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Grüneichen, am 12. April
Mit den Lerchen möchte ich mich aufwärtsschwingen, singen und jubilieren, so fröhlich und vergnügt bin ich. Es ist zu schön daheim nach der langen Abwesenheit. Es ist mir immer wie einem Vöglein, das dem Käfig entronnen ist, seit ich wieder mit Eltern und Geschwistern in der frischen, freien Natur bin. Landkinder gehören nicht in die Stadt. Wie wonnig und schön ist der Blick auf die grünenden Saaten, auf den glitzernden See und den ihn umkränzenden Wald, der jetzt zwar noch kahl dasteht, aber bald in seinem Frühlingsschmuck prangen wird. Was die Freude noch erhöht, ist – daß wir Gundchen mitgebracht haben, und sie auch vor Glück und Freude strahlt.
»O Anna, wie schön ist es bei euch. Diese hohen luftigen Zimmer, der Blick aus den Fenstern so weit und unbegrenzt, wie herrlich ist die Luft, die man hier einatmet, hier werde ich gewiß gesund und kräftig.«
Tante Lisa hatte sich in den letzten Wochen viel mehr mit Gundchen beschäftigt als früher. Sie mochte sie nach Kurts Tod gar nicht um sich haben, weil sie sie immer an Kurt erinnerte. Aber dann wurde es anders, es war, als ob die Liebe zu Gundchen doppelt erwachte, und das machte Gundchen so glücklich. Sie durfte stundenlang bei ihrer Mutter sitzen, ihr vorlesen, mit ihr plaudern; auch ich durfte mitunter bei Tante Lisa sein, die sich freute, daß Gundchen und ich miteinander befreundet sind. Es wurde ihr schwer, die Erlaubnis zu Gundchens Mitreise zu geben, aber da der Arzt erklärte, sie müsse ihrer Bleichsucht und Schwäche wegen aufs Land, so konnte ja nichts Besseres gefunden werden als Grüneichen. Mutter wird ja alles tun, was in ihren Kräften steht, um Gundchen zu pflegen, und ich will sie liebhaben und sie mit allem Schönen bekannt machen, was Grüneichen aufzuweisen hat.
Ich hörte Mutter zu Sophie sagen: »Sophie, solange Gundchen hier ist, wollen wir Anna noch nicht an die Arbeit spannen, wollen ihr Ferien lassen, damit sie ihrer Freundschaft leben und mit Gundchen Spazierengehen kann.«
»Natürlich«, war Sophiens Antwort, »Annchen ist ja noch so jung, die Wirtschaft lernt sie noch immer, laß die jungen Backfische nur laufen, Mutter, wir werden schon allein fertig.« Dieses Gespräch der beiden, das ich durch die offene Tür belauschte, entzückte mich so, daß ich hineinstürzte und sie umarmte und küßte.
»Du solltest ja gar nicht hören, was wir hier verhandeln«, sagte Mutter und drohte lächelnd mit dem Finger, »sei dankbar und aufmerksam dafür, sieh zu, daß Gundchen tüchtig frische Milch bekommt, laß es überhaupt deine Pflicht sein, in Liebe über deine Freundin zu wachen, damit alle Vorschriften des Arztes genau befolgt werden, dann hast du auch deine Pflichten. Und nun lauf!«
Ich lief davon. Ferien haben und mit Gundchen durch Feld und Wald streifen zu dürfen, welche Aussicht! Gleich den ersten Tag nach unserer Ankunft habe ich ihr unsern schönen Park gezeigt. Wir haben uns mit den kleinen Schwestern in den breiten Kieswegen gehascht, dann haben wir Veilchen und Osterlilien gepflückt und unsern eigenen kleinen Garten in Augenschein genommen.
»Hier muß viel geschehen«, sagte Olga weise zu Thildchen, »morgen müssen wir anfangen zu graben.« Am andern Morgen sah man sie wirklich im Schweiße ihres Angesichtes arbeiten. Sie hatten kleine Spaten, wie sie für ihre Kräfte angemessen sind, und gruben nach Herzenslust.
»Bis Ostern muß alles fertig sein«, sagten sie, und sie haben es durchgesetzt. Gestern abend riefen sie uns; wir staunten, wie niedlich und hübsch sie alles gemacht hatten. Etwas hat wohl der Gärtner geholfen mit Einsetzen und Pflanzen der Blumen und Sträucher, aber die Hauptsache ist ihr Werk.
