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am 20. Oktober
Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Ich glaubte selbst kaum, daß ich Gundchen so bald wiederfinden würde. Doch es ist wahr, und wo habe ich sie gefunden? Ich werde alles der Reihe nach erzählen. Gestern nachmittag waren wir drei Mädchen mit den Eltern in der Stadt gewesen. Als wir nach Hause kamen, setzten sich die Kleinen wieder an ihr Fenster, um die Straße in Augenschein zu nehmen. Arbeiten konnten sie noch nicht, da es anfing zu dämmern, so saßen sie denn an ihrem Lieblingsplatz und sahen sich die vorüberwandernde Welt an. Ich stand hinter ihnen und sah über ihre Köpfe weg. Da – auf einmal gewahre ich wieder die schlanke Dame mit dem jungen Mädchen und wieder ward es mir zur Gewißheit: »Das ist Gundchen und niemand anders.« Ich sah deutlich die beiden in das gegenüberliegende Haus gehen. Schnell holte ich meinen Hut, zog die Jacke an und eilte auf die Straße. Geduldig ging ich vor dem Hause, in dem die beiden Damen verschwunden waren, auf und ab in der Hoffnung, sie würden wieder herauskommen. Endlich währte mir die Sache doch zu lange. »Sie sind gewiß, während ich mir den Hut holte, wieder herausgekommen«, dachte ich und ging betrübt nach oben. Meine Mutter öffnete mir die Vorsaaltür und fragte verwundert: »Wo kommst du denn her?«
Ich erzählte ihr, daß ich Gundchen wiedergesehen habe, daß ich sie hätte abfangen wollen, daß sie mir jedoch abermals entschlüpft sei. Sie schüttelte den Kopf und meinte, das sei ein nutzloses Beginnen; wir wollten uns lieber ein Adreßbuch kommen lassen und sehen, ob der Name »Wernigge« darin zu finden sei.
»Du möchtest deine Freundin wohl gerne wiederfinden?«
»Ja, sehr gerne.«
Die Mutter streichelte mir die Wangen und sagte, sie gönne es mir. Sie habe in ihrer Jugend auch eine Freundin gehabt, Lisa Schwarz, und habe nie wieder etwas von ihr gehört. Das wußte ich, habe ja erst kürzlich das Haus gesehen, wo Lisa Schwarz mit ihren Eltern gewohnt hat. Daran dachte Mutter wohl gar nicht.
Wir gingen nun miteinander ins Wohnzimmer, wo Vater schon ganz behaglich bei der Lampe saß und Zeitungen las. Thildchen und Olga, die es sehr wichtig mit ihren Schularbeiten haben, schleppten große Mengen von Büchern heran und setzten sich an den Familientisch, um unter Mutters Aufsicht zu arbeiten. Ich sollte die Rolläden herunterlassen.
Als ich ans Fenster trete, ist der erste Stock des uns gegenüberliegenden Hauses hell erleuchtet. Ich sehe Gestalten, und als ich genauer hinschaue, entdecke ich wieder das junge Mädchen mit ihrer Mutter. Sie standen jetzt beide am Tisch und waren voll von der Lampe beleuchtet.
»Mutter!« jubelte ich laut, »ich habe sie!« Schnell sprang die Mutter auf, die kleinen Schwestern warfen ihre Bücher hin, alle kamen ans Fenster und wollten sehen, was ich Wunderbares entdeckt habe. Da kam das junge Mädchen von drüben plötzlich ans Fenster, zog die Zuggardinen zu, und nichts war mehr von ihnen zu sehen.
»Sie haben dein Hinüberlugen bemerkt«, sagte die Mutter vorwurfsvoll, »man soll den Nachbarn nicht in die Fenster sehen; das ist nicht schicklich.«
»Aber, Mutter«, rief ich, »es ist ja nur Gundchens wegen, alles andere ist mir gleichgültig.«
»Wir dürfen also annehmen, daß sie uns gegenüber wohnen, wenn das Ganze nicht noch auf einer Täuschung beruht«, sagte Mutter, »man wird dies ja aber sehr bald in Erfahrung bringen können und dann – ist ja dein Glück gemacht«, fügte sie lächelnd hinzu. Und ich jubelte immer wieder: »Ich habe sie, ich habe sie!«
»Was für Lärm macht denn die Älteste wieder?« rief der Vater.
