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Ich hatte die ganze Woche über nur wenig Zeit gehabt, infolgedessen Gerda ich nur ganz flüchtig grüßen und im Vorübergehen ein paar Worte mit ihr wechseln können. Am Freitag-Nachmittag war ich endlich frei und suchte sie auf. Ich traf sie am Pavillon im Studentenwäldchen.
»Es ist ja schon eine ganze Ewigkeit her,« sagte ich, »daß ich mit Ihnen gesprochen habe, Sie wissen nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe.«
Sie antwortete nur mit einem Lächeln, und wir gingen zusammen die Drammensstraße hinan. Wir schritten nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Sie sah auf ihre Füße hinab, und ich betrachtete sie ineinemfort – das bekam ich nie satt.
Auf einmal blieb sie plötzlich stehen und sah mir mit kecker Schelmerei ins Gesicht: »Na, Sie sind mir ja ein Guter!« sagte sie; »was haben Sie denn für Zeug geredet?«
»Ich?«
»Ja, Sie! – Sie sollen ja im Arbeiterverein etwas ganz Abscheuliches gesagt haben!«
»Ach das?«
»Ja, das? – Erzählen Sie gefälligst!« – und sie macht eine befehlende Handbewegung und ging weiter.
Nach einer kurzen Pause fragte ich erst: »Sie wissen also, worum sich die Discussion drehte?« Sie sah mich nur mit einem überlegenen Nicken an, als wollte sie sagen, ich sollte nur nicht etwa glauben, daß sie ein unwissendes Kind sei, und da wir gerade auf die Anhöhe hinaufgekommen waren, die am Anfang der Drammensstraße liegt, blieb ich dort stehen und wies auf das Vikaviertel hin, das unten in der beginnenden Dämmerung dalag.
»Von denen dort unten sollte also gesprochen werden?« sagte ich, »und da begreifen Sie wohl, daß ich nicht gerade besonders feine Dinge zu sagen hatte.«
Ja, ja, ja!« Sie stampfte vor Ungeduld mit den Füßen. »Erzählen Sie nur, was Sie gesagt haben!«
»Erst muß ich aber erzählen, was die anderen gesagt hatten.«
»Na ja, erzählen Sie nur!« Und sie ging wieder weiter.
»Sehen Sie,« sagte ich, »die anderen deklamierten alle der Reihe nach: daß solche Häuser, wie die dort unten, existierten, das sei ein Schandfleck der Nation – und Gott weiß was noch.«
»Sind Sie denn nicht auch der Meinung?« Sie sagte das mit einem schwachen Lächeln, aber ohne aufzusehen.
»O ja.«
Etwas verwundert über diese Antwort, blickte sie zu mir auf.
»O ja,« sagte ich und nickte, »ich bin auch der Meinung. Ich sagte aber zu den Leuten im Arbeiterverein: Wenn Ihr den Schandfleck vom Ehrenschilde der Nation wegwischen wollt, dann müßt Ihr die Liebe freigeben und allen denen, die sich lieb haben, erlauben, zusammen zu leben! Und dann müßt Ihr es so einrichten, daß alle Frauen, wenn sie arbeiten, so viel verdienen können, daß sie von ihrem Verdienste wie Menschen leben können! – Aber nein, das wollten sie nicht. O nein! Die Männer, sagten sie, sollten nur aufhören, liederlich zu sein, und sollten nicht eher an Frauen denken, als sie in der Lage wären, zu heiraten! Und dann sollten sie sich ein Eheweib auf Lebenszeit nehmen – und damit basta! – Und die armen Frauen? – na, die sollten sich in ihr Schicksal finden, hübsch weiter arbeiten und weiter hungern und sich nicht etwa einfallen lassen, sich an Männer zu verkaufen! – Gut, sagte ich zu ihnen – die Männer wollen nun aber einmal nicht so lange herumlaufen, ohne an Frauen zu denken, bis sie ein Menschenalter alt sind und Weib und Kind versorgen können – das habt auch Ihr nicht gewollt, die Ihr Euch hier herstellt und schwatzt. Und so lange den Männern nicht erlaubt wird, auch vor dieser Zeit zu lieben und mit der, die sie lieben, zusammen zu leben, so lange werden sie liederlich und so lange werden sie sich Frauen kaufen. Und die Frauen – ja, wenn sie mit ihrer Arbeit nicht mehr verdienen, so daß sie doch am Hungertuch nagen müssen, dann werden sie es vorziehen, sich zu verkaufen. – Und daher wird – sagte ich zu den Leuten – wenn Ihr die Häuser dort unten aufhebt, ohne gleichzeitig die Liebe freizugeben und die Arbeitsverhältnisse der Frauen zu verbessern, deswegen das Unwesen dem Ihr zu Leibe wollt, noch lange nicht verschwinden – es wird sich nur über die ganze Stadt verbreiten. – Sagen Sie mir, Gerda, scheint Ihnen das so ganz unvernünftig, was ich gesagt habe?«
Sie hatte, während ich sprach, vor sich hingesehen. Nun hob sie den Kopf und sah mich unsicher an: »Nein,« sagte sie, »aber ... es geht wohl nicht an, daß man so etwas sagt ...«