»Ja, wenn ich so etwas früher auch gehabt hätte«, rief Gundchen. »Ich bin immer nur in den dumpfen Stadtmauern gewesen, ab und an wohl in einem Kurort, aber so schön, wie hier, war es nirgends.«
Alles macht meiner Freundin Vergnügen, was mich besonders freut; mit großem Interesse hat sie sich den Kuhstall mit seinen Bewohnern angesehen, auch schon Freundschaft geschlossen mit dem alten Melker, der versichert hat, die neue schwarz und weiß gefleckte Kuh soll nach dem kleinen Stadtfräulein »Gundchen« genannt werden. Ich passe auf, daß Gundchen jeden Abend ihre zwei Becher schäumender Milch trinkt, sie schmeckt ihr gut, und ich sehe jeden Tag verstohlen die schmalen blassen Wangen an, ob sie sich nicht ein klein wenig runden wollen. Mutter sagt, so schnell gehe es nicht, aber nach einigen Wochen könnte man vielleicht die gute Wirkung des Landaufenthaltes spüren.
Nachdem wir die nächste Umgebung des Hauses angesehen hatten, wanderte ich mit Gundchen ins Dorf.
Überall standen freundliche Leute und grüßten uns; die Kinder, die vor den Haustüren spielten, knicksten. Einige Frauen riefen uns freundliche Worte zu. »Gut, daß Sie wieder da sind, Fräulein; es ist viel schöner, wenn die Herrschaft zu Hause ist.«
Wir gingen hin zu den Leuten und plauderten ein wenig mit ihnen. Wie traulich und gemütlich ist so ein Gang durchs Dorf, wo man jedes Haus mit seinen Einwohnern kennt, wo man an allen Freuden und Leiden der Familien teilnimmt. Es ist eine Zusammengehörigkeit, die in der Stadt fehlt, wo einer an dem andern vorüberrennt ohne Interesse und Teilnahme.
»Annchen, laß uns doch einmal zum Dorf hinauswandern bis an den schönen See, der im Sonnenschein wie lauter Silber glänzt, bitte, Annchen, magst du?« schmeichelte Gundchen, worauf ich weise fragte, ob sie sich nicht ermüdet fühle, sie wisse, allzuweit dürfe sie im Anfang die Spaziergänge nicht ausdehnen. Sie verneinte es, meinte im Gegenteilt, die Luft stärke sie. Da es nun bis zum See kaum zehn Minuten sind, so wanderten wir dahin, Arm in Arm. Über uns den blauen Himmel, vor uns den glänzenden See und die grünen Saaten, auf dem Acker fleißige Arbeiter, alles unsere Leute, unsere Äcker und Wiesen. Ich kam mir ordentlich reich vor, Gundchen gegenüber.
»Was ist denn das für ein niedliches Häuschen in der Nähe des Sees?« rief sie plötzlich. »Wie reizend liegt es da?«
»Das Haus gehörte einem pensionierten Beamten«, entgegnete ich. »Er ist im vorigen Jahr gestorben und Vater hat das Haus mit Garten von den Erben gekauft. Es war ihm immer im Weg, da das Häuschen eigentlich auf seinem Grund und Boden lag. Der frühere Besitzer von Grüneichen hat es für seine Eltern bauen lassen. Als sie starben, verkaufte er es, nun gehört es, wie gesagt, wieder dem Vater. Aber ich habe das Innere noch nicht gesehen, da der alte Herr kurz vor unserem Weggang in die Stadt starb, und die ihm gehörenden Sachen erst jetzt von den Erben geholt worden sind.«
»Können wir es uns nicht einmal ansehen?« meinte Gundchen.
»Es wird wohl verschlossen sein, ich will den Vater um den Schlüssel bitten, dann gehen wir morgen.«
Gundchen sah enttäuscht aus, auch mich interessierte es, nun da es uns gehörte. Es lag malerisch da, von wildem Wein umrankt und von einem hübschen, kleinen Garten umgeben. Wir standen eine Weile still und schauten hinüber. Da ertönte Pferdegetrappel hinter uns. Wir sahen uns um: Vater kam auf seinem Reitpferd daher. Er hielt an und sprach mit uns. Wir fragten, ob er nicht den Schlüssel zum Häuschen habe.
