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Gestörte Rückfahrt

am 21. Juli

Das waren viele Erlebnisse an einem Tage. Heute regnet es in Strömen; die Brüder müssen arbeiten, es darf sich nichts rühren. Vater hat seine nervösen Kopfschmerzen. Da kann ich nichts Besseres tun, als in meinem Stübchen am Tagebuch schreiben.

Der gestrige Tag war – himmlisch! Doch halt, diesen Ausdruck soll ich nicht gebrauchen. Mutter sieht es nicht gern, wenn wir ihn für irdische Dinge anwenden, so will ich sagen: herrlich. Mutter war freilich die Hauptperson und wir drei Nebenpersonen, aber wir waren dennoch sehr vergnügt, wenn nur das Ende nicht gewesen wäre!

Bei schönem Wetter fuhren wir aus, in Gewitter und strömendem Regen sind wir wiedergekommen. Unsere sämtlichen Sachen hängen auf dem Boden zum Trocknen; wir waren wie aus dem Wasser gezogen. Doch ich darf nicht beim Ende anfangen. Eins nach dem andern.

Wir haben der lieben Mutter Vaterstadt gesehen. Ich werde nie den Eindruck vergessen, den die Stadt auf mich machte, als sie zuerst vor unsern Blicken auftauchte; aber noch unvergeßlicher wird mir der lieben Mutter Gesicht bleiben, als sie nach zwanzig Jahren ihre alte Heimat wiedersah. Ich habe Mutter überhaupt oft beobachtet, was sie jedoch gar nicht gemerkt hat. Sonst bekümmert sie sich sehr um ihre Kinder, gestern vergaß sie uns oft ganz, wenn sie mit den alten Freunden redete. Wir haben es aber trotzdem sehr gut gehabt. Überall begegnete man uns mit der größten Freundlichkeit und fütterte uns mit schönen Leckerbissen, was mir und den Brüdern außerordentlich gefiel.

Die Stadt mit ihren Häusern und Kirchen interessierte uns sehr. Wir sind überall gewesen, während Mutter sich mit Fräulein Walter unterhielt. Johanna begleitete uns. Sie zeigte uns auch das Haus, wo Mutter mit Tante Lottchen gewohnt hatte, weil wir sie darum baten. Was uns aber am besten gefiel, war, daß sie uns aus der Mutter Jugendzeit viel erzählte, was wir noch nicht wußten. Sie sagte, ich solle nur meiner Mutter ähnlich werden. Ich möchte es, aber es wird mir wohl nicht gelingen. Ich will den lieben Heiland bitten, daß er mir hilft. Mutter sagt, mit seiner Hilfe gelingt alles. Eins habe ich gestern erfahren, daß alle Menschen in der Stadt, die Mutter kennen, vom alten Roß an bis zum Herrn Pfarrer, sie sehr liebhaben. Und das freut mich, denn Vater und wir Kinder haben sie auch so sehr lieb.

Dann sind wir wieder in Walters Garten gewesen. Dort trafen wir Walters Kinder, die schon auf uns warteten. Wir sagten erst alle nichts und sahen uns nur an, bis eins von den Kindern rief: »Wir wollen doch in den Nußbaum steigen.«

Ich darf eigentlich nicht mehr klettern, aber hier lagen die Zweige so bequem übereinander, daß es nur wie ein Treppensteigen war; es war so kühl und schön in dem Laubwerk nach dem langen Umhergehen in der Stadt, das uns etwas ermüdet hatte.

Tante Martha und Tante Emmy sind sehr gut. Tante Martha sorgt so liebreich für ihre alten Eltern, und Tante Emmy pflegt Kranke. Ich werde auch einmal so für meine Eltern sorgen, wenn sie alt sind. Im Pfarrhause war es auch schön. Frau Pfarrer zeigte uns den Garten, während der Herr Pfarrer sich mit Mutter unterhielt. Sie gab uns zur Erinnerung einen schönen Rosenstrauß mit, von dem Mutter sich einige Rosen pressen wollte. Aber wo sind die Rosen hin! Doch ich will nicht vorgreifen.