»Es hat sich aber gezeigt, daß es angeht.«
»Die Leute sprechen aber deswegen schlecht von Ihnen, – und das hat doch keinen Nutzen.«
»Das sollen Sie nicht sagen. Allein das Moment, daß ich es einmal gesagt habe, hat bewirkt, daß die Leute darüber sprechen. Und wenn alle, die dasselbe meinen wie ich, es sagen würden, und nicht bloß einmal, sondern immer, bei jeder Gelegenheit, die sich darbietet, öffentlich und privatim – dann würden die Leute viel darüber sprechen. Und wenn junge Menschen, die sich lieb haben, sich den Teufel um das scheren wollten, was die Leute sagen, und so lange zusammen leben, wie ihre Liebe dauert – dann würden die Leute bald über nichts anderes mehr sprechen als darüber. Und wenn sie dann genügend darüber nachgedacht und gesprochen hätten, dann würden sie schließlich zu dem vernünftigen Resultat kommen. – So geht es ja mit allem, was neu ist.«
Sie schüttelte den Kopf, sprach zunächst eins Weile kein Wort und sagte dann wie zu sich selbst: »Sie sollten wissen, was ich Ihretwegen habe ausstehen müssen ... Die Mutter verbot mir schließlich, fernerhin mit Ihnen spazieren zu gehen ...« Und sie schritt, wie in Gedanken versunken weiter und sah zu Boden.
Plötzlich aber hob sie den Kopf, warf mir einen despotischen Blick zu und sagte in bestimmtem Tone: »Sie dürfen so etwas nicht wieder sagen.«
Das klang so ganz entschieden, als wäre damit die Sache abgetan. Ich mußte lächeln. Eine Träne stahl sich aber über meine Wange herab: O dieser rührende Despotismus der Liebe!
Wieder gingen wir, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte ich: »Ich habe heute nacht so herrlich von Ihnen geträumt, Gerda!«
»Was haben Sie denn geträumt?«
Sie sah mich inquirierend an mit dieser despotischen Koketterie, die ihr eigen war und die erkennen ließ, daß sie das Bewußtsein davon hatte, infolge der Macht ihrer Augen über mich verfügen zu können. »Was haben Sie denn geträumt?«
Ich erzählte ihr einen Traum, den ich in der Sonnabend-Nacht gehabt hatte. Von Anfang bis zu Ende erzählte ich ihn, während sie langsam neben mir her ging, sich naiv-kokett in den zarten Hüften wiegend und still vor sich hinblickend. Mit allen Einzelheiten. Von der ersten Szene in dem rotmöblierten Kabinett an, in dem ich durchlas, was sie geschrieben hatte, während sie hinter mir stand, den Arm auf den Rücken des Lehnstuhles gelehnt, und über meine Schulter hinweg mitlas. Bis dahin, da sie in dem schokoladebraunen Schlafzimmer mit den schweren Himmelbett entkleidet mitten im Zimmer vor mir stand, wobei das Hemd schräg über die kecke, kurze Büste hinabgeglitten, die linke Brust entblößt war. – Alles erzählte ich ihr, während sie sich naiv-kokett in den Hüften wiegte und lächelnd vor sich hin sah.
»Und da« – erzählte ich – »ergriff mich ein zärtlicher Stolz: Alles dies war mein ... Sie, Sie waren mein ... ganz und gar ... Sie standen ganz ergeben da ... Sie vorenthielten mir nichts ... Alles, alles wollten Sie mir geben ... bis auf ihren geringsten Gedanken ... alles bis Sie nichts mehr zu geben hatten ... Und ich sank überwältigt auf die Knie und streckte in stummer Anbetung die Hände zu ihnen empor und sah Ihnen in Ihr liebes Gesicht. Und Ihre scheu forschenden Augen wurden feucht und tief, und Sie faßten meine Hände, hoben mich langsam zu sich empor, schlangen die Arme weich und schwer um meinen Hals und bargen Ihren Kopf an meiner Schulter. Und ich lehnte meinen Kopf an den Ihren und küßte Ihr schwarzes Haar. So blieben Sie einen langen Augenblick stehen. Dann löste ich mich behutsam aus Ihrer Umarmung, nahm Sie wie ein Kind in meine Arme, küßte Ihren gelblichen Marmorhals – und wollte sie nach dem Bette hintragen. Ihre zarten Glieder nahmen aber meinen Armen die Kraft; ich mußte mich krampfhaft zusammennehmen, um Sie nicht fallen zu lassen. Und dann ergoß sich das süße Gefühl der Entkräftung über meine Schultern, rieselte mir durch alle Glieder hinab und erfüllte mich mit zärtlicher Wollust – und ich mußte in die Knie sinken, während ich Sie fest an mich drückte und in einem verzehrenden Kusse meine Lippen auf Ihren weichen Hals heftete ...«
»Und dann?« fragte sie nervös, als ich innehielt, doch ohne aufzusehen.
