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Grüneichen, ein Jahr später
Da liegt das alte, gute Buch, vergessen, im verborgensten Winkel der Kommode. Ich sehe eben, daß ich zuletzt an meinem siebzehnten Geburtstag hineingeschrieben habe. Das ist unverantwortlich! Ja, wenn man viel Arbeit hat und einen großen Pflichtenkreis, denkt man wenig daran, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Man hat eben keine Zeit, Pflicht geht vor Vergnügen.
Wir haben viel seit meinem vorigen Geburtstag erlebt. Gundchens Vater ist gestorben, das hat eine große Umwälzung hervorgerufen. Das schönste ist, daß Tante Lisa seit Herbst im Häuschen am See wohnt. Wir fürchteten für den Winter, aber die Stuben heizen sich gut, und es war so traulich bei Tante Lisa, daß wir oft und gern zu ihr gingen. Sie weiß alles so geschmackvoll herzurichten; sie versteht aus wenigem etwas zu machen.
Tante Lisa ist natürlich noch oft traurig und wehmütig gestimmt, wenn sie an die Vergangenheit denkt. Aber wenn Mutter kommt, verklärt sich ihr Gesicht, sie hat sie unbeschreiblich lieb. Wer sollte auch meine Mutter nicht liebhaben!
Zu Weihnachten kamen die »Seehäusler« – so nennen wir die beiden – ganz zu uns herüber. Mutter wollte nicht, daß sie allein sein sollten, und bei uns herrschte fröhliches Leben. Sophie ist seit dem Herbst wieder hier und hat im Winter fleißig an ihrer Aussteuer gearbeitet. In den Weihnachtsferien war auch Otto einige Tage bei uns. Matthias und Christian erklärten, es sei doch schöner, in Grüneichen Weihnacht zu feiern als in der großen Stadt. Wir haben keine Sehnsucht nach der Hauptstadt gehabt, obwohl sie uns manches Gute gebracht hat. Das Beste aber bleibt, daß wir Tante Lisa und Gundchen dort gefunden haben. Mutter und Tante sind jetzt ein Herz und eine Seele. Tante Lisa fühlt sich glücklich in ihrer neuen Umgebung, sie sagt, die Ruhe hier täte ihr so wohl; sie kräftige ihre Nerven.
ein Tag vor meinem 19. Geburtstag
Es scheint, als ob ich jetzt immer nur am Vortag meines Geburtstages dazu komme, in mein Büchlein zu schreiben. Achtzehn Jahre! Und morgen neunzehn! Schon sehr alt komme ich mir vor, besonders wenn ich bedenke, was ich schon alles erlebt habe. In diesem Jahr ist nicht viel Wichtiges passiert. Und doch! Sophiens Hochzeit war ein großer Glanzpunkt. Hochzeiten sind doch etwas sehr Schönes; es waren herrliche Tage. Otto hat eine Pfarrstelle in einer nicht weit von hier gelegenen Stadt. Das hinter der Kirche gelegene Pfarrhaus ist groß und geräumig, hinter dem Haus befindet sich ein hübscher Garten. Ich durfte nämlich Mutter begleiten, als sie die Zimmer einrichtete, das hat mir großes Vergnügen gemacht. Wie haben die Eltern gesorgt, daß Sophie mit allem ausgestattet wurde, was nicht nur nötig war, sondern was auch zur Verschönerung der Wohnung und zur Bequemlichkeit dienen konnte. Ich hätte selbst hineinziehen mögen, so reizend war die Einrichtung. Merkwürdigerweise ist es dieselbe Stadt, wohin Sophie flüchtete, als sie uns damals verließ. Was wohl die Familie des Rechtsanwalts sagen wird, wenn sich ihre Stütze eines Tages als Pfarrfrau des Ortes entpuppt! Sophie meint, sie werden wohl nicht viel miteinander gemein haben, an Kirche und Pfarrer denke man in der Familie nicht.
Mit den Pfarrtöchtern Emmy und Franziska wurde viel geprobt in den Tagen vor der Hochzeit. Gundchen war natürlich auch dabei, es gab viel Leben und Frohsinn. Am Polterabend wurden hübsche Aufführungen gemacht und später der Garten beleuchtet. Das junge Paar sah prächtig aus und wir Brautjungfern, so wurde uns gesagt, wären auch schmuck und niedlich anzusehen gewesen in den duftigen weißen Kleidern und den schönen Kränzen im Haar.
Noch eines Ereignisses muß ich gedenken. Das ist ein Besuch bei Tante Eva im Thüringer Land. Er war mir immer versprochen worden und Tante Eva bat wiederholt darum. So wurde beschlossen, ich sollte nach Sophiens Hochzeit, im August, reisen. Wie freute ich mich, als ich das erstemal allein auf eine größere Reise ging. »Du bist nun alt genug«, sagte mein Vater, »kein Gänseblümchen mehr, nun kann man dich schon allein in die Fremde schicken.«
»Fremde« war es nicht. Es ging ja zu Tante Eva, die mit Mutter aufgewachsen ist, die mir soviel aus der Kindheit der Mutter erzählt hat. Aber große Ehrfurcht muß man vor der kleinen Tante Eva haben, wenn man sieht, wie sie ihr großes Hauswesen regiert, wie sie die Schülerinnen durch einen Blick in Ordnung hält. Und doch, wie fröhlich und ungezwungen ist das Leben dort! Aber gelernt wird fürchterlich viel. Ich kam mir wirklich, um mit Frau von Drucker zu reden, wie ein kleines Schaf vor, wenn ich den Stunden beiwohnte und merkte, was die Mädchen alles wußten. Gegen mich waren sie reizend liebenswürdig, ich wurde geradezu verzogen, das machte, weil ich ein Neuling war und nur zum Besuch. Unendlich viele Freundschaften habe ich geschlossen; es ist seitdem ein riesiger Briefwechsel zwischen dem Thüringer Heim und mir.
