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Frau Maria konnte sich noch gut zurechtfinden. Sie gab dem Kutscher die Richtung an und bald hielten sie vor dem großen Kaufmannshause der Walters. Behrens wurde angewiesen, sie abends hier wieder abzuholen, dann stieg Maria mit den Kindern ab. Auf diese Überraschung hatte sie sich lange gefreut.
Auf ihr Klingeln an dem wohlbekannten alten Haustor wurde geöffnet. Eine saubere Frau in mittleren Jahren sah die Gesellschaft erstaunt an. Maria würde Johanna vielleicht nicht gleich wiedererkannt haben, wenn der alte Roß ihr nicht erzählt hätte, daß seine Tochter Johanna noch im Walterschen Hause sei. Die hielt die Eintretenden für Fremde, die nicht mit ihrer Herrschaft bekannt seien, und fragte höflich nach ihrem Begehr. Maria streckte ihr die Hand hin und sagte: »Liebe Johanna, melden Sie doch: eine alte Freundin möchte Fräulein Martha Walter sprechen.«
Bei Nennung ihres Namens stutzte Johanna. Sie sah die Dame prüfend an und ging kopfschüttelnd nach oben. Eine fremde Dame stehe draußen mit einem jungen Mädchen und zwei Jungen, sie möchte Fräulein Martha sprechen. Sie wisse nicht, wer es sei, von hier seien sie nicht, soviel könne sie sagen. Martha ging hinunter, sich wundernd, wer das wohl sei. Dann stand sie vor Maria und sagte: »Ich erinnere mich nicht Ihrer Bekanntschaft, mit wem habe ich die Ehre?« da konnte Maria sich nicht länger halten.
»Martha, kennst du mich nicht mehr? Es sind allerdings zwanzig Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt sahen, Martha, wir wurden zusammen eingesegnet.«
Da durchzuckte es Martha blitzartig. »Maria!« rief sie. »Ist es möglich? Du bist Maria Ruben, unsere alte Freundin! Tausendmal willkommen, die alte, liebe Maria. Wie werden sich die Eltern freuen, und Emmy! Johanna, gehe doch gleich ins Diakonissenhaus und bitte Schwester Emmy, wenn sie sich freimachen könne, auf ein Stündchen zu kommen, unsere alte Freundin Maria Ruben sei da; sie wird es gewiß möglich machen. Maria, komm zu den Eltern, das ist ja eine großartige Überraschung.«
Maria mußte erst einige Worte mit Johanna wechseln. Die hatte ihre beiden Hände gefaßt und schüttelte sie so kräftig, daß Maria fast Schmerzen empfand. Und doch tat ihr die alte Liebe und Treue so wohl, ach so wohl.
»Sind das deine Kinder, Maria? Eine erwachsene Tochter schon und so kräftige Söhne! Kommt, liebe Kinder, wir wollen uns duzen, ihr müßt Tante Martha sagen, wo eure Mutter, meine alte Freundin, ist.«
Unter diesen Worten zeigte Martha Walter dem Besuch den Weg nach oben, wo sie ablegen mußten und dann zu den Eltern geführt wurden. Dasselbe Staunen, dieselbe Überraschung wiederholte sich. Das alte Ehepaar freute sich herzlich, sie wußten gar nicht, was sie Frau Maria und ihren Kindern zuliebe tun sollten. Natürlich wurde Maria aufgefordert, zum Mittagessen zu bleiben; was sie gerne annahm.
»Ich habe mich so lange auf diesen Tag gefreut und nehme ihn als Geschenk aus Gottes Hand.«
»Meine liebe Maria«, sagte Marthas Mutter, »Sie müssen uns viel erzählen von Ihren Erlebnissen. Ihre Kinder sehen sich unterdessen die Stadt und dann unsern Garten an. Wir wollen doch Eduards Kinder rufen lassen, Martha.«
Tante Martha war bald gut Freund mit Anna und den Jungen. Sie machte sie bekannt mit den Kindern ihres Bruders, des jetzigen Geschäftsinhabers, und bald hörte man sie im Garten lachen und plaudern. Maria aber saß oben und mußte erzählen. Die Briefe seien doch unvollkommen, meinte Martha, als sie zurückkamen, sie möchten noch so vieles wissen.