»Dann fuhr ich, ganz wach, auf meinem Sofa empor und verfluchte die Wirklichkeit.«
Sie blieb stumm. Sie wiegte sich noch immer naiv-kokett in den Hüften und sah vor sich hin, das Gesicht ein wenig gesenkt.
Auf einmal sah sie zu mir auf, unbefangen, aber mit einem Anfluge von Verschämtheit.
»Waren wir denn verheiratet?« fragte sie.
»Nein.«
Sie schlug die Augen nieder und wiegte sich nicht mehr selbstbewußt in den Hüften; ihr Gang wurde schleppend, bedächtig.
»Nein,« sagte ich. »Begreifen Sie denn nicht – das war ja gerade das Herrliche. Bei Ihnen waren wir. Sie waren ein paar Jahre älter, hatten sich eine selbständige Stellung erworben und brauchten keinen Mann, der Sie versorgte. Und ich liebte Sie; deshalb kam ich. Und Sie liebten mich; deshalb durfte ich bleiben. Nicht deshalb, weil Sie einmal gelobt hatten, mein Weib und ich Ihr Mann zu sein. Wenn Sie am andern Tage mich nicht mehr liebten, dann durfte ich nicht mehr bleiben; wenn ich am andern Tage Sie nicht mehr liebte, dann kam ich nicht wieder. Ich kam aber und durfte bleiben – und da wußten wir, daß wir uns liebten ... das war gerade so unendlich süß. – Sind Sie mir böse, weil ich es mir so dachte?«
Ich ergriff ihre Hand, und sie ließ sie mir. »Nein,« sagte sie; sah aber nicht auf und ging, in Gedanken versunken, weiter. –
Auf dem Rückwege von unserm Spaziergang kamen in der Nähe einer Gaslaterne zwei dicke kurzbeinige Damen auf uns zugewatschelt, die eine etwa 30 die andre ungefähr 17 Jahre alt. Das Licht der Gaslaterne strahlte ihnen gerade ins Gesicht. Ich sah, wie die jüngere die ältere am Ärmel zupfte und auf uns aufmerksam machte, und beide starrten dann Gerda verächtlich ins Gesicht. Die ältere Dame hatte ein aufgedunsenes, braungraues Gesicht, einen formlosen Klecks von einer Nase und ein paar stechende Schweinsaugen; die jüngere anzusehen, hatte ich nicht Zeit. Sie passierten die Gaslaterne, ihre Gesichter wurden schwarz, und ich sah nur, daß die stechenden Augen der älteren Dame immer noch fest auf Gerda gerichtet waren – als plötzlich, gerade als wir aneinander vorübergingen, aus dem aufgedunsenen, braungrauen Gesicht ein zurückgedrängtes Lachen hervorsprudelte. Gerda blieb, leichenblaß im Gesicht, unmittelbar unter der Gaslaterne stehen und sah ihnen mit zornsprühenden, schwarzen Augen und zusammengebissenen Zähnen nach, sagte aber kein Wort. Bis sie sich plötzlich zu mir umkehrte und, in Tränen ausbrechend, sagte: »Das ist Ihre Schuld!«
Ich stand ganz unglücklich da. »Sind Sie mir böse?« fragte ich leise und streckte meine Hand suchend nach der ihren aus. Sie gab sie mir.
»Nein,« sagte sie, »sie waren es, die – ach!« und sie drohte hinter den Damen her, die schon weit weg waren, fuhr sich dann mit dem Handrücken über die Augen und wischte sich die Tränen ab.