»Dahin will ich eben«, war die Antwort. Auf die Bitte, uns mitzunehmen, sagte er, er könne uns Krabben doch nicht beide aufs Pferd nehmen. Wir versicherten, wir würden ihm zu Fuß folgen, es sei ja nur eine kurze Strecke. Wir trabten also höchst vergnügt hinter Vater her und waren bald an Ort und Stelle. Vater stieg ab, band das Pferd an den Zaun, zog einen großen Schlüssel aus der Tasche und ging mit uns ins Haus. Es war still und öde darin, so geheimnisvoll, wie in einem Zauberschlößchen.
Unten gab es vier nicht sehr große, ineinanderführende Zimmer. Das eine stand durch eine Glastür mit einer Veranda in Verbindung. Wir betraten sie und stießen beide ein Ah der Bewunderung aus. Die Aussicht, die sich uns bot, war entzückend. Oben waren zwei kleine Giebelstübchen, eins hatte ebenfalls die schöne Aussicht auf See und Wald, das andere auf unser Dorf.
»Hier möchte ich wohnen«, rief Gundchen, »o wie schön müßte es sein!« Ich fragte Vater, was er mit dem Hause machen wolle.
»Am liebsten niederreißen«, war die Antwort. »Der Grund und Boden ist mir mehr wert.«
Gundchen sah ganz erschrocken aus und fragte schüchtern: »Doch nicht gleich?«
»Nein, vorderhand mag's stehenbleiben, aber Nutzen hat es keinen für mich.«
Gundchen sagte leise zu mir, ob wir nicht mitunter hierhergehen wollten, uns einen Feldsessel mitnehmen und die schöne Aussicht genießen. Bei dieser Frage tauchten allerlei liebliche Gedanken in mir auf. Wir hatten auf dem Boden noch eine Menge alter Möbel stehen, besonders Stühle und Tische. Die mußten hierhergebracht werden, dann konnten im Sommer allerlei Waldspaziergänge gemacht werden, und das Häuschen würde der Sammelpunkt der Gesellschaft. Hier konnte gerastet werden, hierher konnte man vor Regen und Unwetter flüchten, kurz, es würde allerlei schönen Zwecken dienen.
Als Vater mit seiner Besichtigung fertig war, bestieg er wieder sein Pferd und sagte, wir möchten langsam folgen. Es war uns ganz recht, daß wir uns selbst überlassen waren. Wir ergingen uns in herrlichen Plänen, wünschten, das Haus möchte unser beider Eigentum sein, malten uns aus, wie wir in Eintracht und Freundschaft leben wollten, unser Gärtchen in Ordnung halten, schöne Blumen und Früchte darin bauen, in dem nahen Wald Spazierengehen und in einem Kahn auf dem See rudern im Mondenschein.
Wir standen oft still und schauten rückwärts auf unser Häuschen. Endlich fiel es mir ein, nach der Uhr zu sehen, da gewahrte ich mit Schrecken, daß die Melkzeit fast vorüber war, und ich meine Pflicht vergessen hatte, Gundchens Milchtrinken zu überwachen. Wir eilten schnell dem heimatlichen Kuhstall zu, wo die Mägde die Milch ins Wirtschaftshaus trugen. Wir folgten ihnen, und Gundchen mußte schnell ihr vorgeschriebenes Maß trinken. Ich hatte einige Gewissensbisse und wußte, Mutter würde mir einen Verweis geben. Denn sie hat alles im Kopf und weiß ganz genau, wenn jemand seine Pflicht nicht tut.
Diesmal aber waren wir gar nicht vermißt worden. Ich hatte das Gefühl, als ob zu Hause irgend etwas Wichtiges vorgegangen sei. Mutter und Sophie hatten beide ganz rote Köpfe, Sophie sah verweint aus, aber nicht so, als ob es von Mutter Schelte gegeben hätte. Im Gegenteil, die war sehr liebevoll und gut mit ihr, schickte sie früh zu Bett und küßte sie besonders zärtlich. Ich bin etwas neugierig, warum soll ich es nicht gestehen? Ich wüßte zu gern, was es mit Sophie auf sich hat. Ich fragte Mutter am andern Morgen, als Sophie immer noch still und einsilbig einherging, was der Schwester fehle. Da lächelte Mutter und sagte: »Nichts Schlimmes, mein Kind, sieh nur, daß du Sophie zum Geburtstag eine rechte Freude machst. Das wird, will's Gott, ein fröhlicher Tag.«
Sophiens Geburtstag ist Dienstag nach Ostern. Gundchen und ich haben schon überlegt, womit wir sie überraschen könnten, aber es hängt vom Vater ab, ob es zur Ausführung kommt. Morgen ist Karfreitag, da fahren wir miteinander zur Kirche. Wir waren schon am Palmsonntag dort und gingen nach der Kirche ins Pfarrhaus, um Gundchen vorzustellen. Der Palmsonntag ist in unserer Familie immer ein wichtiger Tag, weil wir an diesem Tag konfirmiert sind. Mutter spricht dann so schön mit uns und ermahnt uns, an unser Gelübde der Treue zu denken und Gott zu bitten, daß er uns Kraft gebe, bei Jesus zu bleiben, ihm zu dienen unser Leben lang.
