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Wieder war ein Jahr vergangen. Ich war nach Christiania gekommen, um das Schifferexamen zu bestehen; ich war zwar erst 17 Jahre alt, aber diese Prüfungen konnte man ja ebensogut vorher als nachher loswerden.
Ich saß in einem Mansardenzimmer vor dem Schreibtisch im Schaukelstuhl und hielt einen Brief in der Hand. Ich hatte ihn gelesen und immer wieder gelesen. Der Brief lautete:
»Lieber Hermann!
Es tut mir leid, daß ich Deine Gefühle nicht erwidern kann. Ich ahnte nicht, daß Du mich auf diese Weise gern hattest. Du mußt Dich auch daran erinnern, daß Du noch zu jung bist, um an so etwas zu denken. Wenn Du erst einmal in das Alter kommst, wo Du heiraten kannst, dann würde ich für Dich zu alt sein. Versuche mich also zu vergessen.
Deine Dir ergebene Cousine
Emma.«
... Sie liebte mich also nicht. Damit war alles gesagt. Was ging es mich denn weiter an, ob ich zu jung war und sie zu alt? Es war vorbei: sie liebte mich nicht.
Ich stützte den Ellenbogen auf den Tisch und starrte, den Kopf in der Hand, zum Fenster hinaus: Ohne sie leben! – Wofür sollte ich dann leben und arbeiten ...
Merkwürdig ... sie war nicht schön. Nur diese bezaubernde häusliche Anmut. – Ich war nicht länger als einen Monat mit ihr zusammen gewesen, und schon war sie in all meine Zukunftsträume hinein verwebt. Für sie wollte ich in die Welt hinausreisen. Zu ihr wollte ich zurückkehren. Bittersüße Trennungen und glücktrunkenes Wiedersehen. Und Sehnsucht dazwischen. Bis ich das nicht mehr aushalten konnte und die Häuslichkeit mit mir nehmen mußte. O, sie sollte eine reizende kleine Kajüte haben, und ich wollte ihr alles schaffen, was sie wünschte. Und jedes Lächeln auf ihrem Gesichte, jeder zärtliche Dank von ihren Lippen – wie glückselig würde mich das alles machen. Und immer beherrschte mich nur dieser eine Gedanke an sie, an sie ... Ach ja! Ich legte meinen Kopf auf die Arme und schluchzte.
Nach einiger Zeit stand ich still auf, trocknete die Tränen, nahm einen Bogen Briefpapier aus der Mappe und schrieb:
»Liebe Emma!
Du liebst mich nicht. Wenn die Liebe kommt, stürzt sie sich über uns wie ein Raubvogel auf seine Beute; wir haben keine Macht über sie. Auf mich hat sie sich herabgestürzt, nicht auf Dich. Du liebst mich nicht. Leb wohl! Ich werde versuchen, Dich im Getümmel der Welt zu vergessen.
Dein Dir ergebener
Hermann.«
Ein Monat war vergangen. Ich hatte allmählich angefangen, etwas zu bummeln. Ganz allein. Vormittags saß ich in der Schifferschule, den Rest des Tages brachte ich damit hin, daß ich allerhand Cafés und Kneipen besuchte. Schließlich hatte ich mich in einem Restaurant dritten Ranges niedergelassen, in dem ich Tag für Tag von fünf bis zwölf Uhr saß und abwechselnd einen Grog oder ein Glas Bier trank – etwas mußte ich ja trinken, um dort sitzen zu können.
Das Bufett und der Schenktisch, beide weiß angestrichen, dazu einige Holzstühle und kleine Holztische, die einmal rot angestrichen gewesen waren – das war das Inventar. Es sah kalt, hart und ungemütlich aus. – Aber hinter dem weiß angestrichenen Schenktische saß ein junges Mädchen. Klein und nett; langes, schwarzes, durch ein Netz zusammengehaltenes Haar, wie es damals bei den Damen Mode war; ein blasses, kleines, feines Gesicht und hinter den langen schwarzen Augenwimpern ein Paar große dunkle Gazellenaugen; schmale, aber rote Lippen und perlenweiße, wunderbar schöngeformte Zähne.
Abend für Abend hatte ich von fünf bis zwölf Uhr dort gesessen, sie aber niemals angesprochen, nur dagesessen, nach ihr hingeschaut und geträumt. Und allmählich hatte nun sie sich in alle meine Zukunftsträume hineingeschlichen.