Wir gingen weiter nebeneinander her, ohne ein Wort zu sprechen. Dann blieb aber Gerda mitten auf der Straße stehen, sah mir mit ernster Miene in die Augen und sagte eindringlich und entschieden: »Sie dürfen das aber nicht wieder tun.«
Ich antwortete nicht, faßte ihre Hand und drückte sie. »Wenn Sie erst so alt sind wie ich,« sagte ich, »dann werden Sie solche Menschen, wie diese beiden, ebenso hassen lernen wie ich. Und es gibt viele von der Sorte. Sie sind fast alle so – das ist, was mir das Leben verbittert hat.«
Sie antwortete nicht, und wir gingen, ohne ein Wort zu sprechen, bis an ihre Wohnung. Vor der Haustür blieb sie stehen und gab mir die Hand. Ich hielt sie eine Weile fest und streichelte sie, beugte mich dann nieder und küßte sie auf den Handschuh.
»Gute Nacht! Gott, wie lieb ich Sie habe! ... Sie sind mir nicht böse ... nicht wahr?«
»Nein,« sagte sie und sah mir traurig ins Gesicht.
Und dann sagte sie Gute Nacht und ging ins Haus, und ich wanderte allein heimwärts.
Allein gelassen mit ihren Gedanken stieg sie langsam die Treppe hinan ...
... Sie konnte mit sich selber nicht recht darüber ins reine kommen: ob es nicht doch eine Beleidigung gewesen sei ... nicht, daß er so von ihr geträumt – sondern daß er es ihr erzählt hatte! ... Wenn er es etwa gewagt hatte, sie zu beleidigen, dann wollte sie ihn niemals wiedersehen ....
... Nein, es war keine Beleidigung. Nicht so, wie er geträumt hatte. Und nicht so, wie er es erzählt hatte. – Sie fand ja selber, daß es schön war ... es war ja Liebe darin ... er liebte sie ...
... Er wollte sich aber weder mit ihr verloben, noch sie heiraten ... Weil niemand wissen kann, wie lange die Liebe anhält ...
Wenn man sich aber nicht mehr liebte, so konnte man sich ja scheiden lassen! – Sie dachte darüber nach ... Eine geschiedene Frau – nein, pfui! ...
Was wollte er aber dann?! ... Sie fühlte, wie sie über und über rot wurde – Ach, er war fürchterlich gottlos! ...
Wie in aller Welt war er nur so geworden? ... Die Leute sagten, er habe ein ausschweifendes Leben geführt – das hatte er wohl auch. Und dann war er ein verworfener Mensch geworden mit ruchlosen Anschauungen ... und war jetzt sogar frech genug gewesen, sie in einer Versammlung feiner, anständiger Menschen laut zu verkünden ...
Nein, was er gesagt hatte, war nicht verworfen und ruchlos. Gottlos war es, fürchterlich gottlos! Aber nicht verworfen und ruchlos. – Und es war keck und mutig, daß er gesagt hatte, was er nun einmal meinte; gerade in einer Versammlung feiner, anständiger Menschen – das gefiel ihr ... Sie sah ihn in der Versammlung aufrecht dastehen und reden. Und alle sahen ihn verwundert an: sie meinten, sie hätten niemals etwas so Freches gehört. – Sie konnten ihn aber anglotzen, so viel sie Lust hatten, er sprach nur ruhig weiter und sagte doch, was er sagen wollte, während er sie mit seinen klugen, braunen Augen ansah ...
Sie lächelte: sie konnten ihn ansehen, so viel sie Luft hatten, es half nichts. Sie selber aber konnte ihn zum Schweigen bringen, sobald sie nur wollte. Sie brauchte ihn nur anzusehen und zu sagen: nein, jetzt dürfen Sie nicht mehr darüber reden – und er hörte augenblicklich auf. Und sie brauchte ihn lediglich anzusehen, »so wie sie es konnte« – und sie konnte mit ihm machen, was sie wollte ... O, es war herrlich, einen Mann nur mit der Macht der Augen so vollständig fesseln zu können! ...
Sie hatte im Korridor abgelegt und trat ins Zimmer.
Als sie in die Wohnstube trat, lag ihr gerade gegenüber die ältere bleichsüchtige Schwester matt auf dem Sofa ausgestreckt da. Die Lampe auf dem Tische warf einen matten Schein in das kalte Zimmer mit den nackten Wänden und den Möbeln aus Birkenholz.
»Wo bist du so lange gewesen?« fragte die Schwester ärgerlich.
»Spazieren – mit Lissi.«
»Du solltest lieber deine Schularbeiten machen, als dich so auf der Straße herumzutreiben!«
»Ach, laß mich jetzt in Ruhe!«
Gerda nahm ein Buch und setzte sich an den Tisch. Die schwarzen Buchstaben glitten aber an ihren Augen vorüber, ohne daß sie wußte, was sie las. Sie dacht nur an Hermann Eek ... und was er von ihr geträumt hatte.