Übermorgen kommen die Brüder. Sie haben schon seit voriger Woche Ferien, sind aber noch bei einem Freund, der sie eingeladen hat. Gundchen und ich dürfen sie von der Bahn holen, wir freuen uns beide darauf!
Ostersonnabend
Heute war ein herrlicher Tag. Draußen schien die Frühlingssonne so warm und lockte die kleinen Blumen alle heraus. Im Park waren die Frauen damit beschäftigt, die Wege zu reinigen, da haben Gundchen und ich fleißig geholfen, damit zum morgigen Osterfest alles schön und festlich sei. Es war so still und feierlich in der Natur und auch im Hause. Dort muß am Sonnabend vor Palmsonntag alles fertig, sein, Mutter hält darauf, daß in der Stillen Woche keine unnötigen Arbeiten vorgenommen werden. Gleich nach Tisch hielt der Wagen vor der Tür, Gundchen und ich stiegen ein, um die Brüder von der Bahn zu holen. Die kleinen Schwestern wären gern mitgefahren, aber es war kein Platz.
So schönes Osterwetter hatten wir seit langem nicht. Es freut mich Gundchens wegen, daß es nicht rauh und nicht kalt ist, nun kann sie recht viel im Freien sein, was der Arzt besonders wünscht. Wir fuhren fröhlich los; das Fahren macht Gundchen so sehr viel Vergnügen, besonders im offenen Wagen, wo man Umschau halten und die frische Luft in vollen Zügen genießen kann. Hinter dem Dorf bemerkten wir einen Leiterwagen, der hochbepackt dem Häuschen am See zufuhr.
»O, Anna, sieh doch«, rief Gundchen, »dein guter Vater erfüllt unsern Wunsch.«
»Ich weiß es«, erwiderte ich, »wenn das Wetter so bleibt, soll an Sophies Geburtstag ein Ausflug ins Holz gemacht werden, der Kaffee wird im Häuschen getrunken. Der gute Vater läßt Tische und Stühle hinfahren, Mutter soll auch damit überrascht werden. Ja«, füge ich hinzu, »mein Vater ist der beste Vater der Welt, wie gern macht er uns eine Freude, auch wenn es ihn Mühe und Arbeitszeit kostet.« Ich sah, daß Gundchens Gesicht sich schmerzlich verzog, gewiß dachte sie an den eigenen Vater, von dem sie nicht sagen konnte, daß er gut und rücksichtsvoll sei.
Wir sahen bald die Bahnhofsgebäude und fuhren in schnellem Trabe darauf zu, nicht ahnend, welche Überraschung unser am Bahnhof wartete. Wir dachten ja nur an die Brüder und winkten ihnen zu, als der Zug einfuhr. Sic schwenkten wie immer mit den Mützen und sprangen eilfertig heraus, als der Zug hielt. Mitten in der freudigen Begrüßung stutzten sie. Gundchens Trauerkleidung erinnerte sie an das Schwere, das meine Freundin erlebt hatte. Sie wurden plötzlich still und verlegen, reichten ihr dann die Hand und sagten: »Es hat uns wirklich so leid getan, wir hatten Kurt auch lieb.«
Da auf einmal ertönte eine Stimme laut hinter uns: »Ich möchte einen Mann, einen Gepäckträger möchte ich.« Wir schauten uns um und sahen eine alte Dame, umgeben von einer Menge Gepäck. Sie war dem davoneilenden Zug entstiegen und rief hilflos nach einem Dienstmann. Aber an kleinen Orten ist es nicht wie in der Stadt; der einzige Mann war beschäftigt, deshalb bat ich Matthias, die Dame zu beruhigen und sich ihres Gepäckes anzunehmen. Er verhandelte lange mit ihr; ihre Stimme kam mir bekannt vor; ich gab Gundchen schnell einen Wink, daß wir zu ihr gehen wollten, ihr zu helfen.
