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Der Flüchtling

Es ist wohl an der Zeit, daß wir erfahren, was unterdes aus Sophie, dem Flüchtling, geworden ist.

Als sie an jenem Septembermorgen, ungesehen und ungehört von den Ihren, auf dem Wirtschaftshof den Milchwagen bestieg, fragte noch Fräulein Friedchen, auf den Handkoffer zeigend: »Fräulein, Sie wollen wohl verreisen?«

Sophie nickte stumm, und der Wagen fuhr zum Tor hinaus. Dichter Nebel hüllte alles ein, sie sah sich noch einmal um, aber nichts war mehr zu sehen vom Herrenhaus und seinen Nebengebäuden. Sie hüllte sich fester in ihr Tuch, es fröstelte sie. Innerlich war sie wie zerschlagen.

»Ein Bettelkind, nichts weiter als ein armes Bettelkind«, so tönte es unablässig in ihren Ohren. Aber war sie nicht selber schuld, wenn sie sich als ein solches ansah? Hatten ihre Pflegeeltern es ihr je aufgedrückt, daß sie geringer war als sie? Hatten sie ihr nicht stets die gleichen Rechte eingeräumt mit den eigenen Kindern, hatte sie nicht dieselbe Liebe und Fürsorge erfahren? Es war fast, als bereute sie ihr Fortgehen. Noch konnte sie mit dem Wagen wieder zurückfahren – doch nein, der Brief war geschrieben, und ihr Stolz ließ es nicht zu.

Als das Städtchen erreicht war, hielt der Wagen wie gewöhnlich beim Kaufmann Wegner, von dem man in Grüneichen die Waren bezog.

Während der Kutscher dem Kaufmann, der eben aus der Tür trat, einen Zettel mit verschiedenen Bestellungen von der Wirtschafterin einhändigte, stieg Sophie ab, und der Lehrjunge sprang höflich herbei, ihr den Koffer abzunehmen. »Wollen Sie verreisen, Fräulein?« fragte auch er und erhielt die Antwort:

»Es wäre mir lieb, wenn dieser Koffer bald nach dem Bahnhof besorgt werden könnte.«

»Das soll geschehen«, rief der Herr Geschäftsinhaber. »Aber wollen Sie nicht erst ein wenig bei uns ausruhen, oder geht der Zug schon bald?«

»Mein Zug geht im Laufe des Vormittags«, antwortete Sophie ruhig. »Wenn's erlaubt ist, kehre ich erst noch ein wenig bei Ihnen ein.«

Bereitwillig öffnete Herr Wegner sein Zimmer, legte ihr die neueste Zeitung vor und beeilte sich dann, seiner Gattin mitzuteilen, daß eine der Grüneichener Damen mitgekommen sei, sie möge doch ein Frühstück hereinbringen.

Als der Mann das Zimmer verlassen hatte, griff Sophie hastig nach der Zeitung. Das war's ja, was sie begehrte. Sie wollte und mußte so schnell wie möglich eine Stelle finden, eine Stelle, die für sie paßte und sie in den Stand setzte, fortan für sich selbst zu sorgen. Stellen waren genug angeboten, aber nur wenige darunter, die sie für geeignet hielt. Endlich glaubte sie etwas gefunden zu haben. In einer einige Stationen weiter gelegenen Mittelstadt wurde ein gebildetes Mädchen gesucht, die der Hausfrau zur Hand ging und die Schularbeiten der Kinder beaufsichtigte. Familienanschluß wurde zugesichert.

Sophie war kurz entschlossen, hatte sie doch nicht lange Zeit zur Überlegung. Sie schrieb die Adresse des Rechtsanwalts auf und steckte eben ihr Notizbuch ein, als Frau Wegner mit einer Tasse Fleischbrühe und einem Teller mit Broten eintrat.

»Nur eine kleine Erquickung, Fräulein. Mein Mann sagt mir eben, daß Sie auf einer Reise begriffen sind. Der Hausbursche ist schon mit dem Koffer nach dem Bahnhof gegangen. Aber Sie haben noch Zeit, sich etwas zu stärken. Wohin soll denn die Reise gehen?«

Sophie nannte etwas verlegen den Ort, war überhaupt zerstreut bei allem, was Frau Wegner erzählte, und froh, als sie sich endlich entfernte. Sie nahm nun ihre Sachen und ging langsam dem Bahnhof zu.