... Sie begriff von dem Ganzen nichts weiter, als daß er furchtbar gottlos war – daß sie ihn aber doch gern hatte. – Und mit Wohlbehagen ließ sie in ihrer Erinnerung den ganzen Traum wieder an sich vorüberziehen, und verweilte bei jedem einzelnen Zuge ...
Dann sah die Mutter zur Küchentür heraus: »Gerda, deck' jetzt den Tisch.«
Während Gerda langsam zwischen dem Tisch und dem Büfett hin und wieder ging und den Tisch deckte, wurde sie von der kranken Schwester beobachtet: wie zerstreut sie doch aussah!
»Du bist doch nicht etwa schon wieder mit Hermann Eek spazieren gegangen?« fragte sie plötzlich.
»Nein,« sagte Gerda ruhig; sie hielt die Teller im linken Arm und wollte sie eben auf den Tisch setzen. Da sie aber fühlte, daß sie rot wurde, stampfte sie auf den Boden. »Ach! Immer mußt du mich mit ihm aufziehen,« sagte sie ...Übrigens« – und sie setzte ruhig die Teller bin – »und wenn ich es getan hätte, so ginge es dich auch nichts an! Kümmere du dich um dich selber!«
»Ich werde es der Mutter sagen, daß du wieder mit ihm gegangen bist!« sagte die Schwester boshaft.
Gerda sah sie einen Augenblick ruhig an. Dann sagte sie ruhig: »Bitte, sage es nur! Lüge meinetwegen so viel du magst!« Und sie ging wieder ruhig nach dem Büfett.
Sie saßen zu dritt um den Tisch und tranken Tee; der Vater war nicht zu Hause.
Plötzlich sagte die Mutter: »Ja, richtig, Gerda! Tante Helga läßt dich bitten, doch morgen zu ihr zu kommen.«
Gerda wollte gerade ihr Butterbrot zum Munde führen. Nun hielt sie in der Bewegung inne und behielt es in der Hand: »Ach nein, Mutter! Ich bin ja erst gestern dort gewesen. Mag doch Alma morgen hingehen!« – Und sie biß kräftig in ihr Butterbrot und schlürfte etwas Tee.
»Schlürf' nicht so, Kind!«
»Mir ist nicht wohl, ich kann nicht,« sagte die Schwester. Die Mutter aber sah mit ihren dunklen, abgehärmten Augen Gerda an. »Pfui,« sagte sie, »daß du deine arme kranke Tante nicht sehen willst, die so gut zu dir ist.«
»Es ist aber so langweilig!« sagte Gerda kauend. »Du solltest nur wissen, wie langweilig es ist! Ich muß die ganze Zeit auf der Bettkante sitzen und ihre Hand halten; und dann will sie, ich soll ihr etwas erzählen ... und ich habe ihr nichts zu erzählen ... und dann sagt sie, ich wäre ein dummes Mädchen. Und wenn ich dann bös werde und gehen will, dann zieht sie mich an sich, weint und küßt mich, sagt, sie sei so allein, und verspricht mir etwas, wenn ich nur bleiben wolle. – Gestern hat sie mir einen neuen Hut versprochen!«
»Na, da kannst du doch sehen, wie gut sie ist!«
»Ja, gut ist sie,« sagte Gerda, eifrig weiterkauend, »aber ... ach! so langweilig.« – Und sie schlürfte wieder etwas Tee.
»Schlürf' nicht so, Gerda!«
»Kann denn Alma nicht doch morgen hingehen?«
»Du hast wohl keine Zeit!« sagte Alma boshaft. »Du hast wohl wieder ein Stelldichein mit diesem Hermann Eek!«
Die Mutter ließ die Hände sinken und sah Gerda an: »Du gehst doch nicht etwa noch mit ihm?« sagte sie ernst.
»I wo!« sagte Gerda. Sie wurde aber wieder rot und nahm einen langen Schluck Tee, um es zu verbergen.
Die Mutter sah sie eine Weile an, dann sagte sie eindringlich: »Hüte dich vor ihm, Gerda! Du weißt nicht, wohin so etwas führen kann!«
Gerda machte eine überlegene Bewegung mit dem Kopfe. »Pah! Vor dem brauche ich mich nicht zu hüten. Ich habe ihn ja nur zum Narren. Du solltest dabei sein, wenn ich ihn treffe. Er grüßt und sieht mich an, und ich kann ihm anmerken, wie gern er mich ansprechen möchte. Ich erwidere aber seinen Gruß nicht und gehe an ihm vorbei und tue, als ob ich ihn nicht kennte. Und wenn ich mich kurz darauf umkehre, steht er immer noch da und sieht mir nach ... das Ekel!«
Und Gerda lachte so herzlich, daß die Mutter sich beruhigte.