Ich führte immer einen großen Ostindienfahrer und sie fuhr mit. Sie saß auf dem Achterdeck und nähte oder las, wenn die Sonne schien und es gutes Wetter war. Und ich freute mich, wenn ich auf Deck auf- und abging, sie zu sehen. Und hatte ich sie auch nicht immer vor Augen, so war sie doch immer in meinen Gedanken. Beaufsichtigte ich vorn die Arbeit der Leute, so trug ich immer ihr Bild bei mir. Und mitten in der Arbeit mußte ich dann auf das Achterdeck gehen und sehen, ob sie wirklich da war. Da sah sie mit den großen dunklen Augen von ihrer Arbeit auf und nickte mir vertraulich unter den schwarzen Augenwimpern hervor zu. Sie wußte wohl, weswegen ich kam. Und ich nickte wieder, ging an meine Arbeit zurück und dachte von neuem an sie.
Oder wenn ich eine Zeitlang auf die See hinausgespäht hatte nach Land oder nach einem Schiffe und einen Augenblick mit etwas anderem als mit ihr beschäftigt gewesen war – dann mußte ich mich plötzlich umkehren, um zu sehen, ob sie wirklich da war, und immer saß sie da, wie ein neues Wunder ...
Und in der gemütlichen Kajüte unten. War draußen Sturm und Unwetter, so hatte ich doch unten ein behagliches Heim, erfüllt von ihrem sanften weiblichen Wesen. Und ich kam hinunter, atmete die Luft dieses Heims ein, mein Glück überwältigte mich, ich sank auf die Kniee und weinte – weinte mich leicht ums Herz und froh, und sah ihr dann in ihre treuen, tränengefüllten Augen und wußte, daß sie dasselbe empfand wie ich.
So hatte ich sie allmählich in meine Liebesträume hineinverwebt, während ich ganz in meine Gedanken vertieft dort saß und in das liebe bekannte Gesicht starrte.
Und sie saß hinter dem Schenktisch und hatte keine Ahnung vom Ganzen. Zuweilen blickte sie mit ihren Augen auf und sah neugierig den kleinen wettergebräunten Burschen an, der immer auf demselben Fleck hockte und sie anstarrte. Sie sah aber sofort wieder weg; denn ich starrte ihr beständig in die Augen. – Niemals hatte ich sie angesprochen.
Einmal mußte es aber doch geschehen! Ich wollte mit ihr sprechen.
Ich wußte aber nicht, was ich sagen sollte. Mehrere Tage dachte ich darüber nach, was ich vorbringen sollte, fand aber nichts.
Da wurde mir klar, daß ich zu ihr nur von Liebe sprechen konnte.
Das konnte ich aber nicht. Das getraute ich mir nicht, trotzdem ich mir's jeden Tag vornahm.
Da schrieb ich ihr denn, daß ich sie liebte, und fragte, ob sie die Meine werden wollte. –
Ich wartete einen Tag, ich wartete zwei, ich wartete drei Tage – ich erhielt keine Antwort.
Da suchte ich wieder die Wirtschaft auf. Sie saß wie gewöhnlich hinter dem Schenktische. Als ich hereintrat, ging sie in das Speisezimmer, ich hinterdrein. In dem Zimmer war niemand. Sie setzte sich auf einen Stuhl; ich setzte mich neben sie.
»Haben Sie meinen Brief erhalten?« fragte ich verlegen.
»Ja.« Sie sah mir ruhig in die Augen.
»Und was antworten Sie mir?«
»Daß Sie noch zu jung sind, um an so etwas zu denken. Und ich bin vierundzwanzig Jahre alt.«
Ich antwortete nichts, starrte nur ins Leere, und in meinem Gehirn stürzten alle die schönen Phantasien zusammen – ich hatte wieder das Gefühl, als ob ich sterben sollte. Plötzlich kehrte ich mich wieder nach ihr um, wie um mich an ihrem Gesicht festzuklammern. Da war sie aber bereits weg; sie war wieder in das Restaurant gegangen.
Ich blieb noch eine Weile sitzen.
... Zu jung, um an so etwas zu denken?! – War das denn eine Redensart, die sie alle aus irgendeinem Briefsteller auswendig gelernt hatten? ... Zu jung ... zu alt – du großer Gott, was war denn Liebe? ...
Und ich stand auf, trat in das Gastzimmer hinein, nahm meinen Hut, ging und ward nie wieder dort gesehen.
