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am 17. Juli
Die Jungen sind da! Eigentlich ist es Zeit zum Schlafengehen, aber die heutigen Erlebnisse muß ich doch eintragen. Ich werde es überhaupt jetzt nur abends vor dem Zubettgehen tun können, denn Matthias und Christian dürfen nichts von dem Tagebuch ahnen. Erstens würden sie mich sehr necken und sich lustig machen, und zweitens würden sie sehen wollen, was ich schreibe, was ich auf keinen Fall zulassen könnte, und so würde es Kampf und Streit geben.
Mit dem Nachmittagszug sind die Brüder gekommen. Die Eltern und ich warteten am Bahnhof, der am Ende des Ortes liegt, nahe bei der Landstraße. Ich zappelte vor Ungeduld. Da lief endlich der Zug in die Halle ein, die beiden standen am offenen Fenster, ich schwenkte mit den Armen, sie mit den Mützen und plautz! da flog eine Mütze zum Wagen hinaus. »Heb sie auf, Kleine!« »Anna, heb die Mütze auf!« schrien sie beide. Schon waren die Jungen ausgestiegen; der eine hing am Arm des Vaters, dem andern glättete die Mutter das blonde, zerzauste Haar und sagte: »Da kommt Anna mit der Mütze.« Nun wurde ich bald erdrückt von der stürmischen Begrüßung der Brüder, und dann ging es im Triumph in die »Post«. So heißt das Haus, in dem wir wohnen, alle Häuser im Badeort haben Namen.
Nun wurden die Brüder von oben bis unten gemustert. »Wie seid ihr gewachsen, ihr Jungen!« rief die Mutter.
»Stramme Burschen sind's geworden«, schmunzelte der Vater wohlgefällig.
»Ja, aus den Röcken sind wir herausgewachsen«, sagte Matthias und streckte seinen Arm aus.
»Was habt ihr denn da unten an den Rockärmeln?« bemerkte meine Wenigkeit und hob Christians Arm in die Höhe.
»Das sind Sammetaufschläge«, war die Antwort. »Fräulein Grumme hat unten etwas angestückt, weil die Arme so weit herausguckten.«
»Aber es paßt so wenig«, seufzte die Mutter bestürzt, »damit könnt ihr hier nicht gehen.«
»Das Fräulein meinte, es könne ja zu Hause geändert werden. Sie hat den ganzen Nachmittag nach passenden Stücken zum Verlängern gesucht, bis sie sich für Schwarz entschied. Das passe zu jeder Farbe, meinte sie.«
»Das gute Fräulein«, rief die Mutter, »es hätte die Sachen lieber dem Schneider übergeben. So könnt ihr euch hier im Badeort nicht sehen lassen.«
»Die Sonntagssachen sind auch noch da«, wandte Christian ein, »sie sind auf Zuwachs berechnet und passen jetzt vortrefflich.«
»Das ist gut«, meinte die Mutter, »denn ich habe etwas mit euch dreien vor, wozu die Sonntagsanzüge gebraucht werden.«
»Jetzt kommt's«, dachte ich und horchte hoch auf. »Euer Vater«, fuhr die beste aller Mütter fort, »hat die Erlaubnis gegeben, daß ich am nächsten Montag einen Ausflug mit euch machen darf nach –«
»– deiner Geburtsstadt«, schrie ich vor Entzücken und drückte die Mutter so fest an mich, daß sie sagte: »Wenn du so ungestüm bist, wirst du wohl beim Vater daheim bleiben müssen.« Nun ließ ich natürlich gleich los, denn es war immer schon mein Wunsch gewesen, Mutters Heimat kennenzulernen, die Stadt, in der sie so viel erlebt hat, bis Onkel Matthias sie mit sich nahm. Als wir nach hier gingen, sprach Mutter schon den Wunsch aus, dann ihre Geburtsstadt zu besuchen. Ich hatte es ganz vergessen, da ich hier so viel neue Eindrücke erhielt.
»Der arme Vater muß allein zu Hause bleiben, wenn Frau und Kinder ihn treulos verlassen«, seufzte Vater. Wir wußten alle, daß es nur Scherz war; Mutter streichelte ihm die Wangen und sah ihn mit solcher Liebe an, daß er sie an sich zog und küßte.