Nach Tisch faß Gerda wieder vor ihrem Buche. Es ging aber auch jetzt nicht mit dem Lesen; sie saß nur, den Kopf auf die Hand gestützt, da und sah auf die Buchstaben hinab.
... Weshalb war er nicht wie die andern? Wenn es auch schön war – es war ja nicht möglich! – Und sie sah verstohlen zur Mutter hinüber, die mit ihrem müden, abgehärmten Gesicht neben ihr saß und strickte ... und zur Schwester, die wieder müde auf dem Sofa lag und interesselos ins Leere starrte ... Ob sie wohl auch einmal so werden ... ebenso müde und interesselos ... und einmal als altes Weib dasitzen würde, ohne an etwas zu denken ... ?
Sie sah wieder ins Buch, und die Buchstaben glitten an ihr vorüber wie schwarze Schatten, und sie vermochte nicht aufzufassen, was sie las ...
»Es ist zehn Uhr, wir wollen zu Bette gehen, Kind!« sagte die Mutter. – Alma stand müde und langsam vom Sofa auf. Gerda blieb bei ihrem Buche sitzen: »Ich bin mit meinen Aufgaben noch nicht fertig.«
»Dann mußt du im Schlafzimmer weiter arbeiten. Ich brauche jetzt die Lampe.« Und die Mutter nahm die Lampe, sagte Gute Nacht und ging – –
Es war kurz vor zwölf, als Gerda endlich auf dem Bettrande saß und sich entkleidete. Im Bett gegenüber lag Alma und schlief. Die Lampe stand auf dem Toilettentisch vor dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern. Gerda hatte dort gestanden und sich selber betrachtet.
Langsam und vor sich hinstarrend, knüpfte sie das Leibchen auf, zog es aus und legte es auf den Stuhl neben dem Fußende des Bettes. Dann zog sie die Schultern hoch, kreuzte die Arme, steckte die Hände in die Armlöcher, kniff die Augen zusammen und blieb, ins Leere starrend, sitzen.
... Wie konnte er wissen, daß sie kein Korsett trug?«
Plötzlich stemmte sie die Hände keck in die Seite, schob die Brust vor und sah an sich hinab. Diese gelbliche Haut gefiel ihm so gut! ... »Und die Brüste schoben sich mit einer schwachen Senkung unter den Spitzenbesatz am Rande des Hemdes, jungfräulich, schamhaft, jede, wie schmollend, nach ihrer Seite ...« Sie lächelte ... Es war wirklich so. – Dann wurde sie aber ernst – Spitzen ... und feines Leinen ... Das war zerknüllt ... und hätte feiner sein können; sie trug es schon drei Tage ... Und es war kein feines Leinen ... und hatte keinen Spitzenbesatz ...
Ach, wenn sie doch ganz furchtbar feines Leinen hätte! – Die Brüste waren, wie sie sein sollten ... Sie war stolz auf sie! ...
Sie hakte den Rock hinten auf, löste die Rockbänder, stand auf, ließ die Röcke auf den Boden fallen, trat aus ihnen heraus und legte sie auf den Stuhl über das Leibchen. Dann setzte sie sich wieder auf den Bettrand, löste die Bänder der Unterbeinkleider und zog sie nebst den Strümpfen aus. Und dann blieb sie im bloßen Hemd sitzen und sah ihre nackten Glieder hinab ...
... Er hatte diese Füße in seiner Hand gehalten, sie betrachtet und geküßt – erst den einen, dann den andern ...
Kurz darauf stand sie vor dem Spiegel zwischen den Fenstern und starrte auf ihr Spiegelbild ...
So hatte er sie gesehen ... und sie hübsch gefunden ... war ganz überwältigt worden ...
Und sie schob das Hemd über die linke Schulter hinab, zog den Arm aus dem Ärmel, so daß das Leinen schräg über die Büste herabfiel und die linke Brust entblößte, hob dann mit der rechten Hand die Lampe hoch über ihren Kopf empor und betrachtete sich eine Weile im Spiegel.
Und ihr wurde immer weicher ums Herz. O, sie hätte nichts dagegen, er könnte hier sein und vor ihr niederknien und die Hände zu ihr erheben ... sie wollte sein Hände ergreifen, ihn zu sich emporziehen, die Arme um seinen Hals schlingen, ihren Kopf an seiner Schulter bergen – und seinen Kuß auf ihrem Haar fühlen ... Und er mochte sie nur auf seinen Armen emporheben und ihren Hals küssen ... und sie zum Bette tragen ...
