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Verschiedene Besuche

Grüneichen, 16. Mai

Gundchen schreibt an ihre Mutter, was kann ich da Besseres tun, als mein Tagebuch hervorholen. Einen ganzen Monat habe ich fast vergehen lassen ohne zu schreiben. Es kommt wohl vom Frühling. Wir sind bis zum späten Abend im Freien gewesen und die Luft macht so müde, daß man gern zur rechten Zeit schlafen geht. Bei Gundchen merkt man schon die gute Wirkung der Landluft, Mutter sagt, sie blüht auf wie ein Röschen. Wir freuen uns schon, wenn Tante Lisa sie wiedersehen wird. Die ist mit Herrn Wernigge mehrere Wochen verreist gewesen, ich glaube nach München, wo wieder einige Bilder von Gundchens Vater ausgestellt sind. Ich wollte, Tante Lisa käme auch einmal hierher; vielleicht holt sie Gundchen ab, da auch jetzt eine Schwester von ihr bei uns ist. Fräulein Margarete Schwarz ist seit Ende April die Lehrerin von Thildchen und Olga. Sie ist sehr klug und liebenswürdig und gefällt uns allen außerordentlich. Als sie kam, war sie sehr schüchtern und verlegen, als aber Mutter ihr freundlich entgegenkam und ihr erzählte, daß sie sie oft auf dem Arm gehabt und häufig mit ihr gespielt habe, da wurde sie zutraulich, und jetzt sagt sie, daß sie sich ganz heimisch bei uns fühle. Daß Gundchen, ihre Nichte, gerade hier weilt, ist für sie sehr hübsch. Die beiden gehen oft zusammen, besonders wenn ich verhindert bin, mit Gundchen spazierenzugehen. Mutter nimmt mich nämlich jetzt sehr dran, es ist gerade, als ob ich eine Prüfung in der Wirtschaft ablegen sollte. Ich muß alles lernen und alles selbst tun. Mutter sagt, Sophie hat es auch müssen, und ich sei nicht besser als Sophie. Es sind aber noch immer einige Erholungsstunden dabei, die bringe ich meistens mit Gundchen im Garten zu. Wir haben eine Lieblingslaube, die wir die Freundschaftslaube nennen, da vertrauen wir uns alles an. Meistens freuen wir uns ja, doch einmal waren wir beide sehr traurig und das kam so.

Onkel U–, Herr Doktor Schwarz hatte immer gesagt, er wolle mehrere Tage bleiben, da – auf einmal erklärte er, als er den zweiten Tag bei uns war, er müsse am Abend wieder fort. Mutter ist sonst immer so gastfrei und bittet die Menschen zu bleiben, diesmal war sie so sonderbar und sagte gar nichts, obgleich ich weiß, daß sie Tante Lisas Bruder gern hat. Gundchen war sehr traurig und ich auch. Als er Abschied genommen hatte, zog sie mich in die Laube und fing bitterlich an zu weinen. Ich bat sie, mir doch ihren Kummer zu sagen, da brachte sie unter Schluchzen hervor, sie wisse, warum Onkel Ulrich heute schon gereist sei –, er sei allen Ernstes gesonnen, ins Ausland zu gehen, sie habe deutlich gehört, daß er wieder mit Vater darüber gesprochen habe. Und das wisse sie, wenn er fortginge, käme er nie wieder, er würde draußen sein Grab finden.

»Ist es wirklich wahr!«

»Gewiß, du kannst es mir glauben«, versicherte sie, »ich habe es deutlich gehört, und wir sehen ihn nie wieder!«

Als wir so miteinander trauerten, steht plötzlich mein Vater in der Laube und ruft: »Was geht denn hier vor, was fehlt euch, ihr Mädchen?«

»Gundchens Onkel will nun ins Ausland und kommt nicht wieder,« schluchzte ich.