»Du weißt recht gut«, sagte sie, »daß ich dich am liebsten mitnähme, denn wem zeigte ich wohl lieber alle Stätten meiner Jugenderinnerungen als dir, aber du hast nun einmal strenges Gebot vom Arzt, dich während der Kurzeit ruhig zu halten, und ich wähle zu meinem Ausflug einen Tag, an dem du kein Bad nimmst und nicht liegen mußt, da entbehrst du meine Gesellschaft weniger.«
»Entbehren werde ich dich immer, wenn du auch nur einen Tag fort bist«, war Vaters Antwort. Man sieht es Mutter an, wie glücklich es sie macht, wenn der Vater so etwas sagt.
»Nun, Kinder, rüstet euch zum Montag«, hieß es. »Der Wagen wird um sechs Uhr morgens hier halten, wer nicht fertig ist, muß dableiben.«
Wir drei waren sehr glücklich, aber die Freude hatte keinen Einfluß auf den Appetit meiner Brüder. Ein hoher Teller mit Butterbroten war schon bei der ersten Tasse Kaffee leer gegessen. Sehnsüchtig sahen sie sich nach mehr um und schoben mir den Teller zu mit den Worten: »Anna, bitte!« Zu Hause eilte ich in die Speisekammer und holte mehr, aber hier? Ratlos sah ich die Eltern an.
»Die Jungen werden uns aber hier Kosten verursachen, Mutter«, sagte der Vater scherzhaft.
»Sie müssen doch satt werden!« rief Mutter. »Annchen, geh zur Frau Wirtin und bitte um mehr, später machen wir einen gemeinsamen Spaziergang.«
Nachdem die Brüder ausgepackt und ihren Anzug gewechselt hatten, gingen wir in die Promenaden. Dort wimmelte es von Menschen, wie immer um diese Zeit. Wir wären lieber auf die Berge gewandert, aber da Vater noch seinen Becher trinken mußte, so begleiteten wir ihn gern hierher. Matthias und Christian schauten mit neugierigen Augen um sich. Wenn sie etwas besonders Auffälliges sahen, bekam ich einen Stoß, oft von beiden Seiten, denn ich ging zwischen ihnen. Es wurde ihnen aber von den Eltern, die hinter uns gingen, untersagt, worauf sie mir zuflüsterten: es ginge wohl sehr steif und förmlich auf den Promenaden zu, ob wir nicht lieber anderswohin wollten. Meine Brüder sind leider noch etwas unerzogen, obgleich sie bei sehr gebildeten alten Damen wohnen und auch zu Hause zu allem Guten angehalten worden sind. Aber es heißt ja, jeder Junge hat seine Flegeljahre, und in diesen mögen Matthias und Christian nun sein. Ich werde in den Ferien versuchen, sie ein wenig zu erziehen. Ich bin ja doch die ältere. Allerdings muß ich mich bemühen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich machte auf der Promenade einen sehr gesitteten Eindruck mit meinem runden weißen Hütchen, um das ein einfaches Band geschlungen war. Die Handschuhe saßen regelrecht an den Händen, in der Linken trug ich ein Sonnenschirmchen von weißer Seide. Mein Wunsch, das junge Mädchen möchte mir begegnen, das mich vor einigen Tagen in solcher Eile im Buchbinderladen sah, ging in Erfüllung. Da stand es mit einer alten Dame in der Trinkhalle vor einem Bilderladen, und als wir vorübergingen, drehte es sich gerade um und flüsterte ihr etwas zu. Das junge Mädchen hat ein anziehendes Gesicht. Es hat schöne dunkle Augen und schwarzes Haar, es ist klein und zierlich und hat eine zarte Hautfarbe. Seine Augen haben etwas Schwermütiges.
Ich dachte gerade, ich möchte wohl näher mit ihm bekannt werden, da ging auch dieser Wunsch in Erfüllung.
Meine Mutter und ich hatten uns auf eine Bank gesetzt, während meine Brüder den Vater an den Brunnen begleiteten. Da kam die alte Dame mit ihrem Schützling auf uns zu. »Verzeihen Sie«, sagte sie zu meiner Mutter, »dies junge Mädchen sucht Anschluß an eine Altersgenossin, würden Sie Ihrem Fräulein Tochter erlauben, zuweilen mit dem mir anvertrauten jungen Mädchen zu verkehren?«
»Gewiß, gern«, war die freundliche Antwort meiner Mutter. »Mit wem habe ich die Ehre?«
Die alte Dame nannte einen Namen, den ich wieder ganz vergessen habe; das junge Mädchen wird gewöhnlich Gundchen genannt. Adelgund Wernigge, so war, wenn ich recht gehört habe, der volle Name. Sie sah sehr erfreut aus, als meine Mutter ihr die Hand reichte und sie freundlich einlud, uns zu besuchen. Während die alte Dame sich mit meiner Mutter unterhielt, fragte Adelgund mich schüchtern nach meinem Namen. Ich sagte ihr, daß ich Anna Mersburg heiße und sechzehn Jahre alt sei.
