Im übrigen hab' ich nichts mehr zu sagen.«

Ich verbeugte mich vor der Versammlung und kehrte zu Jarmann zurück, der mich mit freudestrahlendem Gesichte empfing. »Das war brillant!« sagte er. »Das war den Biestern gesund!«

Wir blieben bis zum Schlusse der Versammlung, um zu hören, ob etwa etwas Anständiges erwidert werden würde; was aber über meinen Vortrag gesagt wurde, war nur dummes Gewäsch. Trotzdem verlangte ich nochmals das Wort, um das nächstemal darauf zu antworten.

Auf dem Heimwege trafen wir einige Mädchen, die wir kannten, und nahmen sie mit nach Hause. Wir blieben bis zwei, drei Uhr nachts zusammen und brachten die Zeit auf die gewohnte Weise hin. Jarmann erzählte den Mädchen mit großer Begeisterung, daß wir heute abends zu ihrem Vorteil gesprochen hätten, es gelang ihm aber nicht, sie dadurch in angeregte Stimmung zu versetzen. – – –

In der Dienstags-Nummer des »Vaterlands« wurde über die gottlose Rede ein wüstes Geschrei erhoben. Die Leute lachten aber bloß: »Das Vaterland – hahaha! – übrigens muß dieser Herr Hermann Eek ein ganz schneidiger Bursche sein.«


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