»Maria, nun laß dich einmal ordentlich anschauen, Menschenskind«, rief sie aus, »daß ich dich nicht gleich erkannte! Du siehst – so anders aus – so würdig. Früher warst du schlanker, dünner, jetzt machst du einen so gesetzten Eindruck, ganz wie man sich eine Gutsbesitzersfrau zu denken hat.«
Maria lachte hell auf. »Als Mutter von fünf Kindern muß ich doch etwas Würde annehmen. In zwanzig Jahren verändert sich wohl der Mensch ein wenig.«
»Du bist auch im Wesen anders. Viel munterer und frischer bist du geworden. Du hast dich nicht zum Nachteil verändert.«
Maria lachte wieder. »Was du noch alles finden wirst, Martha. Doch«, fuhr sie ernst werdend fort, »ich glaube wohl, daß du recht hast. Ich hatte eine ziemlich strenge Erziehung beim Vater und im ganzen ein etwas einseitiges Leben. Dazu kamen traurige Eindrücke in der Jugendzeit, so daß der Frohsinn nicht so bei mir zum Durchbruch kam, obwohl ich sagen und bekennen muß, daß ich innerlich eine sehr glückliche Jugend gehabt habe. Ich habe wenigstens nie gefühlt, daß mir etwas fehle, und dann kann ich es meinem Vater nie genug danken, daß er mich von früh an den hat kennen lehren, der uns bis in den Tod geliebt hat, unsern Herrn und Heiland.«
»Da haben Sie recht, meine liebe Maria«, stimmte ihr Frau Walter bei, »wer ihn nicht kennt, für den ist kein wahrer, innerer Friede vorhanden; wer in ihm Vergebung seiner Sünden gefunden, der hat Leben und volles Genüge.« –
»Maria, unsern Garten mußt du sehen«, unterbrach Martha das Gespräch. »Komm, wir gehen miteinander hinunter und bringen die Kinder dann zum Essen mit herauf.« Sie nahm die Freundin, wie in alten Zeiten, unter den Arm, ging mit ihr über den Hof, wo reges Leben herrschte, durch das dunkle Hintergebäude, an dessen Ende die zum Garten führende Tür aufgestoßen wurde. Da stand noch das alte Gartenhaus, in dem sie so vergnügt miteinander gewesen waren, dort plätscherte der Springbrunnen, von hübschen Blumenbeeten umgeben, es war alles noch wie einst. Jugendlust und Frohsinn tönte ihnen entgegen, man hörte Lachen und Plaudern, sah aber nichts.
»Wo sind die Kinder?« fragte Maria.
»Die sitzen dort im Nußbaum in der Ecke«, lachte Martha, »das ist der Lieblingssitz unserer Jugend.« Sie traten heran an einen alten, mächtigen Nußbaum. Maria schaute hinauf.
»Nein, ist es zu glauben«, rief sie, »Annchen sitzt ganz hoch da oben, höher als die Brüder. Aber, Mädchen, komm herunter.«
»Die ist aus der Art geschlagen«, lachte Martha; »Maria, das hättest du nie fertiggebracht.«
»Ja, sie ist ganz anders als ich, ich habe immer zu dämpfen, daß sie nicht über die Stränge schlägt.«
»Kinder, kommt herunter, es geht zu Tisch«, rief Martha und klopfte in die Hände. Da krabbelte es vom Baum herunter. Zuerst kamen zwei kleine Mädchen zum Vorschein, die auf den untern Zweigen gesessen, dann sprangen ein, zwei, drei jüngere Knaben herunter, dann unsere zwei, und schließlich schwebte, zierlich und behende, wie eine kleine Elfe, das Annchen vom Baum.
»Wo kommen alle diese Kinder her?« fragte Maria erstaunt.
»Sie gehören alle meinem Bruder. Die Schwägerin ist verreist, da muß einstweilen Tante Martha Mutterstelle vertreten. Aber nun hinauf zum Essen, eins, zwei, drei!«
Es gab ein fröhliches Mahl im alten Patrizierhause, und als sich nach Tisch ein leises Klopfen an der Tür vernehmen ließ und eine kleine zierliche Gestalt in Diakonissentracht hereintrat und auf Maria zuflog, da wollte die Freude kein Ende nehmen.