Da sah sie in der Ferne den Grüneichener Milchwagen fahren. Der Kutscher hatte die Milch in der Molkerei abgeliefert, hatte noch einige Besorgungen gemacht und war nun auf dem Heimweg. Einen Augenblick schwankte sie. Noch war's Zeit, wieder umzukehren. Aber nein – nach dem, was vorgefallen, konnte sie es nicht. Das stolze Herz wollte sich noch nicht demütigen.

Sie löste eine Karte und saß bald in dem davoneilenden Zug. Jede Minute brachte sie weiter, trennte sie mehr und mehr von der Familie, der sie bisher angehört hatte.

An ihrem Bestimmungsort ließ sie ihren Koffer einstweilen auf dem Bahnhof und fragte nach der Wohnung des Rechtsanwalts. Es wurde ihr Straße und Nummer genannt. Nicht ohne einiges Bangen betrat sie das Haus. Sie ließ sich bei der Frau des Hauses melden.

»Gewiß wieder eine Stütze«, hörte sie eine verdrießliche Stimme sagen. – »Sie mag hereinkommen.«

Die Frau saß in einem bequemen Stuhl zurückgelehnt. Durch die offene Tür klang Kinderlärm, den jemand zu dämpfen versuchte.

»Fräulein, schließen Sie die Tür, man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen«, rief sie, worauf ein junges Mädchen, das bei den Kindern war und ziemlich erhitzt aussah, die Tür schloß.

»Nun und Sie?« wandte sich die Frau an Sophie, »mit wem habe ich das Vergnügen?«

Sophie brachte ihr Anliegen vor, worauf die Dame sie von oben bis unten musterte und dann sagte: »Ja, mein liebes Fräulein, das kann ich heute noch nicht wissen. Mein Fräulein geht allerdings weg, aber ich habe schon so viele Angebote, habe mich auch schon halb und halb entschlossen. Das junge Mädchen will heute nachmittag wiederkommen, da wird es sich entscheiden. Fragen Sie heute abend noch einmal nach, wenn Ihnen daran liegt.«

»Ich glaubte, die Stelle sei sofort zu besetzen?«

»Das ist sie auch. Aber wie gesagt, augenblicklich kann ich mich nicht entscheiden.«

Sophie war enttäuscht und empfahl sich. »Fragen Sie heute abend noch einmal nach.« Das war so kalt, so teilnahmslos gesagt. Wie konnte sie auch erwarten, daß eine wildfremde Dame sich gleich für sie interessieren sollte. Da stand sie in einem fremden Ort ohne Bekannte und Verwandte, wohin nun?

Sie ging an den Bahnhof zurück, ließ sich in der dortigen Wirtschaft etwas Warmes geben und machte dann einen weiten Spaziergang in die Umgebung der Stadt. Einsam und verlassen fühlte sie sich, es regte sich etwas wie Heimweh, das sie mit Eifer zu unterdrücken suchte. Endlich kam der Abend heran. Sobald es dämmerte, schlug sie wieder den Weg nach der Hauptstraße ein, wo die Familie wohnte. Es wurde ihr fast schwerer als das erste Mal. Wie, wenn die Stelle schon vergeben war?

»Das Fräulein von heute morgen ist wieder da«, meldete das Mädchen.

»Laß sie hereinkommen.« Diesmal war auch der Hausherr anwesend.

»Mit der Stütze, die sich gemeldet hatte, und die ich eigentlich anstellen wollte, ist es nichts geworden. Sie machte zu große Ansprüche, auf die ich nicht eingehen konnte. Sagen Sie, sind Sie den Umgang mit Kindern gewohnt?«

»Frage lieber«, wandte der Hausherr ein, »ob das Fräulein Energie besitzt, unartige Kinder zu beaufsichtigen.«

»Unartig«, wiederholte die Frau mit unzufriedener Miene. »Du wirst doch deine Kinder nicht gleich an den Pranger stellen –«

»Behaupten, sie seien artig, scheint mir ein Verstoß gegen die Wahrheit zu sein.«

Ein tüchtiger Krach gegen die Tür, ein Schreien und Toben aus dem Nebenzimmer ließ den Mann aufspringen und mit den Worten: »Da siehst du die artigen Kinder«, verschwand er. Man hörte ihn mit lauten kräftigen Worten Ruhe gebieten.

