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am 27. Januar
Nun haben wir schon wieder ein ganzes Stück vom neuen Jahr hinter uns, und ich komme endlich dazu, meine Erlebnisse in mein liebes Tagebuch einzutragen.
Sophie geht es wieder ganz gut. Man merkt kaum, daß sie etwas am Fuß gehabt hat. Sie ist viel vergnügter als früher und zeigt uns allen ihre Liebe in rührender Weise. Besonders sieht sie Mutter alles von den Augen ab, so daß diese kürzlich äußerte: »Ich kann mich nun ruhig aufs Sofa setzen, meine älteste Tochter schafft und sorgt für mich.«
Aber das tut Mutter doch nicht; es findet sich noch immer genug zu tun für sie. Sophie gefällt es hier in der Stadt auch sehr. Da sie eine hübsche Stimme hat, lassen die Eltern sie noch Gesangstunden nehmen. Vater meint, wir müßten den Aufenthalt in der Stadt gut ausnützen; auch ich habe eine gute Stimme, wir üben zusammen Duette ein, um sie den Eltern später, wenn wir wieder auf dem Lande sind, vorzusingen. Vater freut sich schon darauf, er liebt Musik in jeder Form, ebenso Mutter, darum besuchen die Eltern gern gute Konzerte, wir Töchter begleiten die Eltern abwechselnd, eine muß zur Aufsicht der Schwestern daheimbleiben. So haben wir hier manches Schöne, so daß wir die Leere, die durch die Abreise der Brüder entstanden ist, gar nicht in dem Maße empfinden wie in Grüneichen. Mit den jungen Mädchen, die mit mir zusammen Stunden haben, bin ich auch bekannter geworden. Wir haben sogar ein Kränzchen gegründet, das heißt das »Blumenkränzchen«. Wir haben nämlich uns allen Blumennamen gegeben; und wer an dem Abend der Zusammenkunft die andere nicht mit ihrem Blumennamen anredet, muß Strafe bezahlen. Das Geld wird in eine Kasse getan und soll zu einem guten Zweck verwendet werden. Ich habe die Gänseblümchen so gern und wählte mir diesen Namen. Wir lesen dann ein hübsches Buch miteinander, plaudern ein wenig und singen auch. Mutter sagt, sie habe früher mit ihren Freundinnen ein ähnliches Kränzchen gehabt, das habe ihr viel Vergnügen gemacht. Ich freue mich auch immer darauf, man lernt dadurch neue Familien kennen, und die Eltern der Freundinnen sind alle so gut und freundlich zu mir, als ob sie mich schon lange kennten. Von unsern Lehrern und Lehrerinnen sprechen wir mit großer Begeisterung, für einzelne wird geschwärmt.
Die jungen Mädchen, welche ich kennengelernt habe, gehören zum Teil einigen Familien an, mit denen auch die Eltern bekannt geworden sind, so daß wir dort mitunter zusammen hingehen. Dann heiße ich natürlich nicht: »Gänseblümchen«, Vater neckt mich schon genug dieses Namens wegen; ich wollte, ich hätte mir einen andern gewählt.
Kürzlich hat Vater einen alten Freund aus seiner Studienzeit getroffen. Er wußte gar nicht, daß er hier in der Stadt lebte. Die Eltern haben sich gegenseitig besucht, ich war nicht zu Hause, als Herr und Frau Timme bei uns waren, und daher kam die dumme Geschichte, die ich jetzt erzählen will.