»Ich weiß nicht, woher Annchen diese Lebendigkeit hat«, antwortete Mutter, »von mir gewiß nicht.«
»Dann muß sie's wohl von mir haben, Mutter, aber nun bitte ich mir Ruhe aus, ich möchte gern etwas lesen.«
Es wurde nun auch Ruhe; ich sah ein, daß die Schwestern ihre Arbeiten machen mußten, daß Vater seine Zeitung in Ruhe lesen mußte, so holte ich denn meine Arbeit und setzte mich ganz still zur Mutter, nur von Zeit zu Zeit drückte ich ihre Hand ganz fest und sie nickte mir freundlich zu. – Ich war so glücklich, daß ich lange nicht einschlafen konnte. Heute war ich schon beizeiten auf, ich eilte wieder ans Fenster, um unser Gegenüber zu prüfen. Drüben standen alle Fenster auf; jemand fegte, stäubte und schüttelte die Vorhänge aus. Von Gundchen war nichts zu sehen. Es war töricht von mir, so früh auf dem Posten zu erscheinen, aber es war wohl die unbestimmte Angst, ich möchte meine Freundin wieder verlieren. Doch die Pflicht rief, ich mußte um halb neun die Schwestern zur Schule begleiten.
Kaum war ich zurück, stand ich wieder am Fenster, um aufzupassen. »Aber Annchen«, sagte meine Mutter, und legte ihre Hand auf meine Schulter, »das Staubwischen ist dir übertragen, ich sehe, daß die Arbeit noch in keinem Zimmer getan ist.« Ich wurde ganz rot und ging, um mein Versäumnis nachzuholen, sandte jedoch immer verstohlen die Blicke nach den gegenüberliegenden Fenstern, die nun lange wieder geschlossen waren. Die Herrschaften schienen recht lange zu schlafen. Endlich, endlich wurde ein Kopf am Fenster sichtbar, aber dieser Kopf gefiel mir gar nicht. Ein bleiches Männergesicht mit dunklen, fast unheimlich großen Augen, schwarzem gelocktem Haar mit Künstlerfrisur, ein seidenes Tuch locker um den Hals geschlungen, eine schwarze Sammetjacke, das war, was ich feststellte.
Ich zog mich vom Fenster zurück und hatte keinen Mut, wieder hinzusehen. Auch stellte Mutter mich in der Küche an, die nach dem Hof zu liegt, so daß ich meine Neugierde bezähmen mußte. Kurz vor Tisch konnte ich es aber nicht unterlassen, noch einmal hinüberzuschauen, und jetzt wurde meine Standhaftigkeit belohnt. Da stand Gundchen, ja, sie war es, allein am Fenster und schien unsere Fenster zu mustern. Ich nickte krampfhaft, trommelte ans Fenster und – auf einmal erhob sie beide Arme wie in Überraschung und Freude und nickte wieder, immer wieder, so daß ich nun meiner Sache ganz gewiß war. Nun wurden die Eltern bestürmt, ihre Erlaubnis zum Hinübergehen zu geben; sie beratschlagten miteinander.
»Ich sehe keinen Grund, es ihr zu verweigern«, hörte ich Mutter sagen.
»Man kennt nur die Familie gar nicht«, wandte Vater ein.
»Sie sind immerhin unsere Nachbarn, und – wir sind ja nur einige Monate hier, wir dürfen ihr diese Freude nicht nehmen. Schließlich mache ich meinen Besuch dort und werde selbst sehen und prüfen«, entschied Mutter.
»Aber ich darf doch heute?« fragte ich erwartungsvoll.
»Nun, da laufe, Kleine«, rief der Vater, und ich hing an seinem Hals.