Etwa einen Monat später, an einem Sonntagabend, war ich bei meinem Onkel. Die Alten waren ausgegangen. Es waren nur ein paar Cousinen da, einige Vettern, zwei Damen, die dort wohnten, und ich.
Die eine der dort wohnenden Damen stammte aus einer kleinen Stadt und hielt sich in Christiania auf, um das Lehrerinnenexamen zu bestehen. Sie war knapp sechzehn Jahre alt, aber groß, wohlgebaut und völlig entwickelt; sie sah aus wie eine junge Frau von zwanzig Jahren. Das schwere blonde Haar war in einer dichten Flechte zweimal um den Kopf geschlungen. Ein Paar ganz kleine, aber wunderbar sanfte blaue Augen guckten einen zutraulich an. – Ich saß ihr bei Tische gegenüber und vergaß zuweilen über ihrem Anblick das Essen.
»Weshalb sehen Sie mich so an?« fragte sie mich neugierig, als sie mich einmal dabei ertappte, wie ich sie anstarrte.
Ich nahm mich zusammen und lächelte: »Ich denke darüber nach,« sagte ich, »wie seltsam es ist, daß Sie erst sechzehn Jahre alt sind. Sie sehen aus, als wären Sie zweiundzwanzig.«
Sie sah mich schmollend an. »Nein,« sagte sie, »ich sehe aus, als wäre ich neunzehn, noch nicht ganz zwanzig.«
»Zweiundzwanzig,« sagte ich lachend.
»Als ich Sie das erstemal sah,« sagte sie, »meinte ich, Sie wären dreiundzwanzig; nun sind Sie bloß siebzehn. Eine Dame von sechzehn Jahren ist so alt, wie ein Herr von zwanzig; Sie sind mir gegenüber nur ein Kind.«
Ich lachte und fuhr fort, sie anzusehen.
Als wir aus dem Speisezimmer in die Wohnstube gingen, kamen wir beide zufälligerweise zuletzt. Sie blieb in der Tür stehen und lehnte sich gegen den einen Türpfosten. Ich stellte mich ihr gegenüber, lehnte mich an den anderen Pfosten und sah sie an.
»Im Grunde genommen sind Sie ganz hübsch,« sagte ich.
»Im Grunde genommen? Das ist nicht gerade schmeichelhaft.«
»Ich habe auch nicht gesagt, daß ich Ihnen schmeicheln wollte.«
Nach einer kurzen Pause sagte sie lachend: »O, bitte, tun Sie es doch. Schmeicheln Sie mir!«
»Ja, ja, Sie sind übrigens wirklich reizend; man möchte in Ihre sanften blauen Augen starren, bis man seine Seele darin verliert. Deshalb habe ich Sie immer so angesehen.«
Sie lachte und wir blieben an der Tür stehen und starrten uns in die Augen.
»Wissen Sie was?« sagte sie dann, »ich habe Lust, mit Ihnen Brüderschaft zu trinken.«
Ich lächelte überlegen, ich glaubte, sie wollte mich nur zum Narren haben.
»Sie wollen nicht,« rief sie übermütig, »soll ich vielleicht vor Ihnen aufs Knie fallen?« und damit warf sie sich vor mir aufs Knie nieder.
Ich gab ihr die Hand und hob sie empor: »Gut denn, trinken wir also Brüderschaft, aber in Schnaps.«
Sie klatschte in die Hände und lachte. »Ja, ja,« rief sie, und dann wandte sie sich zu den übrigen, die in der Wohnstube saßen und rief ihnen zu: »Hört, wir werden Brüderschaft in Schnaps trinken,« und dann lief sie ans Bufett und holte die Aquavitflasche des Onkels und zwei Schnapsgläser. In das eine goß sie nur einen kleinen Tropfen, das andere aber füllte sie bis zum Rande. »Prosit!« sagte sie und steckte ihren Arm, mit dem sie das Glas hielt, unter den meinen.
»Prosit, du!«
Wir tranken und drückten uns die Hände, und dann wurden die Gläser wieder hingesetzt und wir stellten uns wieder einander gegenüber in die Tür.