»Aber ihr Gänseblümchen alle beide«, lachte Vater, »wie könnt ihr euch nur solchen Unsinn einbilden! Glaubt ihr, daß der Direktor eines großen Gymnasiums seinen Beruf und alles im Stich läßt, um ins Ungewisse zu ziehen? Das wäre doch ein ganz schülerhafter Gedanke.« Er sagte uns nun, daß der Onkel allerdings geäußert habe, wenn er noch jünger wäre und keinen Beruf hätte, möchte er am liebsten fort, aber in Wirklichkeit dächte er keinen Augenblick daran; wir sollten keine Tränen unnütz vergießen. Wir beruhigten uns denn auch und ich bat Vater, Matthias und Christian nichts von unserem Kummer zu sagen; sie hätten uns ja nur ausgelacht.

Herr Doktor Schwarz ist Direktor am Gymnasium geworden. Er hat ein sehr hübsches Haus als Amtswohnung und einen schönen Garten dabei. – Aber er sah gar nicht sehr zufrieden aus und war nicht so lustig wie sonst. Als er mir Lebewohl sagte, machte er ein sehr ernstes Gesicht, so daß ich das Gefühl hatte, ich habe irgend etwas Unrechtes getan. Ich habe aber so viel nachgedacht und kann nichts finden. Das einzige müßte sein, daß ich ihn aus Versehen Onkel Ulrich genannt habe, als er kam, das kann er mir doch nicht so lange nachtragen. Gundchen sagt, ich solle mich deswegen nicht sorgen, er habe gewiß schon an seine vielen Schüler gedacht, die ihm den Kopf warm machen würden, darum sei er so ernst und feierlich gewesen.

Fräulein Schwarz ist etwa 24 oder 25 Jahre alt, aber sie sieht viel jünger aus und ist gern lustig. Wenn die Schule nachmittags aus ist, gehen Gundchen und ich oft auf ihr Zimmer, da zeigt sie uns ihre hübschen Zeichnungen oder spielt uns Klavier vor oder wir plaudern miteinander. Mit Sophie spielt sie viel vierhändig, die beiden haben sich sehr angefreundet. So ist bei uns alles in schönster Eintracht. Mit dem Pfarrhause ist reger Verkehr, Schwager Otto ist wieder abgereist, der Briefwechsel mit Sophie ist flott im Gang, Sophie sieht glücklich und zufrieden aus, sie mag aber noch gar nicht an eine Trennung von den Eltern denken. Es währt auch noch gewiß ein Jahr, bevor die Hochzeit sein kann. Sie soll nicht eher stattfinden, als bis Otto eine Stelle hat.

Heute ist ein Brief an Mutter gekommen, der sie in freudiges Erstaunen versetzt hat. Ihre Freundin, Eva Berg, die eine große Erziehungsanstalt für Töchter in Thüringen hat, schreibt, daß die Sehnsucht, Mutter einmal wiederzusehen, so mächtig sei, daß sie beschlossen habe, Pfingsten nicht nach Hause zu reisen, sondern auf einige Tage nach Grüneichen zu kommen, wenn es Mutter passe. Die will natürlich um Tante Evas Besuch bitten. Wir freuen uns alle sehr und sind sehr gespannt, sie kennenzulernen.

Jetzt kommt Gundchen, um mich zu einem Spaziergang abzuholen. Es ist so herrlich im Wald, das lichte Grün der Birken, Eichen und Buchen hebt sich so schön ab von dem Dunkel der Tannen, die Vöglein fliegen von Baum zu Baum und zwitschern, daß es eine Lust ist. Die Wiesen färben sich mit bunten Blumen, die wir pflücken und zu Kränzen winden. Wir schmücken uns oft damit und singen dann hübsche Lieder, die uns in den Sinn kommen. Ach, wie schön ist's doch auf Gottes Welt!