»Die Dame wollte nach Friedeberg zu Herrn von Wesen und hoffte, hier einen Wagen zu finden. Es ist wahrscheinlich ein Versehen«, berichtete Matthias. »Herr von Wesen denkt vielleicht, daß die Dame um sieben Uhr kommt.«
»Ja, das hatte ich auch geschrieben«, jammerte die Arme, »nun bin ich aber mit einem früheren Zug gekommen und soll fünf Stunden in diesem jämmerlich kleinen Bahnhofsgebäude warten, wo man nicht einmal eine Tasse Kaffee bekommt.«
Ich hatte die Dame, während sie sprach, aufmerksam betrachtet. Wenn auch ihr Gesicht mit einem dichten Schleier verhüllt war, wurde es mir immer mehr zur Gewißheit, daß sie niemand anders war, als meine Herrin aus der Stadt, der ich an Sophiens Stelle volle vierundzwanzig Stunden gedient hatte. Sie musterte mich auch, schien mich aber nicht zu erkennen. Es machte mir ungeheures Vergnügen unerkannt zu bleiben.
»Gnädige Frau«, sagte ich achtungsvoll, »darf ich Ihnen unsern Wagen anbieten. Sie fahren mit zu uns, unser Gut ist nur eine halbe Stunde entfernt. Wir lassen hier Bescheid, daß der Friedeberger Wagen nach Grüneichen kommt und Sie dort abholt.«
»Und mein Gepäck?«
»Das geben wir hier ab, die Leute kennen uns alle. Der Friedeberger Kutscher packt es auf seinen Wagen und holt Sie bei uns ab!«
»Sehr liebenswürdig, außerordentlich liebenswürdig. Mit wem habe ich denn das Vergnügen –«
»Wir sind die Grüneichener Gutskinder«, sagte ich, auf diese Weise unsern Namen verbergend.
Die alte Dame mußte, nachdem die Sachen untergebracht waren, zwischen mir und Gundchen Platz nehmen. Die Wagenbank war so lang, daß wir, ohne gedrückt zu werden, sitzen konnten. Die Brüder saßen bei Heinrich, und nun ging's fort. Ich wollte Gundchen immer ein Zeichen geben, daß ich die Dame kenne, ich hätte fürs Leben gern Matthias oder Christian zugeflüstert: »Es ist Frau von Drucker«, aber es ging nicht. Was würden Sophie sagen und Mutter und Vater! Sie kannten sie alle, welche Überraschung!
Frau von Drucker sah mich immer von der Seite an. Ob sie mich wohl wiedererkannte? Ich glaube, sie ahnte etwas, denn sobald ich anfing zu sprechen, drehte sie den Kopf hastig nach mir um, und einmal sagte sie sogar: »Mir ist, als sollte ich Sie schon einmal gesehen haben.« Nun hätte ich mich zu erkennen geben müssen, aber wir fuhren gerade in den Hof ein, und kurz vor dem Aussteigen unterließ ich die Vorstellung, bis die andern dabei waren.
Vater, Mutter und die kleinen Schwestern standen vor der Tür und winkten. Auf einmal gewahrten sie die Fremde in unserer Mitte. Ich sah, wie Mutter sich zu Vater beugte und etwas sagte, was gewiß hieß: »Wen bringen sie denn da mit?«
Wir jungen Leute sprangen schnell vom Wagen und Vater half ritterlich der alten Dame, die mit vielen Entschuldigungen herunterkam, aber auch stutzte, als sie Vater erblickte. Ebenso, als Mutter auf sie zukam und sie willkommen hieß. Wir erklärten die Sache, und die Eltern fanden es selbstverständlich, daß wir die Dame nicht allein in der Wartestube hatten sitzenlassen. Als sie nun in das große, schöne Eßzimmer geführt wurde, wo der Kaffeetisch gedeckt war, sah sie verlegen von einem zum andern, bis Sophie mit der großen Kaffeekanne eintrat und sie auf den Tisch setzte. Die blieb erstaunt stehen und sah der Dame, die nun Hut und Schleier abgenommen hatte, ins Gesicht.