»Weißt du,« sagte ich, »wie ich dich das erstemal sah, kamst du mir furchtbar gemütlich vor. Es war an einem Vormittag. Ich kam, um die Zeitungen zu lesen. Es war niemand zu Hause, und du öffnetest mir. Ich hatte dich vorher nicht gesehen. Es war am Tage nach deiner Ankunft. Erst gingst du auf dein Zimmer. Bald darauf aber kamst du hierher und setztest dich neben mich aufs Sofa und fingst an, mit mir zu plaudern, wie mit einem alten Bekannten. So etwas tun die Damen in Christiania nicht, nur du bist so – du bist eine furchtbar gemütliche Dame.«
Sie lachte: »Du warst aber ebenfalls recht gemütlich,« sagte sie, »ich erinnere mich noch genau. Es war geradeso, als wenn ich mich mit einem von meinen Leuten zu Hause unterhalten hätte.« – – –
Sie war gefallen, hatte sich den Fuß verrenkt und mußte drei Wochen das Bett hüten. Während der Zeit hatte ich Tag für Tag an sie gedacht, und das Ende vom Liede war die alte Geschichte: Jetzt spielte in meinen Zukunftsphantasien sie die Hauptrolle. Es war nur der Unterschied, daß ich diesmal selber nicht an meine Phantasien glaubte; ich dachte mir das Ganze als etwas ungeheuer Reizendes, das aber nun einmal nicht möglich wäre.
Nach ihrer Genesung trafen wir uns eines Tages bei einem Vetter. Als es dunkel wurde, gingen wir zusammen fort. Ihr Fuß ermüdete bald und sie mußte stehen bleiben.
»Wenn ich nicht fürchtete, einen Korb zu bekommen, würde ich dir jetzt meinen Arm anbieten,« sagte ich.
Sie nahm eine beleidigte Miene an: »Wenn du ihn mir nicht ordentlich anbietest, nehme ich ihn nicht.«
Ich hielt den Arm hin: »Darf ich Ihnen den Arm anbieten, mein Fräulein?«
Da lachte sie, nahm ihn und lehnte sich beim Weitergehen schwer darauf.
»Weißt du, daß es herrlich ist, so Arm in Arm mit dir zu gehen?« fragte ich nach einiger Zeit.
Sie antwortete nicht.
»Dann bilde ich mir nämlich ein, daß mich jemand lieb hat, und der Gedanke ist so herrlich, wenn man in der ganzen weiten Welt niemanden hat, der einen liebt.«
Sie glaubte etwas darauf erwidern zu müssen, lachte und sagte: »Ja, dich kann ja auch niemand liebhaben, du schwiemelst ja soviel.«
Da sah ich ihr in die Augen: »Würde dir ein Mann gefallen, der nicht »lebte« und niemals gelebt hätte?«
Nach kurzer Zeit sagte sie: »O nein. Das wäre ja gerade wie bei den Herren, die nicht Tabak rauchen.«
»Und außerdem: was sollte ich, meinst du, anderes tun, als schwiemeln? Jetzt bin ich siebzehn Jahre alt. Und in den vielen Jahren, die noch vergehen, bevor ich in das Alter komme, daß ich heiraten kann, was soll ich denn da anfangen? – Es liebt einen ja niemand, bevor man nicht in das Alter kommt. So seid ihr Damen ja: Ihr denkt nur ans Heiraten, nicht an die Liebe.«
»Pfui,« sagte sie, entzog mir ihren Arm und ging, mich fixierend, neben mir her.
»Ach ja,« sagte ich dann, »nur in den wenigen kurzen Stunden, in denen ich mir einbilden kann, daß mich jemand lieb hat – nur dann bin ich nicht unglücklich.«
Ich blieb stehen. »Ach, gib mir deinen Arm wieder,« sagte ich, »stiehl mir nicht eine dieser Stunden.«
Sie bedachte sich einen Augenblick, gab mir dann plötzlich den Arm und sah mir gerade ins Gesicht: »Du, Hermann, du bist im Grunde ein sonderbarer Junge.«
»Ja, das muß ich wohl sein. Ich kann es ja nicht, wie die andern, natürlich finden, daß einen niemand lieben soll, bevor man alt genug ist, um heiraten zu können ... Du solltest wissen, wie stark meine Sehnsucht ist. Und dann habe ich die Empfindung, daß ich dafür sterben werde. Ein solches Glück ist zu groß, als daß es wirklich eintreten könnte.«
Sie sah mir wieder gerade in die Augen, und es war über das junge Gesicht ein Ausdruck der Furcht gekommen. »Du, Herrmann,« sagte sie, »zuweilen habe ich dieselbe Empfindung ... ob es wirklich niemals eintreten sollte?«
Ich schüttelte melancholisch den Kopf, und dann gingen wir Arm in Arm in der Dämmerung weiter, geradeausblickend, ohne ein Wort zu sprechen und ohne uns anzusehen, nur dicht aneinander geschmiegt wie zwei kleine Kinder. Ich begleitete sie bis in den Hausflur hinein. Dort nahm sie meine Hand und sagte: »Hermann, wollen wir zwei gute Freunde sein? ... so richtig gute Freunde; denn ich habe dich sehr gern.«
»Ja,« antwortete ich, »dann mußt du mich aber küssen.«
Sie schlang den Arm um meinen Hals und küßte mich auf den Mund, und einen Augenblick ruhte mein Kopf an ihrer Schulter – o, wenn sie mich geliebt hätte! ...