»Maria, bist du's denn wirklich? Wie siehst du aus? Ja, aber verändert hast du dich. Und deine Kinder, wie gut sehen sie alle aus! Eigentlich wollte ich böse auf dich sein, weil du unserem Mutterhaus untreu geworden bist. Du wolltest doch auch Schwester werden?«
»Emmy, ich wollte, aber Gott, der Herr, hatte es anders beschlossen. Schwesterdienste habe ich deshalb auch leisten müssen.«
»Ich weiß es, du hast eine kranke Tante gepflegt und dann hast du dich sehr bald verlobt.«
»Zwei Jahre war ich bei Onkel und Tante, als ich Braut wurde. Dann starb mein Onkel, und wir nahmen nach unserer Vermählung die Tante ganz zu uns.«
»Das war nicht leicht für dich.«
»Ich habe sie gerne gepflegt. Ihre Liebe, Geduld und Freundlichkeit belohnte mich reichlich für die Mühe, die mir ihr Kranksein verursachte. Sie hat noch sechs Jahre gelebt und war Zeuge meines Glückes.«
»Und dann hast du das Vermögen der Verwandten geerbt?«
»Den größten Teil. Es war ein Segen für uns, denn es stellte sich immer mehr heraus, daß mein Mann bei seiner Nervosität seinen Beruf als Jurist nicht lange würde ausüben können. Die Ärzte rieten ihm, sich viel in freier Luft zu bewegen, und da er sich von jeher sehr für Landwirtschaft interessiert hatte, so kauften wir das Gut Grüneichen. Wir gewannen einen tüchtigen Inspektor, mit dessen Hilfe er nun sein Gut bewirtschaftet.«
»Und du?«
»Ich arbeite mit einer alten, bewährten Wirtschafterin und mir bekommt, wie ihr seht, das Landleben ausgezeichnet.«
»Wer hätte je gedacht, daß du, Maria, einmal Gutsbesitzerin werden könntest, ich hätte eher eine Diakonisse, Lehrerin, oder, wenn geheiratet sein sollte, eine Pfarrfrau in dir gesehen.«
»Es kommt oft ganz anders, als wir denken und wünschen. Jedenfalls bin ich eine glückliche Frau und Mutter und danke Gott täglich für seine Führung. Doch nun möchte ich von euch wissen, was aus Lisa Schwarz geworden ist. Ein- oder zweimal hat sie mir von Italien aus geschrieben, dann haben wir nie mehr voneinander gehört. Ich hätte sie so gern einmal wiedergesehen. Lebt die Mutter noch hier?«
»Sie ist vor vielen Jahren weggezogen und, soviel wir wissen, gestorben. Was aus ihren Kindern geworden ist, können wir dir nicht sagen. Ich glaube, Lisa ist verheiratet, es ist aber ebensogut möglich, daß es eine Schwester von ihr gewesen ist. Du weißt, wir hatten nie größeren Verkehr mit der Familie.«
»Wie schade, daß ich nichts über sie erfahren kann«, sagte Maria traurig.
Die Freundinnen plauderten noch lange miteinander; man kam von einem aufs andere, es war des Erzählens und Fragens kein Ende. Aber die Zeit ging weiter, und da Maria noch an die Gräber der Eltern wollte und auch einen Besuch im Pfarrhaus vorhatte, so mußte ein Ende gemacht werden. Schwester Emmy, die sich heute einige Stunden hatte freimachen können, bot sich zur Begleitung an, während Martha daheim blieb, um für die Abendbewirtung der Gäste zu sorgen.
Emmy erzählte Maria viel aus dem Diakonissenhause, sagte, wie ihr Beruf sie ganz erfülle und glücklich mache, wie sie sich nicht allein im Mutterhause unter der Leitung der allverehrten Oberin wohl fühlte, sondern wie ihr Beruf, auch wenn sie auf auswärtigen Stationen arbeitete, sie stets voll befriedigte. Maria sah sie mit leuchtenden Augen an.