»Annchen«, sagte Mutter kürzlich zu mir, »Vater möchte gern Herrn und Frau Rat Timme morgen abend hier haben, du könntest hingehen, schöne Grüße von den Eltern bestellen und sie bitten, eine Tasse Tee mit uns zu trinken. Sie wohnen nicht weit von hier in der nächsten Straße, Nummer elf.«
Ich zog los und traf unterwegs das »Vergißmeinnicht«, eine von meinen Kränzchenfreundinnen, sie hatte so viel zu erzählen, daß ich darüber wahrscheinlich die Hausnummer vergessen hatte. Statt in Nummer elf ging ich in Nummer zwölf die Treppe hinauf und klingelte. Auf mein Befragen, ob Herr und Frau Rat zu Hause seien, erhielt ich eine bejahende Antwort und wurde in einen vornehmen Salon geführt. Es kam mir alles so feierlich und schön vor. Obwohl es Winter war, prangten mehrere schöne Blumensträuße auf dem Tisch und auf einer silbernen Schale gab es eine Menge von Karten, wie man sie wohl zu Neujahr oder zum Geburtstag empfängt. Ich glaubte, jemand habe hier Geburtstag. Es kam aber ganz anders. Ein flotter, junger Herr in feinem Gesellschaftsanzug kam herein und sagte: »Entschuldigen Sie freundlichst, meine Braut wird gleich kommen.«
Ich war so bestürzt, weil ich immer ein älteres Ehepaar erwartete, daß ich gar nichts sagen konnte, sondern sehr rot wurde.
»Sie sind gewiß eine von den vielen Freundinnen meiner Braut, die alle kommen, ihr Glück zu wünschen, bitte nehmen Sie Platz.«
Mir war die Kehle wie zugeschnürt, ich brachte kein Wort heraus, sondern sah nur immer ängstlich nach der Tür, als müßte von daher meine Erlösung kommen. Bald wurde sie hastig aufgerissen, ein junges Mädchen in duftiger Kleidung stürzte herein, gerade auf mich los. »Was sagst du nun, Grete, das hättest du nicht gedacht!«
Plötzlich prallte sie zurück und ruft: »Verzeihen Sie, unser Mädchen sagte, es sei jemand gekommen, das müsse Fräulein Margarete Schmieder sein. Ein wenig Ähnlichkeit haben Sie, aber, Sie sind mir unbekannt.«
»Mein Name ist Mersburg, Anna Mersburg«, sagte ich beklommen. »Ich soll schöne Grüße von den Eltern bestellen und ob Herr und Frau Rat morgen abend eine Tasse Tee bei uns trinken möchten.«
»Meine Eltern? Kennen Sie meine Eltern?« fragte das junge Mädchen.
»Ich kenne sie nicht, aber die Eltern sind mit ihnen bekannt.« Das junge Mädchen sah ihren Verlobten an und sah aus, als ob sie herausplatzen möchte. »Sollen denn die Eltern allein kommen?« fragte sie ein wenig spitz.
Ich fühlte wieder, wie ich rot wurde, aber ich konnte mich nicht entsinnen, daß die Eltern etwas von einer Tochter gesagt hatten. Ich mochte die Frage nicht verneinen, um nicht unhöflich zu erscheinen, und war daher sehr erleichtert, daß ich der Antwort überhoben wurde durch den Eintritt einer älteren Dame, der ich nun noch einmal die Einladung der Eltern überbrachte.
Ich wurde wieder nach meinem Namen gefragt, wieder zeigte sich ein ungläubiges Lächeln auf dem breiten Gesicht der Mama, sie ging an die Tür und rief mit unmelodischer Stimme: »Papa, kennst du eine Familie Mersburg?«
Ein ziemlich beleibter Herr mit goldener Brille kam mit kurzem trippelndem Gang herein und sagte: »Ich habe wohl einmal einen Herrn Mersburg im Klub gesehen, kenne ihn aber kaum.«
»Denke nur, die Herrschaften laden uns zum Tee ein, zu morgen abend, das ist doch sehr merkwürdig.«
»Ja, sehr merkwürdig«, wiederholte der Papa mit der goldenen Brille. »Und wir beide sollen allein zu Hause bleiben«, hörte ich die Braut der Mama sagen.