am 8. Juni

Nun ist Pfingsten vorüber und Tante Evas Besuch auch. Und was ist das Neueste? Sie hat uns Sophie entführt, doch ich will der Reihe nach erzählen. Vor dem Fest gab es viel zu tun, Tante Eva sollte Grüneichen im schönsten Lichte sehen, hatte Mutter gesagt. So wurde das ganze Haus von oben bis unten blank und sauber gemacht, und das will etwas sagen, diese Zimmerreihen, oben und unten! Aber die Familie ist groß, Besuch ist oft da, die Räume werden alle gebraucht. Für Tante Eva wurde das beste Gastzimmer hergerichtet. Es hat eine schöne Aussicht auf den See und macht mit seinen hellblauen Tapeten und duftigweißen Vorhängen einen sehr freundlichen Eindruck.

Ich hatte mir Tante Eva majestätisch und groß vorgestellt und hatte schon vorher Ehrfurcht vor ihrer ehrwürdigen Erscheinung. Wie war ich enttäuscht, als ich eine kleine blasse Dame mit ovalem Gesicht und sehr klugen Augen begrüßte. Tante Eva hat eine zierliche Gestalt, aber sie hat doch etwas Achtunggebietendes, ich kann mir denken, daß ihre Anstaltstöchter Respekt vor ihr haben. Mutter holte ihre Freundin von der Bahn. Sie kam Sonnabendnachmittag vor Pfingsten. Wir waren alle im großen Hausflur versammelt, die Brüder waren schon Freitag eingerückt. Als sie uns sah, rief sie: »Maria, welch eine große Familie hast du!«

»Alle gehören mir nicht«, erwiderte Mutter lachend und sonderte die ab, die nicht dazu gehörten. Sie stellte Fräulein Schwarz und Gundchen als Lisas Schwester und Tochter vor, was Tante Eva sehr interessierte. Dann kamen wir der Reihe nach dran. Tante Eva nahm ihr Glas und beobachtete uns so eingehend, als wollte sie unser Inneres ergründen. Sie sprach mit jedem von uns; alles was sie sagte, war so geistreich und klug, daß meine Ehrfurcht vor ihr riesig wuchs. Beim Kaffee erzählte sie viel von ihrer Anstalt, bedauerte, daß sie mich nicht habe ausbilden dürfen, worauf Mutter erwiderte, daß ich jedenfalls mehr gelernt haben würde, wenn ich bei Tante Eva gewesen wäre, die Entfernung sei aber zu groß; der Vater habe aus diesem Grunde nicht seine Zustimmung geben wollen.

Alles, was Tante Eva von ihrer Schule erzählte, interessierte Gundchen und mich sehr. Zwölf bis sechzehn Mädchen werden gewöhnlich aufgenommen. Es herrscht ein munteres, ungezwungenes Leben unter ihnen. Eine Französin und eine Engländerin unterrichten in ihren Sprachen, auch für musikalische Ausbildung ist durch tüchtige Lehrer gesorgt. Leider war die Wirtschafterin vor kurzem gegangen, und noch kein passender Ersatz gefunden. Tante Eva war deshalb in großer Unruhe. Für den Herbst habe sie Aussicht auf eine passende Stütze, aber für die Sommermonate suche sie eine Stellvertreterin; sie bat Mutter, sich darum zu bemühen, da sie unmöglich neben ihren vielen sonstigen Pflichten den großen Haushalt beaufsichtigen könne. Mutter meinte, wenn es nicht länger als für einige Monate sei, so wisse sie eine, die dazu geeignet sei, nämlich ihre älteste Tochter Sophie.

»Ja«, sagte Tante Eva nachdenklich, »das wäre mir eine große Hilfe, doch ich kann dir deine Tochter nicht wegnehmen, da du sie, wie ich sehe, sehr nötig selbst gebrauchst.«

»Und doch würde ich sie dir geben, aber Sophie müßte auch selber Lust dazu haben. Sie ist Braut, es könnte für sie nur vorteilhaft sein, einen andern Haushalt kennenzulernen. Und für meine Kleine da – Mutter zeigte auf mich – wird es auch nützlich sein; sie verläßt sich immer noch viel zuviel auf Sophie, ich möchte sie gern ein wenig selbständig haben.«

Tante Eva nahm wieder ihr Glas vor die Augen und betrachtete mich lange.