Plötzlich hielt sie aber den Atem an: ob sie dann ein Kind bekäme?! ...
Die süße Empfindung war wie weggewischt, und sie setzte die Lampe wieder vor den Spiegel. Daß sie solche ganz verrückte Gedanken fassen konnte! Und sie löschte die Lampe aus, eilte durch das finstere Zimmer ins Bett und verkroch sich unter die Decken.
Sie konnte aber nicht einschlafen; sie wurde die Gedanken nicht los ... Ach, wie einsam sie war ...und jetzt war es dunkel ... Und ihr wurde wieder ganz weich ums Herz. – Wenn er doch trotzdem da gewesen wäre ... sie hatte ihn lieb ... und er hatte sie lieb ... und – ach, wie einsam sie war! ...
Sie fühlte den Drang, sich an jemand anzuschmiegen und sie nahm das Kopfkissen unter dem Kopf weg, zog es unter die Bettdecke, schlang die Arme zärtlich darum und legte die Wange dicht daran, verzehrt von zärtlicher Sehnsucht, sich hinzugeben.
Ich war in die innere Stadt hineingegangen. Ich schritt langsam, die Hände in den Überziehertaschen und sah geradeaus vor mich bin, erfüllt von einem Gefühl innerer Leere, dachte nicht an sie und dachte anderseits auch an nichts anderes ... starrte nur in diese Leere hinein. Sie entsetzte mich nicht und brachte mich nicht zur Verzweiflung – dazu kannte ich sie viel zu gut – sie machte nur, daß ich fror, fror bis in die innerste Seele hinein ...
Ich hatte nicht auf den Weg geachtet, bis ich plötzlich entdeckte, daß ich vor den bekannten Fenstern des Grand Hotel stand und hinaufstarrte. Ich trat ein und setzte mich auf das Sopha neben dem Eckfenster. Es war niemand da, den ich gekannt hätte. Gott sei Dank. Es war am besten so. Ich hatte kein Bedürfnis, jetzt jemand zu sehen ober zu sprechen. Ich hatte gleichsam alles aufgegeben, saß nur da und ließ mich von der Leere durchschauern.
Ganz mechanisch aß und trank ich etwas. Ich sah nichts und dachte an nichts.
Dann aber begannen der Schnaps und das Bier zu wirken. Ich bekam Wärme in den Leib und sofort wurde mir besser zumute. Gott sei Dank, daß der Branntwein nicht nur den Leib wärmen konnte, nein auch die Seele.
Ich fing an, an sie zu denken:
Dort stand sie: die rechte Hand vorgestreckt, die Handfläche wie abwehrend gegen mich gerichtet ... Die Linke hielt sie hinter sich, so weit weg von mir, wie sie irgend konnte: in ihr hielt sie das Bild mit ihrem Konterfei. Und sie sah mir mit dem magnetischen Blick in die Augen und sagte: das will ich haben! ...
Dann hörte sie aber, daß das Bild mein einziger Schatz wäre, mein einziger Trost, da ich sie doch einmal nicht selber besaß – und ihre Augen wurden feucht und tief und zärtlich, und sie gab mir das Bild mit naiv königinhafter Miene zurück und sagte: Sie können es behalten ...
Dann wechselte die Szene, und sie stand draußen auf der Straße unter der Gaslaterne und starrte den beiden plump gebauten Frauenzimmern nach, die sie beleidigt hatten. Leichenblaß, mit zornsprühenden Augen und bebenden Lippen – prachtvoll anzusehen. – Kehrte sich dann nach mir um und brach in Tränen aus ...
Und die Szene wechselte wieder: Sie ging von mir weg über die Straße hin, in der sie wohnte. Langsam schritt sie mit leise sich wiegenden Hüften – wie in tiefe Gedanken versunken. Dann wandte sie aber plötzlich den Kopf und nickte ernst zurück ... erst einmal ... dann noch einmal – und verschwand dann in der Haustür ...
Dann ging ich aber wieder neben ihr und sah in einemfort in das liebe, ach so liebe Gesicht. Sah und sah, und das Gesicht wurde mir lieber und immer lieber. Es machte mich aber nicht froh. Nur schwermütig – ach so schwermütig! – und immer schwermütiger, und schwermütiger, je länger ich es betrachtete ...
Weshalb war ich nicht froh! ... sie war doch herrlich, rührend herrlich, wie sie dort vor sich hinsah mit dem willenlos ergebenen Gesicht und den zärtlichen tiefen Augen! ... und dann so natürlich! ... so reizend natürlich ... O, diese Natur, diese Ursprünglichkeit in diesem braunen Kinderauge unter der dicken Hornhaut – es lag Genialität in jenen Augen: sie würde die Perle der »Schule« werden ...