Dann flüsterten alle vier miteinander, sie schienen Familienrat zu halten, während ich wie auf Kohlen stand. Das Ergebnis der Verhandlung war, daß die Frau des Hauses sich an mich wandte und sagte:
»Empfehlen Sie uns bitte Ihren Eltern und sagen Sie, daß es uns leid tue, der Einladung nicht folgen zu können, wir feierten morgen das Verlobungsfest unserer einzigen Tochter.«
Ich verbeugte mich und ging. Mit schnellen Schritten eilte ich nach Hause, mir war aber doch etwas unsicher zumute, ich hatte das Gefühl, als sei etwas nicht in Ordnung.
»Nun, hast du deine Einladung angebracht, mein Töchterchen?« fragte der Vater.
»Ja, aber das Brautpaar wunderte sich sehr, daß es nicht mit eingeladen war.«
»Brautpaar? Wo ist denn ein Brautpaar, Kind?«
»Nun, bei Timmes hat sich die Tochter verlobt, morgen feiern sie Verlobung, darum können sie nicht kommen.«
»Eine Tochter ist gar nicht da«, rief mein Vater. Sie haben nur einen Sohn, der auswärts studiert. Gänseblümchen, bist du wohl verkehrt gegangen? Hießen denn die Leute Timmes?«
»Das weiß ich nicht, aber Herr und Frau Rat nannte das Dienstmädchen sie auch.«
»Liebes Kind«, sagte Mutter ernst, »du hast wieder nicht aufgepaßt und die Hausnummer verwechselt, ich sagte dir, Vaters Freund wohne in Nummer elf.« Da kam es nun heraus, daß ich ein Haus weiter gegangen war, und Mutter wies mich an, sofort noch einmal zu gehen und mein Versehen gutzumachen.
Ich dachte bei mir, Friederike hätte wohl auch gehen können, aber ich kannte Mutter. Wenn wir etwas falsch gemacht haben, müssen wir es selbst wieder zurecht bringen, sei es, was es wolle. Der Vater schüttelte nur den Kopf und sagte traurig: »Gänseblümchen, Gänseblümchen!«
Das war mir peinlich. Wenn ich nur den Namen nicht behalte. Wenn ihn die Brüder erfahren, dann habe ich ihn fürs Leben weg. Dann bleibe ich ein Gänseblümchen bis an mein Grab.
Ich lief, was ich konnte, denn es war gleich Mittag, und es gab gerade ein Leibgericht. Dummerweise kam das Brautpaar eben aus dem Hause zwölf, als ich vorbeiging. Das junge Mädchen lächelte mich an und sagte: »Haben Sie hier gewartet, Fräulein?«
»Entschuldigen Sie«, stotterte ich verlegen, »Sie waren gar nicht gemeint.« Mit diesen Worten ging ich schnell in das rechte Haus. Nun kam ich wirklich zu Rat Timmes. Es stand der Name an der Tür, und als sie mich begrüßten, fühlte ich gleich, daß ich die rechten Leute getroffen hatte. Sie waren so lieb und gut, sagten, ich sehe meiner Mutter ähnlich, habe auch etwas vom Vater. Sie freuten sich, einen Abend bei uns zu verleben, und danach verabschiedete ich mich und eilte schnell nach Hause, um rechtzeitig zum Essen zu kommen. Meine kleinen Schwestern haben glücklicherweise nichts von der Geschichte erfahren, für sie muß ich mitunter Respektsperson sein, und dann ist es nicht gut, wenn sie wissen, daß ich noch Dummheiten machen kann.