»Ja«, sagte sie endlich, »es schadet den jungen Mädchen gar nicht, wenn sie auch im Haushalt tüchtig rangenommen werden.«

»Gute Nacht, ihr schönen Tage«, dachte ich bei mir. Sophie fort, und ich alle ihre Pflichten übernehmen! Nun, Mutter mußte es ja wissen. Ich will gern die Wirtschaft lernen, aber Sophie ersetzen, das ist ein schweres Unternehmen. Und doch – nach Sophiens Hochzeit muß ich Mutters rechte Hand sein, da ist es immer gut, wenn ich mich schon vorher dran gewöhne.

Sophie war draußen, als diese Frage verhandelt wurde. Als sie hereinkam, sagte Mutter ihr davon. Sie war gern bereit auszuhelfen, und so wurde beschlossen, daß sie Tante Eva begleiten und bis zum Herbst dort bleiben solle.

Wir verlebten reizende Tage mit ihr. Sie wußte manches aus Mutters Jugendzeit, was diese längst vergessen hatte, und von ihren Eltern sprach sie mit besonderer Liebe und Hochachtung. Es ist so schön, Mutters Jugendfreundinnen alle kennenzulernen. Fräulein Walters waren so reizende Damen, Tante Lisa mag ich so gern, aber die Tante Eva ist die Beste von allen. Sie kann so viel Spaß machen, ist voller witziger Einfälle und doch wieder hat sie einen tiefen Ernst, eine innige Frömmigkeit. Wie ist sie darauf bedacht, die ihr anvertrauten jungen Mädchen auf den rechten Weg zu führen. Ich beneide fast Sophie, daß sie hat mitgehen dürfen, aber ich würde ja nicht die Hälfte von dem leisten, was Sophie tun kann. Tante Eva würde höchsten wieder sagen können, wie Frau von Drucker: »Du kleines Schaf.«

am 10. Juni

Heute morgen kam eine Einladung vom Nachbarsgut, die die Eltern annahmen. Da bekam der gute Vater seine Kopfschmerzen, die er lange nicht gehabt hat, und da er sehr wünschte, Mutter möchte zu den Bekannten fahren, weil sie schon einige Male hatten absagen müssen, so wurde beschlossen, ich solle beim Vater bleiben und alles Störende von ihm fernhalten. Es war so still und öde in unserem großen Haus. Fräulein Schwarz, Gundchen und die Schwestern waren nämlich auch mitgefahren. Es war ein warmer, schwüler Tag; ich machte dem Vater kühlende Umschläge und da der Schmerz etwas nachließ, durfte ich ihm vorlesen. Ich freute mich, daß nichts unsere Ruhe störte, das kann Vater an solchen Tagen gar nicht vertragen. Aber es kam schließlich doch noch etwas sehr Aufregendes. Vater wurde beim Vorlesen müde und sagte, ich möchte hinausgehen, er wolle ungestört ein Stündchen schlafen.

Die dicken Wolken, die schon immer gedroht hatten, entluden sich zu einem schweren Regen, der nach dürren Tagen sehr erwünscht kam, aber Mutter und Schwestern empfindlich treffen würde, da sie im offenen Wagen fuhren. Ich setzte mich in eins der vordem Zimmer ans Fenster und las. Von Zeit zu Zeit sah ich hinaus auf den niederströmenden Regen, der überall auf dem Hofe Teiche und Seen bildete. Da sah ich ein weibliches Wesen durch das Hoftor kommen. Es war ohne Schirm und hatte ein schwarzes Spitzentuch über den Hut gezogen. Die schlanke hohe Gestalt erinnerte mich an Tante Lisa, auch die schwarze Kleidung. Aber – sie konnte es doch unmöglich sein in diesem Wetter.