»Das ist es ja gerade, warum wir dem Fräulein gekündigt haben, es verstand gar nicht, mit den gut veranlagten, nur etwas lebhaften Kindern umzugehen. Wenn Sie sich getrauen, liebes Fräulein, mit vier Kindern von 7-13 Jahren fertig zu werden, so hätte ich Lust, Sie anzustellen.«

»Ich will es versuchen«, sagte Sophie leise ... »Nicht wahr, ich habe recht gelesen, daß die Stelle sofort zu besetzen ist?«

»Gewiß, Fräulein verläßt uns morgen. Sie können also morgen abend antreten, wenn Ihnen die Bedingungen, die ich schon heute mit Ihnen besprach, recht sind.«

»Es wäre mir lieb, wenn ich gleich bleiben dürfte«, sagte Sophie zaghaft. »Ich bin hier fremd –«

Das letzte schien die Dame zu überhören. Sie unterbrach das junge Mädchen mit den Worten: »Nein, heute kann ich Sie noch nicht gebrauchen. Das andere Fräulein geht ja erst morgen, wie ich schon bemerkte. Morgen abend erwarte ich Sie, dann können wir alles Nähere besprechen.«

Sophie hatte nicht den Mut, zu sagen, daß sie nicht wisse, wohin. Sie empfahl sich und schlich traurig dem Bahnhof zu, nicht ahnend, wohin sie nun sollte. Doch gehandelt mußte werden. Auf ihr Befragen nach einem billigen und anständigen Gasthof wurde ihr »Stadt Berlin« genannt. Sie ließ ihren Koffer dahin bringen und hatte bald ein freundliches kleines Zimmer im obern Stockwerk inne. Eine Lampe wurde ihr gebracht und ein einfaches Abendbrot, das sie bestellt hatte.

Da saß sie nun in fremder Stadt, die Zukunft lag schwer und dunkel vor ihr. Das, was gewesen, sah sie nun in verklärtem Licht. Ja, was hatte sie sich verscherzt durch ihren Stolz und Eigensinn, die Liebe der Ihren, ein glückliches schönes Dasein im elterlichen Hause; nach allem, was sie von der Stelle gesehen, graute ihr davor. Aber nun hieß es: »Durch!« Was sie sich selber eingebrockt hatte, mußte ausgegessen werden.

Am folgenden Abend, der Tag war ihr sehr lang geworden, trat sie ihre Stelle an. Aber schon nach acht Tagen merkte sie, daß ihres Bleibens hier nicht lange sein könne. Die Jungen waren gar nicht an Gehorsam gewöhnt, sie sahen das Fräulein als eine untergeordnete Person an, mit der sie machen konnten, was sie wollten, der Vater war wenig zu Hause, die Mutter ließ ihnen freien Willen und verzog sie. Trotzdem würde Sophie versucht haben zu bleiben, da die Stelle im Gehalt vorteilhaft war. Aber da ihr sonntags Arbeiten zugemutet wurden, die den Tag entheiligten, da überhaupt kein Christentum im Hause war, kein Tischgebet, keine Hausandacht, kein Kirchengehen, wie sie es von Hause gewohnt war, so kündigte sie die Stelle für Mitte Oktober und bemühte sich nun um eine andere, denn sie schämte sich, nach so kurzer Zeit wieder zu Hause zu erscheinen. Sie glaubte, bei einer alten Dame in der Hauptstadt etwas für sie Passendes gefunden zu haben.

Nach einigem Hin- und Herschreiben wurde sie angestellt. Wie sich ihr Schicksal weiter gestaltete, wird im nächsten Kapitel klarwerden.

 


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