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Neue Eindrücke

am 16. Oktober

Nun sind wir in der Stadt! Mein Tagebuch hat lange geschlummert, aber es war nicht an Schreiben zu denken, so vielerlei gab es zu tun, zu besorgen und einzupacken. Es mußten auch Abschiedsbesuche gemacht werden bei den Familien in der Umgegend. Einige meinten, sie würden nach Weihnachten auch auf einige Zeit in die Stadt gehen; das freut mich, es sind zwei sehr nette junge Mädchen von meinem Alter dabei. Meine kleinen Schwestern waren ganz aufgeregt vor Freude; sie redeten tags fast nichts weiter als von der Übersiedlung, nachts träumten sie sogar davon. Sie stellten eine große Puppenwäsche an und meinten, es gäbe doch viel zu tun, wenn man mit seinen Kindern in die Stadt wolle. Auf Mutters Fragen, sie dächten doch wohl nicht daran, alle Puppen mitzunehmen, sagten sie sehr verwundert: natürlich kämen sie alle mit; Mutter ließe doch auch nicht eins von ihren Kindern zurück, wogegen sich nichts sagen ließ. Ich mußte Mutter sehr viel in der Wirtschaft helfen, es gab mancherlei zu tun mit dem Einmachen der Früchte; auch Schlachterei gab es im Wirtschaftshaus, da wir manche Vorräte mitzunehmen gedachten. Zwei unserer Mädchen sollen uns begleiten; Mutter meint, an einem fremden Ort müsse sie zuverlässige Leute haben.

Ich kramte viel in meinen Sachen und konnte mich nicht entschließen, was ich mitnehmen, was ich dalassen sollte. »Nur nicht zu viel einpacken«, war Mutters Bitte und Vaters Befehl. Mein liebes Tagebuch durfte natürlich nicht zurückbleiben; es wurde sehr sorgfältig eingepackt, versiegelt und mit einem Bindfaden zugebunden. So konnten doch keine unberufenen Hände daran kommen.

Endlich war der Reisetag da, ein grauer nebeliger Oktobertag. Heinrich war schon den Tag vorher mit einem großen Kastenwagen an die Bahn gefahren, da alle Koffer und Kisten als Frachtgut gesandt wurden. Wir folgten in der Kutsche. Alle Leute hatten sich versammelt, um uns Lebewohl zu sagen. Vater hatte alles seinem alten treuen Inspektor anvertraut, ihm aber gesagt, wenn etwas Besonderes vorkomme, solle er telegraphieren. Mutter wußte die Außenwirtschaft bei Fräulein Friedchen gut versorgt. Jede Woche solle sie ihr schreiben und berichten, alle vierzehn Tage soll eine Frau vom Dorf uns Butter und Eier und dergleichen bringen. Mutter meint, dann hätten wir alles aus guter Quelle, und die Reise komme dabei heraus.

Als die Pferde anzogen, sagte meine Mutter: »Walt's Gott«, und der Vater fügte hinzu: »Ja, Gott der Herr gebe seinen Segen zu unserem Winteraufenthalt in der Stadt.«

Meine kleinen Schwestern saßen so steif und gerade da, wie die Puppen, die sie im Arm hatten. Sie durften nur jede eine bei sich haben, die übrigen waren alle in den Koffern untergebracht. Thildchen und Olga waren eigentlich noch nie aus dem heimatlichen Dorf herausgekommen; wir leben für gewöhnlich sehr häuslich, dieses Ereignis mit dem Winteraufenthalt in der Stadt ist etwas noch nie Dagewesenes. Wir haben es, wie gesagt, Fräulein Schwabe zu danken. Von ihr habe ich noch nicht gesagt, daß sie uns Ende September verlassen hat. Sie weinte sehr beim Abschied, sagte: ein solches Haus fände sie gewiß nie wieder; sie habe Mutter so lieb gewonnen und habe ihr viel zu verdanken. Mutter gab ihr noch den guten Rat, immer recht demütig und dankbar zu sein, immer das Beste der ihr anvertrauten Kinder im Auge zu haben und auch in den geringsten Dingen treu zu sein. Nun ist sie fort; die kleinen Schwestern schienen darüber nicht sehr betrübt zu sein. Mutter sagte, sie hoffe, zu Ostern eine recht gute Wahl zu treffen, wenn wir wieder nach Grüneichen zurückkehren.

Mutter Krusen war sehr traurig über unsern Fortgang. Es wollte ihr gar nicht in den Sinn, daß das Herrenhaus im Winter leer stehen würde. Sie meinte, da erzähle ihr niemand etwas und das Stricken für die Herrschaftskinder würde wohl ganz ausbleiben. Doch Mutter hat ihr ein großes Paket Wolle gebracht, daraus sollen Socken gestrickt werden für Matthias und Christian. Die Brüder fingen ihren letzten Brief mit ›Hurra‹ an. So freuten sie sich, zu Weihnachten in die Hauptstadt zu kommen. In ihrem kleinen Nest sei es nur ledern, schrieben sie, wenn auch die Schule keine Langeweile aufkommen lasse, denn zu tun gäbe es genug.