Sie war's! »Annchen«, rief sie, als ich die Haustür öffnete, »Gott sei Dank, daß ich endlich hier bin, der Weg ist mir namenlos lang geworden.«

»Warum hast du nicht geschrieben, Tante Lisa, Vater hätte dich von der Bahn holen lassen, wir haben so viele Pferde im Stall.«

»Das ist schon möglich, Kind. Aber schreiben konnte ich nicht«, sagte sie hastig. »Wo ist Mutter? Laß mich schnell zu ihr.«

Ich sagte, Mutter sei gerade heute nicht da und den Vater dürfe ich nicht stören, er habe Kopfschmerzen, worauf sie sehr unglücklich aussah und sagte: »Ich hätte Mutter so gerne gleich gesprochen.«

Ich bat sie mitzukommen, führte sie hinauf in ein Gastzimmer, holte trockene Sachen herbei, denn sie war gänzlich durchnäßt, und forderte sie auf, ihre Kleider zu wechseln. Dann lief ich in die Küche, machte eine Tasse Tee und als ich glaubte, sie würde mit Umkleiden fertig sein, trug ich ihr den Tee hinauf. Sie saß, den Kopf in die Hand gestützt, am Fenster und sah furchtbar traurig aus. Die Tränen liefen ihr immer über die Wangen. Sie versuchte sie zurückzuhalten, als ich kam, aber es gelang ihr nicht.

»Weißt du, Tante Lisa, daß Fräulein Schwarz jetzt bei uns ist?« sagte ich. Ich glaubte, ihr damit etwas Angenehmes zu sagen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie kurz, »aber ich bitte dich um eins, Annchen, laß weder Gundchen noch meine Schwester etwas davon merken, daß ich hier bin. Nur deine Mutter soll zu mir kommen, ganz allein, ich will vorderhand weiter niemanden sehen.«

Das kam mir alles sehr sonderbar vor. Tante Lisa mußte etwas Trauriges erlebt haben. Ich konnte nur das eine nicht begreifen, daß sie Gundchen nicht sehen wollte. Sie bat mich um eine Tablette, da sie sehr heftige Kopfschmerzen habe. Bei Kopfschmerzen fiel mir der Vater ein, den ich ganz vergessen hatte. Ich hätte doch nach ihm sehen müssen, es war schon lange Zeit her, daß er mich fortschickte, weil er schlafen wollte. Sobald ich Tante Lisa das Gewünschte gebracht hatte, eilte ich hinunter. Es wurde furchtbar geschellt, und ich betrat leise Vaters Zimmer.

Er hatte mich längst erwartet und war sehr ungehalten, daß ich nicht gekommen war. Ich wollte mich entschuldigen und sagte, ich hätte nicht kommen können, es habe sich etwas ereignet.

Da wurde er noch aufgeregter. Was denn geschehen sei? Ob es ein Unglück gegeben? Ob es irgendwo brenne, ich solle sprechen. Ich wurde immer verwirrter und sagte nur: »Oben!«

»Was«, rief er und sprang auf, »oben? Brennt es?«

»Nein,« sagte ich nun beschwichtigend, »oben ist eine Dame.«

»Nun, das ist doch kein Unglück. Das nennt man Besuch und sagt ein andermal nicht: ›Es hat sich etwas ereignet.‹ Wer ist es?«

»Sie will nicht genannt sein, Vater. Nur Mutter soll es wissen.«

»Unsinn«, brummte mein Vater. »Wer sich unter meinem Dach aufhält, dessen Namen will ich wissen.«

»Es ist Tante Lisa.«

»Und sie will nicht, daß ihr Hiersein bekannt wird. Seltsam. Nun, dann gib mir einen Tee, oder schicke Friederike zu mir und gehe du wieder zu Tante Lisa, man kann sie doch nicht allein lassen.«

Ich rief Friederike, trug ihr auf, Vater mit allem zu versorgen, und ging wieder hinauf.