Gundchen habe ich es erzählt. Sie ist meine Freundin, und wahren Freunden darf man seine Schwächen nicht verbergen. Es ist nur traurig, daß Gundchen so sehr zart ist. Sie kann nichts vertragen. Ich fragte sie kürzlich, woher es eigentlich komme. Da sagte sie: Schwächlich sei sie immer gewesen, von Geburt an, aber im vorigen Winter habe sie schon viel mitmachen sollen, da seien sie öfters spät nach Hause gekommen, dann habe sie nicht schlafen können. Nun habe der Arzt geboten, sie solle sich in diesem Winter ganz ruhig verhalten. Ihr sei es auch viel angenehmer; sie sitze lieber mit Kurt zusammen und lese mit ihm oder komme zu uns, um, wie sie es so gerne möchte, den Abend bei uns zu verbringen. Es sei so reizend in unserer Familie, sie wollte, daß sie auch so gemütlich miteinander leben könnten. Aber das ist wohl nicht möglich, Herr Wernigge ist zu wunderlich. Wunderlich ist wohl nicht der rechte Ausdruck, aber ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll. Ich fürchtete mich vor ihm, als ich ihn das erstemal sah, und dies Gefühl hat mich nicht verlassen. Erst kürzlich habe ich wieder recht Angst vor ihm gehabt.
Ich wollte Gundchen besuchen und klopfte an ihre Tür. Statt des sanften Herein, das ich so gerne höre, donnerte eine Stimme ein so fürchterliches »Herein«, so daß ich erschrocken zurückweichen will. »Wer ist da?« wird noch einmal mit Löwenstimme gerufen.
»Ich bin's«, sagte ich, indem ich die Tür halb öffnete und mich ein klein wenig sehen ließ. »So kommen Sie doch und zeigen Sie sich, wollen Sie mich zum Narren haben?«
Ich stand schon drinnen und zeigte mich in meiner ganzen Angst. Herr Wernigge saß in einer Sofaecke in seinem türkischen Schlafrock und fuhr sich mit seinen elfenbeinfarbenen Händen durch den schwarzen Lockenkopf, davon standen die Haare dann alle zu Berge. Das Gesicht war zinnoberrot; er schien sehr aufgeregt zu sein.
»Was wünschen Sie?« sagte er barsch.
»Ich möchte Gundchen besuchen«, sagte ich schüchtern.
»Sie sehen, sie ist nicht hier.« Ich machte eine Verbeugung und ging. Da öffnete sich drüben leise eine Tür und eine Hand winkte mir. Ich folgte dem Wink und als ich drinnen war, legte sich Gundchens Kopf auf meine Schulter; sie weinte bitterlich.
»Bleibe noch ein wenig bei mir, Annchen, der Vater war so sehr zornig.«
»Wo ist deine Mutter?«
Sie zeigte auf die Tür rechts und flüsterte: »Mutter will nicht gestört sein, ach Annchen, es hat einen großen Zank zwischen den Eltern gegeben, endlich ist der Vater in meine Stube gelaufen und die Mutter liegt auf dem Sofa und weint. Bei euch ist es viel schöner, ich wollte, ich könnte ganz bei euch sein.«
Ich tröstete sie damit, daß sie uns im Sommer besuchen müsse, und malte ihr das Leben bei uns schön aus, so daß sie schließlich ganz vergnügt wurde.
Ich mußte aber den ganzen Abend an das arme Gundchen denken. Wie traurig, wenn sich die Eltern zanken. Aber gewiß hat Herr Wernigge die meiste Schuld. Tante Lisa ist so liebenswürdig und gut. Mitunter allerdings habe ich sie auch schon verdrießlich und verstimmt gesehen, da bekommt das arme Gundchen Schelte, auch wenn sie nichts getan hat.
am 29. Januar
Ich kann mich nicht zur Ruhe legen, bevor ich das heutige traurige Ereignis berichtet habe. Kaum mag ich es glauben, und alle, die dies lesen, werden es auch nicht glauben mögen, daß Kurt tot ist. Es kam alles so schnell und unerwartet. Die arme Tante Lisa! Und mein armes Gundchen! Es ist mir unmöglich zu beschreiben, wie es sich zugetragen hat. Die Schreckensnachricht lähmt meine Glieder. Gundchen ist bei uns. Mutter und ich haben sie eben in meinem Schlafzimmer zur Ruhe gebracht; unter Weinen und Wehklagen ist sie eingeschlafen.