Vater hatte Mutter gebeten, nicht später als um acht Uhr den Rückweg anzutreten, weil er sich sonst sorgen würde. Der Wagen war auch pünktlich da, und wir stiegen ein, nachdem wir uns von Walters herzlich verabschiedet hatten. Sie standen alle vor der Tür, sogar die alten Eltern, und Johanna gab uns alles in den Wagen, was wir mitzunehmen hatten. Viel war es nicht, es war ja Sommer. Als wir die Stadt im Rücken hatten, warf Mutter sorgenvolle Blicke nach dem Himmel. »Kinder, wir bekommen Regen, wohl gar ein Gewitter«, rief sie.

»Ja, Gewitter gibt's«, sagte Matthias mit großer Ruhe, »es hat schon ein paarmal gedonnert.«

»O weh!« rief Mutter, »wir haben ja keine Schirme mitgenommen!«

»Wer denkt bei blauem Himmel auch an Schirme«, meinte Christian. »Nun, Mutterchen, wenn wir auch ein bissel naß werden, das schadet ja nichts.«

»Behrens, fahren Sie recht schnell«, bat Mutter, »vielleicht kommen wir noch trocken heim!«

»Wir haben zwei gute Stunden zu fahren und jetzt geht's bergan, das geht halt nicht so schnell.«

Langsam ging die Fahrt den Berg hinan. Als wir oben waren, erschraken wir. Dunkle, blauschwarze Wolken überall; eine unheimliche Stille in der Natur, wie sie dem Unwetter voranzugehen pflegt.

Plötzlich erhob sich der Wind und jagte den Sand vor uns her, ja wirbelte ihn so auf, daß wir ganz in Staubwolken eingehüllt waren. Der Donner grollte mächtiger und einige Blitze zuckten am Himmel. Dann brach der Regen los, ein gewaltiger Platzregen. Jedesmal beim Leuchten der Blitze bäumten sich die Pferde hoch auf, so daß ich glaubte, der ganze Wagen würde in den Graben geschleudert. Ich griff nach Mutters Hand, sie drückte die meine und sagte nur: »Gott ist bei uns.« Das tröstete mich.

Nun waren wir im Wald, es war fast dunkle Nacht, obwohl es ja eigentlich im Sommer um diese Zeit noch hell ist. Wir fuhren immer weiter im strömenden Regen, es schien, als wollte der Wald gar kein Ende nehmen.

»Behrens«, rief die Mutter dem Kutscher zu, »sind wir noch nicht bald aus dem Holz heraus, es kam mir auf dem Hinwege gar nicht so lange vor?« Er hörte wohl nicht, weil der Regen so rauschte und der Wind heulte.

Da gab Christian ihm einen Puff in den Rücken und schrie: »Sind wir nicht bald aus dem Holz heraus?«

Da hielt der Wagen. »Ich weeß ooch nicht«, sagte Behrens und kratzte sich hinter dem Ohr, »ich muß wohl vom rechten Weg abgekommen sein, es is mich gar nich, als ob dies der Weg nach unserem Badeort sein könnte. Da gehen so viele Wege kreuz und quer und bei die Finsternis!«

»Das wäre ja schrecklich«, rief die Mutter angstvoll. »Mein Mann wartet auf uns, wir müssen spätestens um zehn Uhr zu Hause sein.«

»Das werden wir wohl nicht«, sagte Behrens in größter Gemütsruhe. »Ich weeß nur nicht, soll ich umkehren oder nicht, weeß in dem Holze hier ooch nich Bescheid.«

»Fahren Sie nur weiter, wir müssen doch zu einem Ende herauskommen, wenigstens zu einem Kreuzweg, wo uns ein Wegweiser sagt, wo wir sind«, entschied die Mutter. Er fuhr wieder los, und uns war recht beklommen zumute in dem Gedanken, daß wir möglicherweise die Nacht hier würden zubringen müssen. Da rief Matthias plötzlich: »Ein Licht, Mutter, ich sehe ein Licht.«