Kaum konnte ich die Nachmittagsstunde erwarten. Die Mutter trug mir auf, eine Empfehlung von ihr zu sagen, und sie würde sich erlauben, der Dame des Hauses in diesen Tagen einen Besuch zu machen.
Etwas beklommen war mir's doch, als ich das Haus betrat und die mit Teppichen belegte Treppe hinaufstieg. An der geschlossenen Vorsaaltür prangte der Name »Wernigge«. Ich klingelte leise, jemand öffnete.
»Ich möchte Fräulein Adelgund Wernigge einen Besuch machen.«
»Wen darf ich melden?«
Ich wollte gerade meinen Namen sagen, da wurde eine Tür geöffnet und Gundchen blickte neugierig heraus. Ich stürzte in ihre Arme. Sie rief: »Annchen, wo kommst du in aller Welt her?« Dann zog sie mich in die Stube mit den Worten: »Mutter, hier ist sie! Hier ist Anna Mersburg, meine Freundin vom Sommer her.«
Eine freundliche Dame reichte mir ihre weiße schmale Hand und sagte lächelnd: »Das ist also die kleine Freundin, von der Gundchen mir so viel erzählt hat.« Einen Augenblick ruhten ihre Augen forschend auf mir, als suche sie irgend etwas, dann sagte sie, als sie uns nebeneinander stehen sah: »Eine blonde und eine dunkle Freundin, es erinnert mich an die Zeit, da ich auch jung war.«
Ich mußte immer wieder Gundchens Mutter ansehen, sie hatte so etwas Freundliches.
»Gundchen«, sagte sie nach einer Weile, »geh doch mit deiner Freundin in dein Zimmer, es macht ihr gewiß Freude, dein Reich kennenzulernen.«
Es war mir ganz lieb, denn als wir eben hinausgehen wollten, wurde die Tür aufgerissen und ein langer, blasser Herr mit schwarzem Bart und schwarzen Augen trat ins Zimmer. »Mein Vater«, flüsterte Gundchen, indem sie mich aus dem Zimmer zog und die Tür zu einem andern öffnete, das das reizendste Mädchenstübchen war, das ich je gesehen habe. Wir setzten uns auf das kleine Sofa und freuten uns immer wieder, daß wir uns gefunden hatten. »Wie dumm«, sagte Gundchen, daß wir vergessen hatten, unsere Namen auszutauschen, ich hätte dir so gern einmal geschrieben.«
»Und ich dir«, rief ich.
»Wohnt ihr denn ganz hier?«
»Ja, wenigstens für ein paar Jahre; Vater ist Landschaftsmaler und hat Skizzen nach der Natur aufgenommen, die er nun groß ausführt. Er malt sehr schöne Bilder und hat schon oft Auszeichnungen bekommen.«
»Darf ich die Bilder sehen?« fragte ich.
»Ja, wenn der Vater einmal nicht da ist, führe ich dich in sein Atelier.«
Die Stunde, die mir zu bleiben erlaubt war, war so schnell vorbei. Ich bat Gundchen, mich auch zu besuchen, und fragte, ob ich mich von ihrer Mutter verabschieden dürfe. Sie wurde rot und sagte, sie glaube, der Vater wolle jetzt nicht gestört sein, sie wolle die Mutter rufen. Es war nicht nötig, denn Frau Wernigge kam gerade herein und brachte uns Obst. Da ich sagte, ich dürfe nicht länger bleiben, meinte sie, dann müsse ich mir wenigstens eine Birne mitnehmen. Sie suchte die größte und schönste aus und gab sie mir. Ich dankte sehr und empfahl mich.
»Ihr scheint euch ja sehr liebzuhaben«, sagte Frau Wernigge lächelnd. »Dann haltet nur Freundschaft miteinander, wie gut, daß wir Nachbarn sind. Empfiehl mich deiner Mutter unbekannterweise, liebes Kind.«
Das war ein schönes Erlebnis heute. Nun freue ich mich doppelt auf das Stadtleben. Ich kann täglich mit Gundchen zusammenkommen, und wenn unsere Mütter sich kennenlernen und sich vielleicht auch anfreunden, dann wird es erst recht schön.