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Es blieb nicht beim alten. Sophie war durch und durch erschüttert. Sie hatte sich zu lange in dem Gedanken gefallen, sie sei etwas ganz Besonderes, sie sei mehr als alle Insassen des Hauses und werde noch einmal eine große Rolle spielen. Und woher kam das? An allem war Mutter Krusen da unten im Dorf schuldig. Seit Sophie wußte, sie sei ein angenommenes Kind, beschäftigte sie oft der Gedanke, wer wohl die Eltern gewesen sein könnten. Sie war ein verschlossenes Kind und ließ wenig merken von dem, was in ihr vorging. Und doch kam einmal, als sie mit der Mutter allein war, die Frage nach den Eltern heraus. Frau Maria streichelte ihr freundlich die Wangen und antwortete: »Deine Mutter war eine brave Frau, daran laß dir genügen.«
Dies bestärkte sie in dem Gedanken, daß es eine eigene Bewandtnis mit ihrem Herkommen haben müsse. So kam sie einmal zu Mutter Krusen, der sie Wolle zum Stricken brachte. Die Alte strich ihr über den glatten Scheitel, faßte ihre dicken Zöpfe und sagte: »So ein schönes Herrenkind! Sie sind alle schön, aber dies ist die schönste.«
»Ich gehöre gar nicht zu den Kindern, ich bin ein angenommenes Kind«, sagte die damals vierzehnjährige Sophie und sah die Alte gespannt an. Die war lange im Dorf und wußte gewiß etwas.
»Weiß ich, mein Lämmchen, weiß ich alles«, sagte die Alte mit wichtiger Miene, »bist aber doch ein Herrenkind und was für eins!«
»Mutter Krusen, wißt Ihr etwas von meinen Eltern?«
»Psch, stille, das darf nicht gesagt werden. Wenn die Frau Mutter nichts sagt, dann sage ich auch nichts, aber ein richtiges Herrenkind bist du.«
Das merkte sich Sophie. Von da an erging sie sich in allerlei Einbildungen, von da an trachtete sie immer zu Mutter Krusen und erreichte es auch eines Tages durch Schmeicheln und Bitten, daß sie ihr anvertraute, sie sei ein Grafenkind. Das hätten die Leute damals alle erzählt, sie wisse es ganz gewiß. Wie es zuging, daß Frau Mersburg sie mitgebracht, das könne sie nicht sagen. Ihre Mutter sei gestorben, aber der Vater habe noch gelebt, er würde sich schon einmal zeigen und sich seine Tochter wieder holen. Sie schärfte Sophie ein, sich ja nichts merken zu lassen von dem, was sie ihr gesagt; so hatte sie den Gedanken, sie sei ein Grafenkind, jahrelang mit sich herumgetragen, immer hoffend, der Vater werde einmal erscheinen und sie auf sein Schloß mitnehmen.
Es war, als ob jemand einen Strahl kalten Wassers über sie ausgegossen hätte, als die Mutter ihr die reine, nackte Wahrheit aufdeckte. Alle ihre Gebäude von Glanz und Reichtum fielen in sich zusammen, sie lag gekrümmt am Boden und war tief gedemütigt. Anstatt zur Mutter zu gehen, die ihr nur Liebe gezeigt, die ihre andern Kinder nie bevorzugt hatte, die sie auch jetzt wieder mit herzlicher Liebe umfangen hätte, verhärtete sich ihr Gemüt. Ihr Stolz ließ es nicht zu, sich zu demütigen, Fräulein Schwabe vielleicht über sie lächeln zu sehen. Sie wollte hinaus in die Welt, wo niemand ahnte, daß sie ein armes Bettelkind war; hierbleiben konnte und wollte sie nicht.
Die Eltern hatten noch eine ernste Unterredung mit ihr, Maria versuchte in Liebe auf sie einzuwirken, erkannte aber deutlich, daß der Wunsch: »Fort von hier!« feste Wurzel gefaßt hatte.