Das Licht kam immer näher, der Regen ließ etwas nach, und wir erkannten im Dämmerlicht, daß wir bei einem Forsthaus angelangt waren. Wir hielten; Christian mußte absteigen und sich erkundigen. Hundegebell ertönte, die Haustür wurde aufgerissen, und die breitschulterige Gestalt eines Försters ließ sich blicken. »Sie sind statt rechts nach links abgebogen, müssen den ganzen Weg wieder zurück bis an die Hauptstraße und dann auf der Landstraße rechts weiter fahren. Aber wollen Sie nicht absteigen und sich bei uns die Sachen trocknen?«

»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, wir müssen aber nach Hause«, sagte Mutter ablehnend. Wir mochten einen schönen Anblick gewähren in unseren durchweichten Sachen. Der Kutscher fuhr wieder los, und wir gebrauchten eine gute halbe Stunde, bis wir wieder auf den Hauptweg gelangten. Der Regen, der etwas nachgelassen hatte, setzte mit erneuter Heftigkeit ein, das Gewitter war schwächer geworden, der Donner grollte nur noch in der Ferne. Gesprochen wurde gar nicht mehr, sogar die Brüder, die unsern Mut noch immer aufrecht erhalten hatten, verstummten, nachdem sie erklärt hatten, der Regen würde nachgerade ungemütlich. Mutter sorgte am meisten um Vater: »Wie wird er sich ängstigen«, sagte sie ein paarmal. »Der arme Vater!«

Endlich, endlich, es mochte gegen zwölf Uhr sein, sahen wir Lichter auftauchen. Neue Hoffnung belebte uns. Noch ein wenig Geduld, und wir hatten den Ort erreicht. Eine dunkle Gestalt im Überzieher mit großem Regenschirm stand auf dem Straßendamm.

»Maria, seid ihr da, Gott sei gelobt, ich habe große Angst um euch gehabt.«

»Vater, du draußen bei diesem Regen«, rief Mutter, »o das ist unrecht!« Ihre Worte verhallten, denn der Wagen rasselte nun schnell auf dem Steindamm vorwärts. Hier war schon der »Goldene Stern«, dort die »Weiße Rose«, und nun landeten wir endlich an der »Post«.

Die Wirtin war noch auf. »Gott sei Dank«, sagte auch sie, »daß Sie da sind. Ich habe heißen Tee für Sie bereit, kommen Sie nur.« Die Brüder sprangen schnell herab, halfen Mutter und mir vom Wagen – aber – wie sahen wir aus! Bis auf die Haut durchnäßt, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir mußten schnell die Kleider wechseln. Dann fanden wir uns im Wohnzimmer wieder, wo schon Mutter im warmen Morgenrock um den Vater bemüht war, der erschöpft in der Sofaecke saß. Er war sehr ungehalten, behauptete, wir seien viel zu spät fortgegangen, sonst hätten wir um zehn Uhr zu Hause sein müssen. Er war sehr böse und verdrießlich, so daß die Mutter uns den Wink gab, uns bald zurückzuziehen. Wir gingen denn auch still zu Bett und bedauerten das böse Ende des glücklichen Tages.

Ich schlief gut und fest, war aber, als ich aufwachte, besorgt, wie es den Eltern gehen möchte. Als ich ins Wohnzimmer kam, stand Mutter am Kaffeetisch. Sie sah blaß und angegriffen aus.

»Annchen, ihr müßt heute ganz still sein, wir haben eine schlechte Nacht gehabt. Vater hat kein Auge zugetan.«

»Und du natürlich auch nicht, Mutter«, unterbrach ich sie.

»Ich kann es eher vertragen, aber Vater hat seine nervösen Kopfschmerzen, jedes Geräusch tut ihm weh. Warte auf die Brüder und verhaltet euch beim Kaffee sehr still. Ich gehe zum Vater.«

Das waren traurige Aussichten für den heutigen Tag. Dazu plätscherte der Regen still und gemütlich vom Himmel, man sah es ihm an, daß er heute nicht aufhören würde. Die Brüder, die nun auch ein hübsches Zimmer und gute Betten hatten, erschienen sehr spät. Da – auf einmal nahten sie mit Gepolter. Ich wollte schnell aufstehen und zur Ruhe mahnen, blieb mit einem Haken am Kaffeetuch hängen und riß ein paar Tassen herunter, die klirrend zu Boden fielen. Die Mutter stand in der Tür und winkte mit der Hand, ich winkte den Brüdern, die jetzt eben mit ihren groben Stiefeln in die Stube traten.