»Frau von Drucker«, rief sie plötzlich, »wie kommen Sie hierher?«
»Sophie?! Träume oder wache ich? Sie kommen mir alle so bekannt vor. Sind Sie hier in Stellung, Sophie?«
»Ich bin bei meinen Eltern«, sagte Sophie errötend. »Hier mein Schwesterchen war einen Tag meine Stellvertreterin, als ich das Unglück mit dem Fuß hatte.«
»Ja – aber –«, sagte Frau von Drucker, »Ihre Eltern wohnten doch in der Stadt.«
»Wir hatten nur Winteraufenthalt dort genommen«, sagte mein Vater verbindlich, »sonst sind wir Landleute und sind froh, daß wir unsere Heimat hier haben.« Hiermit reichte er ihr höflich seinen Arm, führte sie an das obere Ende des Tisches und setzte sich an ihre linke Seite, während Mutter rechts von ihr Platz nahm. Wir übrigen setzten uns in gewohnter Weise um den Kaffeetisch. Frau von Drucker musterte uns alle nach der Reihe. Es schien ihr jetzt ein Licht aufzugehen, daß wir auch etwas vorstellten, und ich muß gestehen, daß es mir eine ganz kleine Genugtuung war. Mich faßte sie besonders scharf ins Auge, während Gundchen mir immer zuflüsterte: »Woher kennst du die Dame? Wer ist sie? Wo wohnt sie?«
Und Matthias und Christian schnitten wunderliche Gesichter und riefen halblaut über den Tisch: »Stütze der Hausfrau, willst du nicht wieder mitgehen?«
Nach dem Kaffee ging Frau von Drucker auf Sophie zu und sagte: »Mein liebes Fräulein, Sie haben mir sehr gefehlt, Sie waren die beste Stütze, die ich je gehabt habe, es ist wohl gar nicht daran zu denken, daß Sie wieder zu mir kommen?«
»Nein, gnädige Frau«, nahm meine Mutter das Wort, »jetzt ist sie mir unentbehrlich, ich bin froh, wenn ich sie noch habe.«
»Ja, es ist ein gutes Mädchen«, sagte Frau von Drucker. »Wenn das mit dem Fuß nicht gekommen wäre –«
»Das war sehr gut, gnädige Frau«, konnte meine Mutter nicht umhin zu sagen, »denn wir Eltern waren gar nicht damit einverstanden, daß Sophie sich anderswo eine Stelle gesucht hatte, ich konnte sie selbst so gut gebrauchen.«
»Ja, es ist ein gutes Mädchen, ein sehr gutes Mädchen. Die Kleine ist lange nicht so tüchtig, die muß noch angehalten werden.« Ich wurde dunkelrot und sah, wie Christian und Matthias mir eine Nase drehten. Das war sehr ungezogen von ihnen. Die kleinen Schwestern sahen mich mitleidig an, als ob sie mich bedauerten, und Gundchen kicherte.
»Aber«, fuhr die alte Dame fort, »es ist ein sehr wohlerzogenes junges Mädchen. Mit welcher Liebenswürdigkeit hat sie sich meiner heute angenommen, ohne sie hätte ich einen sehr langweiligen Nachmittag am Bahnhof gehabt, während ich jetzt die in Ihrem Familienkreise verlebten Stunden zu den angenehmsten dieses Jahres zähle.«
»Ich sah mich triumphierend nach den Brüdern um, aber die waren entwichen. Länge halten sie sich nicht gern im Zimmer auf. Der Nachsatz versöhnte mich vollständig mit Frau von Drucker; ich wollte ihre Ansichten über meine Liebenswürdigkeit festigen und führte sie in unsern schönen Garten, zeigte ihr unser ganzes Haus und hatte die Genugtuung, daß sie mich streichelte und mich ihr kleines, liebes »Lamm« nannte. So war aus dem Schaf ein Lamm geworden, während es sonst umgekehrt zu sein, pflegt.
Am Abend kam der Friedeberger Wagen richtig an und holte sie ab. Sie war voll Dank gegen uns alle und sagte, sie schätze sich glücklich, eine solche Familie kennengelernt zu haben. Vielleicht kommt sie noch einmal mit Herrn und Frau von Wesen, die wir gut kennen, zum Besuch.
Gundchen schläft schon lange. Die Luft macht sie müde. Ich konnte noch nicht schlafen, das heutige Erlebnis mußte ich erst eintragen. Nun wird's aber Zeit, am Ostermorgen stehe ich gern früh auf, mache einen Spaziergang durch den Garten und singe leise ein Osterlied.
Am Dienstag, den siebzehnten, ist Sophiens Geburtstag. Ich bin gespannt, was wir da erleben werden, denn daß wir etwas erleben, ist mir klar, es werden hie und da von den Eltern sonderbare Andeutungen gemacht.