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Anderthalb Jahre später. Ich sitze eines Abends in einer kleinen, schmalen Dampfschiffskabine. Von einer kleinen Messinglampe, die mitten an der Wand dem Sofa gegenüber befestigt ist, wird der kleine Raum gut erleuchtet. Unterhalb der Lampe auf einem kleinen Klapptisch an der Wand steht ein Toddybrett mit Flasche, Krug und Zuckerdose und daneben ein etwa zur Hälfte geleertes Glas Grog. Ich sitze allein auf dem Sofa, den Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, in das Glas Grog hineinstarrend, den ich mit dem Teelöffel umrührte.
Es war meine Kabine. Ich war zweiter Steuermann auf einem Passagierboot an der Küste.
Ich hing meinen Gedanken nach.
... Nein, so konnte es wohl nicht weitergehen; das wurde zu arg ... Nun war ich drei Monate an Bord, vom Morgen bis zum Abend halbwegs munter, hatte mit den Passagieren geplaudert, einige Waren in ein Buch eingetragen, und wenn wir an den verschiedenen Haltestellen löschten, im Buche nachgesehen, daß die Waren auch richtig ans Land kamen – und im übrigen nichts anderes getan als mich halb zu Tode gelangweilt ... auch dann und wann, wenn es allzu langweilig wurde, mit Branntwein eingeheizt ... Nein, so ging es nicht weiter! Was sollte ich aber anfangen?
Ich fuhr fort, den Grog mit dem Teelöffel umzurühren, und dachte darüber nach, wie diese letzten anderthalb Jahre hingegangen waren, seit ich aufgehört hatte, übers Meer zu fahren. Ich hatte Verschiedenes versucht: in einer Segelmacherwerkstatt gesessen und einige Monate hindurch Segel genäht, einige Monate wiederum in Frankreich zugebracht und den letzten Rest meines väterlichen Erbes aufgebraucht ... mich mit der Absicht getragen, dort die Tochter einer Caféwirtin zu heiraten und Caféwirt zu werden – das war deswegen in die Brüche gegangen, weil die Mutter meinen Freiersbrief unterschlagen hatte, in dem Glauben, ich wollte die Tochter nur verführen –: ich hatte nach Italien reisen und Lazzaroni werden wollen, hatte es aber aufgegeben und war nach Hause gereist ... hatte einige Monate gehungert, war dann Lehrer an der Schießschule und schließlich zweiter Steuermann an Bord dieses Passagierbootes geworden ... es war alles nichts ... Was sollte ich aber nur anfangen? ...
Ich nahm einen Schluck und rührte mit dem Löffel weiter ...
... Wo fand ich etwas, was mir einiges Vergnügen bereiten konnte? ...
Das einzige, woran ich noch Gefallen fand, war meine intensive Lektüre von Romanen – ich hatte in der letzten Zeit einige der Leihbibliothek entnommen und Geschmack an ihnen gefunden ... Von Liebe zu lesen ... am liebsten von unglücklicher Liebe ... mit einer großen, herrlichen Hoffnung zu beginnen – und dann mit tiefem Unglück zu enden ... Und dann in einem neuen Roman in derselben Weise zu beginnen ... und in derselben Weise zu enden ... in verschiedenen Gestalten dieses Lebens einzigen Inhalt immer und immer wieder zu durchleben ...
Ja, das machte schon Vergnügen, aber – davon konnte ich nicht leben. – Was zum Teufel konnte man anfangen!
Ich nahm wieder einen Schluck und rührte mechanisch mit dem Löffel weiter.
Da fuhr ich auf einmal auf und lehnte mich im Sofa zurück: Da hatte ich's. Alle Wetter – ich nahm wieder einen langen Schluck Grog; ich wollte studieren, das philosophische Staatsexamen machen und dann am Vormittag Lehrer sein und den ganzen Nachmittag Romane lesen. – Das war ja sonnenklar – ich wollte Sprachen lernen und alle möglichen Romane lesen; damit konnte man schon die Zeit hinbringen, und darauf kam es ja gerade an. Natürlich. – Morgen wollte ich gleich kündigen.
Und ich goß den Rest des Grogs hinunter, braute einen neuen und blieb sitzen, trank, rührte um, sah ins Glas und überlegte, wie ich die verschiedenen Schwierigkeiten mit dem Geld und Ähnlichem überwinden könnte. Bis alles um mich herum anfing, sich im Kreise zu drehen, und ich mich auf das Sofa legte und stockbetrunken selig entschlief.