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In Lisas eigenem kleinem behaglich eingerichtetem Zimmer saß Doktor Schwarz mit seiner Schwester. Es mußte wohl etwas Wichtiges verhandelt worden sein, denn sie sahen beide ernst aus, der Frohsinn, der sonst auf Ulrichs Stirn lagerte, hatte einem tiefen Ernst Raum gemacht.
»Lisa«, sagte er, »was ich habe, will ich dir auch diesmal opfern, aber lange kann es nicht so fortgehen. Ihr habt viel mehr als ich, der ich nur auf mein bestimmtes Lehrergehalt angewiesen bin, und doch willst du immer Geld von mir haben. Wenn ich deine feine Wohnung mit meinem einfachen Heim vergleiche, so muß ich mich wundern, daß du stets noch Geld von mir verlangst.
»Kann ich dafür, daß Arnold spielt, daß er nicht rechnen kann?«
»Dafür kannst du nicht. Aber nimm mir eine offene Aussprache nicht übel. Wozu die kostbare Weihnachtsbescherung, wozu die vielen überflüssigen Sachen, wozu die üppigen Gesellschaften, wie ich sie hier schon erlebt habe?«
»Du hast in dieser Zeit nicht viel dergleichen bei uns gesehen.«
»Da hast du recht. Ich muß dir sogar danken, daß du meinen Wunsch, öfter mit der Familie Mersburg zu verkehren, erfüllt hast. Ich möchte dich dringend bitten, dich immer fester an deine Jugendfreundin anzuschließen, von ihr kannst du viel lernen. Welch ein gesegnetes fröhliches Familienleben, erbaut auf echt christlichem gesundem Geist, herrscht dort. Die Familie Mersburg zählt zu den reichsten des Landes, man merkt den Wohlstand, aber welche Einfachheit, welche Gediegenheit in allem! Die Eltern haben das wahre Wohl ihrer Kinder im Auge, und bringen ihnen manches Opfer.«
»Wie meinst du das?«
»Daß sie oft, wenn es das Beste der Kinder bedingt, auf gesellschaftlichen Verkehr verzichten.«
»Das ist zuviel verlangt.«
»Ich sage nicht, daß du allen Verkehr aufgeben sollst, aber ein wenig mehr könntest du dich deinen Kindern widmen. Wie oft habe ich früher Kurt und Gundchen abends allein gefunden, als ich noch studierte und zuweilen bei euch war!«
»Ich habe nicht die Gabe, mit der Jugend zu verkehren, wie Maria sie hat.«
»Das ist es nicht, Lisa«, fuhr Ulrich ernst fort. »Du hast keine Lust, dich mit ihnen zu beschäftigen, weil du fast täglich in Gesellschaft gehst oder auf dem Sofa liegst und Romane liest. Du solltest dich mehr um deine Kinder kümmern, mit ihnen etwas Lehrhaftes, Gewinnbringendes lesen, fröhlich mit ihnen plaudern –«
»Zur Heiterkeit bin ich wahrlich nicht aufgelegt, wenn ich abends Gäste erwarte und keine Mittel habe, die Auslagen zu bestreiten.«
»Mußten denn die Einladungen heute sein? Wäre es nicht schöner gewesen, ihr hättet mit den Nachbarn drüben den Silvesterabend verlebt?«
»Mein Mann liebt den Verkehr mit Herrn Mersburg nicht. Und nun, Ulrich, predige mir nicht immer Moral. Wenn du mir nichts geben kannst, mußt du es bleibenlassen; es müssen Schulden gemacht werden, und Arnold muß sehen, wie er sich damit abfindet. Er hat früher viel mehr verdient, weil er fleißiger war. Jetzt ist er in eine Gesellschaft geraten, die ihn verderben wird.«
»Du hast mir doch gesagt, daß vor Weihnachten eine bedeutende Summe für ein Bild bekommen hat. Wie ist es möglich, daß nichts mehr da ist!«
»Immer dieselbe Frage, die du dir, wenn du willst, selbst beantworten kannst. Zu Weihnachten wird überall viel gebraucht, nun ja, da habe ich eine ziemliche Summe ausgegeben, aber ich ahnte ja nicht, daß Arnold alles andere Geld bereits vergeudet hatte.«
Ulrich schwieg eine Weile. Dann sagte er nur das eine Wort: »Traurig«, zog sein Portemonnaie, entnahm ihm einen Hundertmarkschein und sagte: »Das hatte ich mir erspart, wollte mir einige notwendige Möbel dafür anschaffen, nimm es, Lisa, es muß aber das Letzte sein, ich muß auch an die Zukunft denken. Versprich mir, daß du sparsam damit umgehen willst; ich gebe es nur, damit du keine Schulden machst. Schulden bringen sicheres Verderben.«
»Moralprediger«, rief Lisa, plötzlich heiter werdend. War sie aus der Geldklemme heraus, so verzogen sich die trüben Wolken schnell.