»Maria«, meinte ihr Mann nach einer letzten Unterredung, »wir können vorderhand nichts tun, als dem eigenwilligen Mädchen nachzugeben. Sie wird draußen in der Welt erfahren, daß nicht jedermann so viel Nachsicht mit ihr hat, als sie hier gefunden, und so kann das Verlassen unseres Hauses vielleicht dazu dienen, sie zur Erkenntnis ihres Unrechts, zur Umkehr zu bringen.«
»Gott gebe es, aber ich sehe auch meinen Fehler, den ich begangen habe. Während ich glaubte, dem Kinde eine Liebe zu beweisen, wenn ich über ihr Herkommen schwieg, habe ich ihr Leid zugefügt. Ich hätte ihr von der traurigen Lage ihrer Eltern erzählen müssen, als sie noch ein Kind war, dann hätte sie vielleicht gelernt, dankbar zu sein dafür, daß wir sie aufgenommen haben, daß sie bei uns Kindesrechte genoß.«
»Wir denken oft etwas gut zu machen und handeln töricht. Ich trage ebensoviel Schuld wie du, wir haben es zusammen überlegt. Laß uns Gott bitten, daß er zurechtbringe, was wir versehen haben, wir haben es ja nicht aus böser Absicht getan. Nun gräme dich nicht, Liebe, laß uns Gott danken, daß er uns an den andern Kindern bisher Freude erleben ließ.«
»Für dies älteste Kind habe ich so viel gebetet, es scheint, als seien alle meine Gebete unerhört geblieben.«
»Keins unserer Gebete ist verloren, wenn wir in Jesu Namen gläubig bitten, wir sollen nur in Geduld warten, Gott wird seine Verheißungen auch an uns wahr machen.«
So tröstete der tiefgläubige Mann seine geliebte Frau, die in solchen Zeiten besonders spüren durfte, was sie an ihrem Manne hatte.
Das überwog bei weitem die schweren Tage, die seine zeitweilige Nervosität ihr bereitete. Maria hatte Glück und volle Befriedigung in ihrer Ehe gefunden, aber die Tage der Trübsal blieben nicht aus. Sie mußten dazu dienen, ihr Herz immer mehr zu läutern, sie ihres Glaubens gewisser zu machen und sie ihrem Heiland, der sie liebte, immer näherzubringen.
Sie glaubte, Sophie würde mit ihr überlegen, wohin sie ihre Schritte lenken solle. Aber das verschlossene Mädchen sagte nichts, und eines Morgens war sie verschwunden.
»Fräulein Sophie ist mit dem Milchwagen in die Stadt gefahren, sie wollte Besorgungen machen«, sagte das Mädchen, das nicht verwundert war, da Sophie öfter diese Gelegenheit benutzte, wenn es notwendige Einkäufe in der Stadt zu machen gab. Aber Frau Maria war sehr erschrocken, als sie es hörte. Sie wußte, sie würde nicht wiederkommen. Sie ging in Sophiens Zimmer und fand dort folgenden Brief:
Liebe Pflegeeltern!
Habt Dank für alles, was Ihr an mir getan habt. Ich habe eine passende Stelle gefunden und werde später von mir hören lassen. Es ist besser, daß ich gehe; das Kind armer Leute darf nicht länger im reichen Hause Wohltaten annehmen. Die Furcht, Ihr möchtet mich doch zu überreden suchen, bei Euch zu bleiben, ließ mich diesen Schritt tun. Lebt wohl und verzeiht Eurer unwürdigen Pflegetochter
Sophie«
Das war das Ende der Geschichte. Ein bitteres, demütigendes Ende für Maria, die sich wohl dann und wann eingebildet hatte, sie habe etwas Besonderes getan. Aber denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. So sollte auch Maria durch diese neue Lebenserfahrung innerlich wachsen und erstarken.