»Gerade so alt wie ich«, rief sie erfreut, »das heißt«, fügte sie hinzu, »ich werde im Herbst schon siebenzehn.«
»Haben Sie noch Geschwister?« fragte ich.
»Nur einen Bruder, er ist ein Jahr älter als ich.«
»Nein, ich bin allein mit Tante Mina hergekommen wegen meiner Gesundheit, die Gebirgsluft und die Bäder sollen mich kräftigen.«
Jetzt kamen Vater und die Brüder wieder. Man machte sich bekannt, wobei ich feststellte, daß Matthias und Christian sich steif wie die Böcke verneigten, oder richtiger wie ein paar Holzpuppen, und sehr dumme Gesichter dazu machten. Es genierte mich so, daß ich rot wurde. Adelgund schien es nicht aufzufallen, sie sah wenigstens nicht so erstaunt aus wie damals, als sie mich im Laden traf. –
Als wir uns dann voneinander verabschiedet hatten, sagte Vater: »Nur nicht viele Damenbekanntschaften.«
»Du sollst nicht belästigt werden«, tröstete die Mutter, »die alte Dame sucht nur für das junge Mädchen etwas Anschluß.«
»Wir wollen Annchen aber auch haben«, riefen die Brüder, »wir möchten nicht immer mit fremden Damen spazierengehen.«
»Ist vorderhand nicht nötig«, entgegnete ich, »morgen gehen wir drei auf die Berge, nicht wahr, ihr Jungen?«
»Natürlich«, riefen sie, »aber erst müssen wir ausschlafen, wir sind heute morgen um drei Uhr aufgestanden.«
Jetzt fiel es der Mutter ein, daß sie die Wirtin noch gar nicht gefragt hatte, ob das Zimmer für die Brüder frei sei. Versprochen war es ihr schon, so glaubte sie, es würde keine Schwierigkeiten geben. Als wir aber Frau Hase um den Schlüssel baten, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Verehrteste Frau Mersburg, das habe ich ja ganz vergessen. Nun sind heute so viele Fremde angekommen, daß ich auch kein Kämmerchen frei habe. Wo tun wir nun die jungen Herren hin?«
»Das ist allerdings sehr unangenehm«, sagte Mutter, »Sie hatten mir doch das Zimmer versprochen, welches neben dem unsrigen liegt.« Die Wirtin gab es jammernd zu, versicherte aber immer wieder, gar nicht daran gedacht zu haben, so daß Matthias ganz traurig fragte: »Dann müssen wir wohl wieder abreisen?« Christian aber meinte, ob denn kein Heuboden da sei.
»Der ist da, wollten Sie dort vorliebnehmen?«
»Ist ja viel schöner als im Bett«, rief er, und Matthias stimmte ihm bei. »Mutter, gibt uns warme Decken, die Weste legen wir unter den Kopf, das geht wunderschön.« Die Wirtin war so erfreut, daß sie den Jungen die Backen streichelte und sagte: »Solch angenehme Gäste habe ich noch gar nicht kennengelernt«, was den Brüdern sehr zu gefallen schien.
Verwöhnt sind wir alle nicht von den Eltern. Sie haben uns von früh an so erzogen, daß wir mit wenigem zufrieden sind, und daß wir uns nach der Decke strecken. Das taten nun die Brüder, wenn auch nur für eine Nacht. Ein Gast, der das Zimmer bewohnte, wollte morgen schon weiter.
Eben steckt Mutter den Kopf zur Türe herein. »Aber Annchen«, sagt sie nur und droht mit dem Finger. Das ist schon genug. Ich muß die Feder weglegen, obgleich ich gern noch mehr schriebe. Vater ist bereits zur Ruhe, die Brüder liegen schon lange im duftenden Heu, fast beneide ich sie. Nun will ich schnell auf den Zehen zu meinem Mutterchen eilen und mir noch einen Kuß holen. Sie sitzt gern abends, wenn alles schläft, noch ein wenig allein bei ihrer Bibel, ich glaube, sie betet für uns alle, daß Gott uns in seinen gnädigen Schutz nehme.