»Wie mich das freut, Emmy, so muß es sein. Gott, der Herr, führt den einen diesen Weg, den andern jenen. Wenn uns die Liebe, die der Herr Jesus zu uns hat, das Herz erweicht hat, dann macht uns das Dienen in unserem Beruf Freude. Wir denken nicht darüber nach, ob eine Arbeit für uns paßt oder nicht, ob sie leicht oder schwer ist – ob gering oder ehrenvoll – wir dienen dem Herrn mit Freuden und danken ihm, daß er uns würdigt, geringe Arbeiterinnen in seinem Weinberg zu sein.«
Sie waren bis an die Paulskirche gekommen, Maria stand still in tiefer Bewegung. In diesem Gotteshause war sie eingesegnet worden, und dort lag das alte graue Pfarrhaus, wo Pfarrer Berg noch lebte und wirkte. Welche Freude, auch ihn noch einmal wiedersehen zu dürfen. Sie sah sich nach den Kindern um, die in einiger Entfernung folgten, und winkte ihnen näherzukommen, und so betraten sie das Haus.
Schwester Emmy, die oft hier aus und ein ging, klopfte rechts an eine Tür und betrat das Zimmer. Maria und die Kinder folgten. Da saß der greise Pfarrer in der Sofaecke, ihm zur Rechten seine treue Lebensgefährtin. Maria hatte sie verlassen, als sie auf der Höhe des Lebens standen; nun hatte das Alter sie gebeugt, und der ehrwürdige Herr stand im Begriff, in den Ruhestand zu treten. Bis jetzt war es ihm vergönnt gewesen, sein Amt noch allein zu verwalten. Beide erhoben sich, als die Damen eintraten. »Es ist Schwester Emmy«, sagte die Pfarrfrau zum Gatten. »Sie bringt eine fremde Dame mit und drei Kinder.«
»Sie sollen raten, Herr Pfarrer, wer die Dame ist. Es ist eine alte Bekannte von früher«, bemerkte Emmy.
Jetzt trat Maria vor, ergriff die Hand des alten Herrn und sagte mit bewegter Stimme: »Sie haben mich eingesegnet, Herr Pfarrer, kennen Sie mich nicht mehr?« Pastor Berg legte die Hand an die Stirn. »Ich habe viele Kinder eingesegnet, ich kann mich im Augenblick nicht an Sie erinnern.«
»Ich war eine Altersgenossin von Eva.«
»O, lieber Mann, jetzt weiß ich's, es ist – es ist die kleine Maria.«
»Maria Ruben, jetzt kenne ich dich! Ich sage noch du, meine Tochter; ich betrachte meine Konfirmandinnen als meine Kinder, und du warst ein besonders liebes Kind von mir.«
Und nun schüttelten die alten Leute Maria kräftig die Hände, freuten sich an den Kindern, ließen sich erzählen und erzählten wieder von ihren längst erwachsenen und verheirateten Kindern. Eva war unvermählt geblieben und hatte ein großes Töchterpensionat in einer waldreichen Gegend Thüringens.
Es war köstlich, dies Wiedersehen mit dem geistlichen Freund und Berater. Sie hätte den Besuch viel länger ausdehnen mögen, als die Zeit es gestattete. Und doch konnten sie in der kurzen Zeit ernste Worte, Ewigkeitsgedanken miteinander austauschen. Als beim Abschied der alte Pfarrer segnend die Hand auf Marias Haupt legte und sagte: »Gott behüte dich, mein liebes Kind, dich und dein ganzes Haus; ich habe keine größere Freude als die, daß ich meine Kinder sehe in der Wahrheit wandeln«, da stahlen sich Tränen in Marias Augen. Sie wußte, die teure Hand ruhte zum letztenmal in diesem Leben auf ihrem Haupt.
Der Gang nach dem Friedhof in Emmys und der Kinder Begleitung bildete den Schluß. Es war Maria eine wehmütige Freude, mit ihren Kindern am Grabe ihrer Eltern stehen und ihnen allerlei Liebes vom Großvater erzählen zu können. Dann drängte es sie zurück zu Walters, wo sie nach einer schönen Stunde des Beisammenseins den Wagen bestiegen, um die Rückfahrt anzutreten.