»Vater ist krank«, flüsterte ich; da zogen meine Brüder schnell ihre Schuhe aus, kamen auf Socken herbei, sammelten leise die Scherben zusammen, trugen sie hinaus und brachten zwei ganze Tassen wieder mit herein. Dies rührte mich so, daß ich jedem einen Kuß gab und flüsterte: »Ihr guten Jungen«, worauf sie ebenso leise erwiderten:

»Wir kennen die Lage schon an solchen Tagen, nun gib nur schnell den Kaffee her.«

Nach dem Kaffee verschwanden sie; was sie unternommen haben, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß sie mich allein ließen. Endlich erschien Mutter und gab mir allerlei Aufträge. Ich mußte oben nach den Sachen sehen, unsere dünnen Sommerblusen aufplätten, den Staub im Zimmer wischen und dann in den »Goldenen Stern« gehen und bitten, daß uns das Essen herübergeschickt würde. Als ich wiederkam, war Vater aufgestanden. Er aß auch mit uns zu Mittag, aber bei jedem zu laut gesprochenen Wort machte er ›bscht‹ und drückte sich die Stirn mit Zeigefinger und Daumen. Nach Tisch zog er sich wieder in sein Schlafzimmer zurück. Die Brüder und ich blieben beieinander im Wohnzimmer. Sie erzählten mir, daß sie den ganzen Morgen bei ihrem Reisegefährten gewesen seien, und daß sie sich sehr gut mit ihm unterhalten hätten. Dann, als sie merkten, daß ich ziemlich bedrückte Mienen aufgesetzt hatte, fingen sie an, mir lustige Schulgeschichten aufzutischen, wurden aber leider so lebhaft dabei – ich quiekte auch ein paarmal laut auf –, daß Mutter hereinkam und kopfschüttelnd sagte: »Aber, Kinder, ihr wißt doch!«

»Mutti, Annchen ist so traurig«, flüsterte Matthias, »wir wollten sie nur ein wenig aufkrabbeln.«

Die Mutter wollte jetzt nichts vom Aufkrabbeln wissen, sie sagte entschieden, heute müßten Rücksichten genommen werden, morgen werde es mit Gottes Hilfe besser sein, Matthias und Christian sollten in ihr Zimmer gehen und lateinische Arbeiten machen.

»A–ach!« sagten beide gedehnt, »wir wollten gerade baden gehen.«

»Bei dem Wetter?« fragte Mutter und mußte lachen.

»Und wo, wenn ich fragen darf?«

»Es wird hier ja irgendein Wässerchen sein, in dem man baden kann«, meinte Christian. »Wannenbäder gibt es hier, sonst ist mir nichts bekannt von andern Badegelegenheiten. Wir wollen uns morgen danach erkundigen. Jetzt wird der Nachmittag mit nützlichen Übungen zugebracht, und du, Annchen, gehst in dein Zimmer und nimmst auch eine Arbeit vor; wir müssen hier jetzt vollständige Ruhe haben.« Das wurde in entschiedenstem Tone gesagt, den wir alle kennen und dem nicht widersprochen werden darf.

Also ich sitze nun hier am Fenster meines Stübchens mit dem Blick auf die in graue Wolken verhüllten Berge. Alles sieht so naß und grau aus, und so wird auch die Beschreibung dieses trüben Tages recht grau und trocken ausgefallen sein. Aber: »Auf Sonnenschein folgt Regen.« Wenn nun nur morgen auf Regen wieder Sonnenschein folgt, dann soll dieser Tag vergessen sein, und ich will mich wieder meines Lebens freuen.

 


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