Ulrich stand mit einem Seufzer auf und wollte hinausgehen. Sie umfaßte ihn und sagte: »Bubi, sieh nicht so tragisch drein. Es ist ja alles nicht so schlimm.«
»Schlimmer als du denkst, Lisa. Es ist kein Segen bei euch, weil keine Gottesfurcht, kein Glaube da ist.« Damit verließ er das Zimmer.
Er klopfte bei Gundchen. »Herein«, riefen zwei fröhliche Mädchenstimmen. Anna und Gundchen standen zusammen vor dem Tisch, auf dem eine Menge schöner Spruchkarten ausgebreitet lagen.
»Sieh nur, Onkel Ulrich«, rief Gundchen, diese schönen Karten wollen wir an unsere Freundinnen schicken, um zum neuen Jahr Glück zu wünschen.«
Er wandte sich an Annchen und sagte freundlich: »Bekomme ich nicht auch eine?«
Anna wurde rot und sagte: »Sie gehören alle Gundchen.«
»Onkel, du kannst zwei bekommen«, rief die, »wir haben uns sie schon ausgesucht, diese beiden sind übrig.«
»Gut, die will ich nehmen und will sie mir aufheben zum Andenken an diese beiden Freundinnen, die immer treu zusammenhalten müssen. Merke dir nur die schönen Sprüche alle, Gundchen. Sind die Eltern zu Hause?« fragte er schnell, sich an Anna wendend, »ich möchte ihnen Lebewohl sagen!«
Annchen nickte.
»Von Ihnen muß ich mich wohl hier verabschieden. Gott behüte Sie.« Er reichte ihr die Hand und ging.
»Wie traurig sieht dein Onkel heute aus«, sagte sie.
»Er denkt schon an den Abschied, er hat uns alle sehr lieb«, entgegnete Gundchen.
»Er ist auch sehr gut«, sagte Annchen sinnend. Dann schrieben sie ihre Karten, und Onkel Ulrich ging hinüber ins andere Haus.
Doktor Schwarz traf nur Maria, die ihn freundlich empfing. »Nun, lieber Herr Doktor, soll's wieder heimwärts gehen?«
»Zunächst zu einer anderen Schwester, in deren Familie ich mich besonders wohl fühle. Sie lebt jedoch in bescheidenen Verhältnissen, und da die beiden Lehrerinnen bis heute da waren, konnte ich des Raumes wegen nicht früher einkehren. Ich werde jedoch meine beiden unverheirateten Schwestern noch begrüßen können.«
»Grüßen Sie sie, wenn sie sich meiner noch erinnern.«
»Sie werden es gewiß. Wir haben oft von Ihnen gesprochen, Frau Maria, und sie werden erfreut sein, wenn ich ihnen erzähle, daß ich Sie wiedergesehen habe.«
»Ich habe auch oft an Ihre Familie gedacht und was wohl aus allen geworden sei. Erzählen Sie mir doch von ihnen und den jüngeren Schwestern etwas.«
Ulrich erfüllte gerne diese Bitte. Er berichtete, wie sie in großer Einfachheit aufgewachsen seien, wie er durch des Onkels Güte, der ein treuer Vormund gewesen, habe studieren können, wie lange er im Schulfach tätig gewesen und eigentlich nun in ein Pfarramt habe gehen wollen. Er könne es aber noch nicht bestimmt sagen, da ihm gerade jetzt eine sehr vorteilhafte Stelle an dem Gymnasium einer größeren Stadt angeboten sei und er Freude am Unterrichten habe.
»Verkehren Ihre Schwestern nicht mit Wernigges?«
»Wenig«, war die Antwort. »Einesteils liegt es in der Entfernung und dann –«, er schwieg.
»Und dann?« Maria sah ihn ganz erwartungsvoll an.