Aber die Freude war doch groß, als ich wieder heimkehrte und Gundchen mir in die Arme flog mit den Worten: »Wie habe ich auf dich gewartet. Wie schön, daß du nur wieder da bist.« Sie hatte aber auch etwas erlebt, war mit ihrer Mutter bei Herrn Ulrich Schwarz zu Besuch gewesen und erzählte viel Schönes von dort.
Nur eins wundert mich, ich muß es hier aussprechen. Herr Doktor Schwarz hat sich noch gar nicht hier sehen lassen. Er hätte doch einmal nach Tante Lisa schauen können oder Fräulein Schwarz besuchen! Es scheint, als habe er uns alle vergessen. Gundchen wundert sich auch darüber, aber Tante Lisa sagt immer: »Er wird schon einmal kommen, und vielleicht besuchen wir ihn bald.«
am gleichen Tag, abends
Zwischen dem zuletzt Geschriebenen und jetzt liegen nur wenige Stunden, aber Stunden, die mir unvergeßlich bleiben werden, die über mein ganzes Leben entscheiden sollten. Ich kann nicht eher schlafen, als bis ich dem Büchlein ein großes Geheimnis anvertraut habe.
Mitten im Schreiben steckte Mütterchen den Kopf zur Tür herein und fragte: »Kind, was machst du da? Ehe ich mich's versah, stand sie hinter mir und las, was ich geschrieben. Darauf zog sie mich an sich, wurde sehr ernst und sagte: »Herr Doktor Schwarz hat uns nicht vergessen, Annchen, ich habe soeben einen Brief von ihm bekommen; er kommt morgen.«
»Endlich«, rief ich und fühlte, daß ich ganz rot wurde. »Er hat uns lange warten lassen, Mutter.«
»Du hast es wohl gern, wenn er hier ist«, fragte sie.
»Sehr gern, Mutter, warum ist er so lange nicht gekommen?«
Mutter schien die Frage zu überhören. Sie sah mich so eigen an und sagte plötzlich: »Möchtest du wohl ganz mit Doktor Schwarz ziehen, mein Kind?«
Da lachte Mutter und rief: »Ja, prüfe dich einmal, ob du wohl mit ihm nach – Übersee möchtest?«
Ich merkte, daß Mutter scherzte, dachte einen Augenblick nach und sagte: »Ja, mit Herrn Doktor Schwarz ginge ich, wenn's sein müßte, durch die ganze Welt.«
Da legte Mutter ihre Arme um mich, küßte mich und sagte: »Er will dich uns wegnehmen, Annchen, er möchte dich ganz für sich haben.«
Da erschrak ich sehr, nun merkte ich, daß Mutter im Ernst sprach. Aber, wenn ich auch die Eltern verlassen sollte, war mir der Gedanke, an seiner Seite durchs Leben zu gehen, gar nicht schrecklich.
Ich sagte es Mutter, worauf sie rief: »Nun, dann ist ja alles gut, dann kann er ja kommen.« –
Morgen wird er kommen und sich mit mir verloben. Mutter hat mir einen Brief von ihm gegeben, in dem er mich fragt, ob ich mit ihm gehen will. Ja, ich will.
Lebewohl, mein Tagebuch. Ich werde nichts mehr einzuschreiben haben.
Jetzt beginnt eine ganz neue Zeit. Nun werde ich meine Eltern doch nicht in ihrem Alter pflegen können, wie ich mir vorgenommen habe. Aber ich werde danach trachten, meiner Mutter immer ähnlicher zu werden. Sie hat uns in allen Dingen ein Beispiel gegeben, dem nachzustreben meine Aufgabe sein soll.
Was wird Gundchen sagen! Ich werde künftig »Tante Anna« für sie sein. Aber ich will ihr eine gute Tante werden, will immer treulich für sie sorgen. Die Gedanken stürmen auf mich ein. Wieviel, wieviel Schönes werde ich erleben. Ich will vor allen Dingen nicht vergessen, dankbar zu sein für alles, was Gott an mir getan hat, und so soll der Schluß des Tagebuches der Anfang des 103. Psalms sein:
Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. –
Am selben Abend, als Annchen ihr Tagebuch beschloß, begleitete Maria ihre Freundin Lisa nach ihrem Häuschen zurück.
»Maria«, sagte Lisa, »wie freue ich mich, daß unsere Familien nun durch das Band der Verwandtschaft noch enger miteinander verbunden werden sollen. Ulrich ist ein prächtiger Mensch, er wird deine Anna glücklich machen.«
»Davon bin ich fest überzeugt«, war Marias Antwort. »Annchens Herz hat ihm unbewußt schon gehört, das habe ich heute bei der Unterredung mit ihr gemerkt. Es hat keiner Überlegung bedurft; sie wußte gleich, was sie wollte. Gott segne die beiden lieben Menschen.«
»Wie wunderbar hat sich alles gefügt«, ließ Lisa sich nach einer Weile des Stillschweigens vernehmen. »Maria, was wäre aus mir geworden, wenn ich dich nicht gefunden hätte –«
»Du hast dich vom Herrn finden lassen, meine teure Lisa. Seine Gnade hat dich umfangen, sein Friede erquickt dich jetzt, dafür wollen wir ihm danken.«
Sie standen beim Häuschen. »Da kommt mein Mann mir entgegen. Lebewohl, Lisa. Auf fröhliches Wiedersehen morgen!«