Alles, was ich Tante Lisa zur Erfrischung hingesetzt hatte, war unberührt. Ich sah, daß sie wieder sehr geweint hatte, und konnte mir gar nicht denken, was für ein Leid sie betroffen hatte. Sie bat mich, sie allein zu lassen, so ging ich wieder hinunter, Mutter mit Sehnsucht erwartend.

Der Regen hatte aufgehört. Ich öffnete ein Fenster, es war herrliche Luft draußen. Balsamische Düfte entströmten den blühenden Büschen und Sträuchern, alles sah, vom Regen erfrischt, neu und verjüngt aus, es zog mich in den Garten. Leise ging ich an den Fenstern von Vaters Stube vorüber, aber der Kies knirschte doch etwas unter meinen Tritten. Da sah ich, wie meines Vaters Hand das eine Fenster aufstieß und er mit ganz veränderter Stimme rief: »Gänseblümchen.« Das ist immer sein Ausdruck, wenn er es gut meint. Ich eilte zu ihm. Da streckte er mir beide Hände entgegen und sagte: »Annchen, Tante Lisa mag wohl deine Gesellschaft nicht?« Ich schüttelte mit dem Kopf. »Dann bleib bei deinem Vater, mein Kind. Ich freue mich, wenn du bei mir bist. Mein Kopf ist jetzt besser. Schelte bekommst du nicht mehr.« Ich durfte Vater vorlesen, und beinahe vergaß ich, daß Tante Lisa oben war, wenn nicht das Rollen eines Wagens der Mutter Rückkehr gemeldet hätte. Da fiel mir alles wieder ein.

Gundchen sprang lachend vom Wagen, sie sah so hübsch aus, ihre Wangen waren leicht gerötet. »Es war zu hübsch, Anna, wie schade, daß du nicht dabei sein konntest. Aber wie ernst siehst du aus, es ist doch nichts geschehen?«

Ich sagte der Wahrheit gemäß: »Nein«, suchte aber Mutter baldmöglichst allein zu sprechen.

Sie erschrak sehr, als ich ihr sagte, wer gekommen sei, und ging gleich, nachdem sie Vater begrüßt hatte, nach oben. Sie blieb lange weg. Als sie herunterkam, sah sie blaß und verstört aus, sagte, wir wollten Abendandacht halten, dann sollten alle schlafen gehen. Gundchen wartete, wie gewöhnlich, auf mich; ich bat sie, voranzugehen, ich würde bald folgen. Als wir allein waren, fragte ich Mutter, was es mit Tante Lisa auf sich habe. »Es sind traurige Sachen, mein liebes Kind, es ist besser, du erfährst es nicht. Du hast deine Sache gut gemacht heute, ich weiß nun, daß ich mich auf mein Töchterchen verlassen kann.«

Ich fühlte, daß ich das Lob eigentlich nicht verdiente, sagte gute Nacht und ging. Gundchen, die keine Ahnung hatte von dem, was sich zugetragen, erzählte mir viel von dem hübschen Nachmittag, wie alle Tante Gretchen so gern gemocht hätten und besonders von ihrer schönen Stimme entzückt gewesen seien. Nun schläft Gundchen schon lange. Ich war noch zu aufgeregt und mußte meine Erlebnisse erst niederschreiben.

Mir ist es jetzt klar, daß es mit Herrn Wernigge zusammenhängt, gewiß ist er nicht immer gut zu Tante Lisa, und das darf Gundchen ja allerdings nicht wissen. Wie danke ich Gott, daß er mir so gute Eltern geschenkt hat. Wenn auch Vater mitunter etwas nervös ist, so ist er doch ein lieber, prächtiger Vater, ich bitte Gott alle Tage, daß er mir meine Eltern recht lange erhalten wolle.

 


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