»Muß ich es sagen, Frau Maria?«
»Ich bin Lisas Freundin.«
»Und haben Sie darum das Recht, eine Antwort auf Ihre Frage zu bekommen?«
»Halten Sie mich nicht für neugierig, Herr Doktor, glauben Sie mir, daß es wirklich Liebe und Teilnahme für Lisa ist, was mich diese Frage tun läßt.«
»Ich weiß es nur zu gut, deshalb sollen Sie auch eine Antwort haben. Es ist nicht alles bei Lisa, wie es sein sollte. Ahnen Sie etwas?«
»Lisa ist nicht glücklich.«
Ulrich nickte traurig. »Sie hat sich in der Wahl ihres Gatten übereilt. Sie hat weder den Segen Gottes noch den Segen der Mutter begehrt und muß es nun büßen.«
»Arme Lisa!«
»Ja, ich hätte ihr auch ein anderes Los gewünscht. Allerdings muß ich zugeben, daß sie auch nicht ist, wie sie sein müßte, aber eben, weil sie schwach und haltlos war, jedem Einfluß zugänglich, hätte sie einer festen Stütze bedurft. Ich glaube, an der Seite eines treuen, gottesfürchtigen Mannes wäre etwas ganz anderes aus ihr geworden.«
Maria nickte zustimmend und sagte traurig: »Hätte sie sich damals abraten lassen, wäre sie nicht mit den Damen nach Italien gegangen, vielleicht wäre alles anders geworden.«
»Darüber läßt sich nicht richten. Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen, aber die ganze Häuslichkeit ist nicht so, daß die Schwestern sich dort wohl fühlen. Mir selbst sagt der Schwager durchaus nicht zu; er ist ein tüchtiger Maler und in allem, was zu seinem Fach gehört, wohl bewandert, aber im übrigen ist er ein charakterloser Mensch, der sich von seinen Leidenschaften beherrschen läßt. Und Lisa ist leider nicht eine Natur, die einen guten, veredelnden Einfluß auf ihn ausübt. Sie leben nebeneinander, ein jedes seinen Neigungen folgend. Lisa ist leider nicht selbstlos genug, um ihren Kindern das zu sein, was sie müßte.«
»Und es sind gut veranlagte Kinder.«
»Kurt ist ein tüchtiger, fleißiger Junge mit guten Anlagen. Er ahnt das Mißverhältnis, das zwischen den Eltern herrscht, und fühlt sich bedrückt. Er merkt auch die Schwächen des Vaters und fühlt sich abgestoßen. Ich habe den Jungen lieb und möchte ihn am liebsten ganz herausnehmen. Adelgund ist eine weiche, anschmiegende Natur, ich freue mich, daß sie an Ihrer Tochter eine Freundin gefunden hat. Frau Maria, nehmen Sie sich meiner kleinen Nichte ferner an, ich bitte Sie darum.«
»Selbstverständlich. Wir haben schon geplant, daß sie im Sommer auf längere Zeit zu uns kommen soll; die Landluft wird sie stärken, und ich denke, das Leben bei uns wird ihr zusagen.«
»Wie mich das freut! Ich danke Ihnen. Es wird nicht nur für Gundchens Gesundheit, sondern auch für ihre innere Entwicklung von großem Segen sein.«
»Das gebe Gott. Sie sollten uns auch einmal in Grüneichen besuchen, Herr Doktor.«
»Wie gerne tue ich das«, rief der junge Mann sichtlich erfreut. »Wenn es mit der angebotenen Stelle etwas wird, werde ich nicht allzuweit von Ihrem Gut entfernt sein. Da kann es sein, daß ich mich einmal nach meiner Nichte umsehe, wenn Sie es erlauben. Ich muß mitunter bei den Kindern den Vater vertreten, er kümmert sich fast gar nicht um sie«, fügte er traurig hinzu.
»Wie gut habe ich's dagegen«, rief Frau Maria, »mein Mann unterstützt mich sehr bei der Kindererziehung. Arme Lisa!«
»Ja, die arme Schwester. Noch eins, bevor ich gehe, Frau Maria. Was ich gesprochen habe, bleibt unter uns. Ich hätte mich nicht so offen ausgesprochen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß Sie mein Vertrauen zu würdigen verstehen.«
Doktor Schwarz drückte seiner mütterlichen Freundin die Hand und wollte eben gehen, da trat Herr Mersburg ein und sagte lächelnd: »Ich störe wohl Erinnerungen aus alter Zeit.«
»Nein, Vater, durchaus nicht. Ich wünschte dich schon herbei, damit du Herrn Doktor Schwarz Lebewohl sagen könntest. Er verläßt uns heute.«
»Heute, zum Silvester! Wie schade. Sie hätten den Abend mit uns verleben müssen.«
»Und du willst noch einen Verbündeten mehr haben?« grollte Maria, »denn natürlich wird Herr Doktor Schwarz sich auf die Seite der Herren schlagen.«
Nun schüttelten sie sich die Hände, wünschten sich Gottes Segen zum neuen Jahr und trennten sich.
»Wie sonderbar«, sagte Herr Mersburg zu seiner Frau, »daß Doktor Schwarz gerade heute seine Verwandten verläßt.«
»Er liebt es nicht, den Silvesterabend in großer Gesellschaft zuzubringen, überdies hat er seinen andern Schwestern seinen Besuch zugesagt.«
»Ein liebenswürdiger Mann, dieser Doktor Schwarz. Es liegt wohl in der Familie. Frau Wernigge ist auch liebenswürdig, doch glaube ich, sie ist nicht immer gleichmäßig gestimmt, wie mein liebes Frauchen hier.«
»Ja, nun lobst du mich und bist doch oft recht unzufrieden mit mir.«
»Allzuviel Lob verdirbt«, sagte er und drückte ihr einen Kuß auf ihre Stirn. »Wenn ich Kopfschmerzen habe, dann kannst du mir freilich nichts recht machen, und doch – wen hätte ich wohl lieber um mich, als dich?«
»Nun dann versuch's im neuen Jahr nur weiter mit der alten Frau.«
Er zog sie an sich und erwiderte: »Und du habe im nächsten Jahr noch weiter Geduld mit deinem nervösen Mann.«