Ich wurde aber nur schwermütiger und schwermütiger, wie ich dort saß und ihrer Herrlichkeit inne wurde. Weshalb in aller Welt war ich so schwermütig? ...
Waren es bange Ahnungen ihres zukünftigen Lebens? Würde sie unglücklich werden? Stand ihr eine Zukunft voller Kampf und Verhöhnung bevor ... voller Ohnmacht und Raserei ... und voller Liebesverlust und voller Flüche ... Flüche auf alle und alles wegen eines vergeudeten Lebens ? ... Eine Zukunft, die diesem vollen, frischen Kindergesicht Runzeln und Furchen bringen ... diese süßen, zärtlichen Augen hart und trocken machen ... dieses herrliche Ursprüngliche, Geniale an ihr unterdrücken würde, anstatt es zur Entfaltung zu bringen – und würde sie wie ein Wrack hin- und hergeschleudert werden ... wie ich selber?
O, diese lastende Schwermut: – ich starrte mit feuchten Augen auf ihre liebe Gestalt in dem violetten verschlissenen Wintermantel, dem halblangen Rock und den beiden schwarzen Schulmädchenzöpfen am Rücken ... so jung und so voll entwickelt ... so kindlich unschuldig und so orientalisch sinnlich anzusehen mit ihrem vollen mattgoldenen Gesicht, ihren schwellenden Kußlippen, ihrem lässigen Gang und den primitiven genialen Augen. – O, diese Schwermut ...
Ich schüttelte sie von mir ab. Dieser alte, dumme Weltschmerz! Einer geht ja immer zugrunde – war ich nicht selber zugrunde gegangen? ... Und jetzt, wo ich resigniert hatte, jetzt war es ja nicht einmal so fürchterlich ... traurig freilich, bei Gott; aber – man fand sich in sein Schicksal, das war nun einmal der Welt Lauf ...
Aber sie! ... sie! ... o, es würde mir das Herz zerschneiden ... es war, um wahnsinnig zu werden, wenn man nur daran dachte –. O, hätte ich doch Millionen von Fingern – und ein paar von ihnen an jeder Kehle von jenen Menschen allen, bereit, sie zu erwürgen, wenn sie ihr etwas zuleide tun wollten, sobald sie sich jetzt im Leben vorwärts kämpfte ...
Ich sank matt in dem Sopha zusammen und lächelte – lächelte schwermütig –.
Man sollte meinen, daß ich sie wirklich liebte ... o, wenn es so gewesen wäre!
Oder liebte ich sie vielleicht wirklich? ... War es wahr, daß ich mich »Millionen von Jahren in der Hölle peinigen lassen wollte, wenn das dazu gehörte, daß ich glücklich würde«? –
Nein. –
O, wenn es so gewesen wäre! ... wenn ich wirklich so gefühlt hätte! ... aber das war es leider nicht ...
Übrigens – sterben wollte ich gern für sie, wenn es notwendig war ... o, besonders, wenn ich gleichzeitig alle die mit mir hinabreißen könnte, die daran, daß sie nicht glücklich war, die Schuld trugen ...
Aber nur, wenn sie auf dem Wege weiter ging, auf den ich sie geführt hatte ... Fiel sie ab, dann würde ich sie hassen ...
Ach, im Grunde war es mein Eigenes, was ich liebte.
Nein, nein, es war das Ihre, ihr Eigenes, das vorwärts kommen sollte, Fluch dem, der es tötete – und wenn sie es selbst wäre.
Liebte ich sie aber? –
Ja. – Das Unnatürliche, das Ursprüngliche an ihr, das von ihrem ganzen Wesen ausstrahlte – das liebte ich. Dem war ich nie zuvor begegnet, und das hatte mich überwältigt. Dafür, daß ihre Natur zu reicher Entwicklung käme, wollte ich mit Freuden sterben – so gerne ich es auch selber hätte sehen mögen ... An mir war ja nichts verloren, weder für mich selber noch für andere ... in mir war der Naturboden weg, alles primitiv Ursprüngliche, das Keimkräftige, das Frucht tragen kann: ich war ein welker Sprößling am Baum des Lebens – eine Knospe, verwelkt ehe sie aufgegangen war ...
Und meine Fäuste ballten sich von selber, während ich dort auf dem Sofa nochmals, zum hunderttausendstenmale diese infame Armut des Lebens verfluchte, die die Menschen zwingt, die verfluchte Straße der Selbstbetrachtung einzuschlagen – die Straße, auf der man nicht mehr umkehren kann, wenn man erst einmal in den Abgrund der Leere hineingestarrt hat, der das Ende ist ...