Dann ging sie hinein, und ich wanderte allein der Stadt zu.
Einige Wochen später verlobte sie sich. Mit einem Manne, der sie binnen Jahresfrist heiraten wollte.
Sie war die einzige gewesen, die mich zum Onkel hinausgelockt hatte; als sie sich nun verlobt hatte, stellte ich meine Besuche wieder ein. Und noch regelmäßiger als zuvor brachte ich die langen Winternachmittage und -abende bis spät in die Nacht hinein zusammen mit einem Kameraden von der Schifferschule bei den Dirnen im »Vaterland« zu.
Dann war es an einem Sonntag-Abend gegen neun Uhr. Wir waren den ganzen Nachmittag bei zwei Frauenzimmern gewesen, bei denen wir uns am liebsten aufhielten, und hatten kalten Punsch und Kognak getrunken. Dann wollten die Frauenzimmer tanzen gehen, und wir natürlich mit. Ich mußte aber erst nach Hause, um mehr Geld zu holen.
Wir gingen zusammen dorthin. Wie ich eben die Lampe anzünden wollte, klopfte es; es war die Wirtin. Sie bestellte einen Gruß von meinem Onkel; ich sollte heute abend zu ihnen hinauskommen, meine Schwester, die im Krankenhause lag, sei gestorben.
Mein Kamerad setzte sich in die Sofaecke; ich setzte mich in den Schaukelstuhl, und wir blieben eine Weile sitzen, ohne ein Wort zu sprechen.
... Tot? ...
Mich überkam ein merkwürdig unheimliches Gefühl. Ich kam mir vor wie ein schleimiges, froschähnliches Tier, dem man nicht gern zu nahe kommt ... War ich denn ein Unmensch geworden? –: Ich fühlte nicht das Geringste bei dieser Nachricht.
Tot ...? – Nein, nicht eine Fiber in meinem Herzen regte sich.
Na ja, was ging es mich aber auch an, ob sie tot war oder ob sie lebte? Das hatte ja nichts mit meinem Leben zu tun, ich lebte ja weiter wie vorher: stand des Morgens auf und trank mein Bier und meinen Schnaps und aß mein Frühstück, ging dann in die Schule und saß dort den ganzen Vormittag, aß zu Mittag und trank Kaffee und bummelte dann weiter bis in die Nacht oder bis zum nächsten Morgen. Und dann ging's wieder von vorn los, immer und ewig dasselbe, bis ich das Examen bestand. Und dann ging ich zur See und kam zurück – und mehr gab es nicht.
Und mehr gab es nicht? Ein Schauder durchfuhr mich bei diesem Gedanken.
Und wenn ich starb?
Ja, dann starb ich, und hatte ich Zeit genug, dann machte ich wohl noch den Versuch, mich zu bekehren. Und bekam ich keine Zeit dazu? Ja, dann bekehrte ich mich eben nicht.
Es war aber zu langweilig, an die Zukunft zu denken ... ich hatte es satt, ich hatte keine Lust mehr dazu. Meinetwegen konnten sie leben oder sterben alle miteinander, ganz wie es ihnen beliebte.
»Na, was tust du nun?« fragte mein Kamerad.
Ich sprang vom Schaukelstuhl auf: »Jetzt gehen wir erst recht los und machen ein Tänzchen!«
Und ich holte das Geld hervor; mein Kamerad aber schüttelte mißbilligend den Kopf und auf der Straße sagte er zu mir: »Im Grunde genommen, bist du ein gottloser Kerl – na, das geht mich ja aber nichts an.«
Einen Monat später bestand ich mein Examen und ging wieder zur See als Leichtmatrose.