Als wir am Bahnhof angelangt waren und dann glücklich in einem Abteil untergebracht, sagte mein Vater: »Gott sei Dank, daß wir so weit sind, eine solche Packerei ist mir noch nie vorgekommen. Wenn wir nur erst das Auspacken überstanden hätten!«

»Du sollst nicht viel davon merken, Väterchen«, sagte meine Mutter freundlich, »das besorge ich mit unsern Töchtern. Wenn wir nur schon eine passende, möblierte Wohnung gefunden hätten.«

»Das wird sich alles machen«, war Vaters Antwort. »Zunächst gehen wir in ein Hotel und ruhen von den Strapazen aus.«

»O in ein Hotel«, flüsterten die Schwestern, »wir waren noch nie in einem Hotel.« Als wir uns der Hauptstadt näherten, ermahnte Vater die Schwestern, sich am Bahnhof dicht an die Eltern zu halten. Aber kaum waren wir ausgestiegen, da sperrten die Kleinen verwundert Mund und Augen auf und starrten mit erstaunten Blicken auf die dahinflutende Menge, so daß sie, eh' sie es merkten, mit fortgerissen wurden. Die Mutter hatte mit dem Handgepäck zu tun und rief mir zu, auf die Schwestern achtzugeben; ich lief schon hinter ihnen her, erfaßte auch Thildchen, von Olga sah ich keine Spur. Der Vater war nach einer Droschke gegangen, dort kam die Mutter mit dem Handgepäck, ich eilte ihr mit Mathilde entgegen und gab ihr angstvoll zu verstehen, daß Olga verschwunden sei. Wir bahnten uns schnell einen Weg durch die Menge, immer nach rechts und links blickend, ob wir das Kind irgendwo erspähen könnten, aber keine Spur! Endlich kamen wir an den Ausgang und sahen dort zu unserer großen Freude Vater stehen, der die bitterlich weinende Olga zu trösten suchte. Der Vater zürnte mit uns, daß wir nicht besser achtgegeben hätten. Wir waren wohl alle ein wenig schuldig, da wir nicht an das großstädtische Leben gewöhnt sind und nicht genug aufgepaßt hatten. Olgas größten Kummer erfuhren wir erst, als wir in der Droschke saßen. Ihre Lieblingspuppe war verlorengegangen. Olgas Tränen flossen reichlich, Thildchen suchte sie zu trösten, indem sie der Schwester ihr Puppenkind in die Arme legte und ihr versicherte, sie solle fortan ihnen beiden gehören; aber der Schmerz wurde dadurch nicht gemildert.

»Das ist ein tränenreicher Einzug in die Stadt«, meinte Vater, während Mutter Olga auf die schönen Läden in den Straßen aufmerksam machte und sie auf Weihnachten vertröstete, wo es vielleicht ein neues Puppenkind geben werde. Die Kleine trocknete allmählich ihre Tränen und war bald in Anspruch genommen von allem, was sie im Weiterfahren sah und hörte. –

Im Hotel sind wir zwei Tage gewesen, dann haben die Eltern eine freundliche Wohnung gefunden, wohin wir alsbald übersiedelten. Wir bewohnen nun in der Königstraße den ersten Stock eines sehr großen Hauses. Wir haben hübsche, fein ausgestattete Zimmer, aber alles ist enger und kleiner, als wir es gewohnt sind. Ein Haus auf dem Lande hat ja eben sehr weite, große Räume. Ich habe ein besonders kleines und sehr gemütliches Zimmer. Es liegt nach hinten hinaus. Ich sehe in einen freundlichen Garten, der nun natürlich Herbstfärbung zeigt. Es ist still und lauschig in meinem Stübchen; der Lärm der Großstadt dringt nur gedämpft zu mir. Da ich mich hier nur aufhalte, wenn ich für mich lesen oder schreiben will, so ist's mir ganz recht, daß die Fenster nicht nach der Straße gehen, man wird nicht so abgelenkt. Anders die Schwestern. Sie haben ein kleines einfenstriges Zimmer für sich nach vorn heraus und sitzen fast den ganzen Tag und schauen hinaus. Wenn ein elektrischer Straßenbahnwagen vorüberfährt, geraten sie allemal in Entzücken, und da das alle fünf Minuten passiert, kann man sich denken, wie sie in fortwährender Aufregung begriffen sind. Alles interessiert sie aufs höchste, jede Droschke, jeder Omnibus, jedes Auto, alles wird mit einem Ausruf des Erstaunens begleitet. Ich denke, sie werden sich mit der Zeit mehr daran gewöhnen und sich mit andern Dingen beschäftigen. Heute wurden sie in einer Schule, die den Eltern sehr gerühmt worden ist, angemeldet. Sie liegt nach großstädtischen Verhältnissen nicht weit von unserer Wohnung, aber immer noch weit genug, um sich zu verirren. Ich habe darum die Pflicht übernommen, sie jeden Morgen zur Schule zu bringen und sie mittags wieder abzuholen.

am 17. Oktober

Heute kam ein Brief von Sophie. Er war nach Grüneichen gerichtet und ist uns nachgeschickt worden. Sie ahnt ja nicht, daß wir in der Stadt sind. Der Brief an die Eltern war nur sehr kurz. Sie schrieb: es sei manches anders, als sie es sich gedacht habe, aber sie hätte eine vorteilhafte Stelle in der Familie eines Rechtsanwalts angenommen. Mutter schüttelte den Kopf, nachdem sie den Brief gelesen hatte, und sagte: »Sophie hätte auch in unserem Hause ihren Pflichtenkreis gefunden, aber ich will ihr nicht entgegen sein, wenn sie sich in andern Verhältnissen glücklicher fühlt.«

Ich merkte es Mutter den ganzen Tag an, daß der Brief sie mehr bedrückt als erfreut hat, die gute Mutter glaubte so zuversichtlich, Sophie würde bald zu uns zurückkehren. Mathilde und Olga haben den ersten Schultag hinter sich. Glückstrahlend erzählen sie von allem, was sie erlebt haben, von den Lehrern und den Mitschülerinnen, von ihren Stunden und der Vorsteherin, die geäußert hat, sie schienen gute Schulkenntnisse zu haben. Ich hatte, als ich sie abholte, genug mit ihnen zu tun. Sie bleiben einfach stehen, wenn sie etwas Auffälliges sehen, und da man das oft nicht merkt, verliert man sie unversehens. So wäre mir diesmal Mathilde beinahe abhanden gekommen. Doch dabei mag ich selbst ein klein wenig Schuld gehabt haben. Sie stand vor einem Laden und sah die Bilder an, während ich plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite eine schlanke, vornehme Dame erblickte, an deren Seite ein junges Mädchen ging, das ich sofort als – Adelgund Wernigge erkannte. Ich rief »Gundchen!« und eilte mit Olga an der Hand nach der andern Seite. Da schob sich plötzlich ein Straßenbahnwagen dazwischen, und ehe ich's mich versah, war Gundchen verschwunden und Mathilde auch nicht zu sehen.

Um die Mittagszeit ist das Gedränge auf den Straßen oft groß, wir konnten wegen der vielen fahrenden Wagen nicht gleich wieder nach dem andern Fußsteig kommen, und als wir uns endlich hindurchgewunden hatten, war Mathilde weg. Ich hatte große Angst und rannte mit Olga die lange Straße hinunter. Endlich komme ich an einem offenen Keller vorbei, in dem eine Gemüsefrau ihre Waren ausgelegt hat, da stand Thildchen und schmaust einen Apfel, den ihr die gute Frau geschenkt hatte. Ein lauter Jubelruf begrüßte uns, aber eigentlich war ihr das Weinen näher als das Lachen. Die Gemüsefrau sagte: »Ich dachte wohl, daß sich das kleine Fräulein verirrt hatte, darum rief ich sie zu mir; es war ja viel gescheiter, sie wartete hier, als wenn sie auch hin- und hergelaufen wäre.« Darin hatte die Frau recht, auch darin, daß sie mit einem Seitenblick auf mich sagte: auf kleine Mädchen vom Land müßte man doppelt achtgeben, die sähen sich zu viel um nach unbekannten Dingen.

Vater stand schon am Fenster und wartete auf uns. »Das fängt gut an mit den Mädchen«, sagte er, als er von dem abermaligen Verlaufen hörte, »Mutter, wir wollen nur alle beide wieder einpacken und nach Grüneichen zurückschicken, sie passen ja gar nicht in die Stadt.« Die Schwestern versprachen beide dem Vater, sie wollten von nun an recht vorsichtig sein, und ich versprach, keine Nebengedanken zu haben. Meiner Mutter erzählte ich alles, daß ich Gundchen gesehen habe. »Hast du dich auch nicht getäuscht, mein Kind; es gibt vielleicht ein junges Mädchen, die ihr recht ähnlich sieht.« Ich blieb dabei, sie müsse es sein.

»Warum habt ihr euch denn nie geschrieben, wenn ihr euch so liebhabt?« fragte Vater. Ich mußte mit Beschämung gestehen, daß wir beide vergessen hatten, uns unsere gegenseitigen Adressen zu geben, worüber sich Vater sehr belustigte.

»Und nun meinst du, deine Freundin gesehen zu haben, und hast doch keine Ahnung, wo du sie aufsuchen sollst«, fügte Vater lachend hinzu.

Ich weiß allerdings nicht, ob Gundchens Eltern noch in Berlin wohnen und es nur zum Besuch hier weilt, aber ich habe das bestimmte Gefühl, daß wir uns nicht zum letztenmal gesehen haben, ja es ist mir, als ob wir noch recht oft zusammenkommen würden.

 


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