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Es war am 28. Mai morgens zehn Uhr, als ich meinem alten Vater nach einer schlecht verbrachten Nacht eben die vom Arzt verordnete Medizin reichte. Ich wußte, daß er nur mehr kurze Zeit zu leben hatte, denn sein Herzleiden machte rapide Fortschritte. Aus diesem Grunde wich ich Tag und Nacht nicht von seiner Seite und achtete besonders darauf, daß nichts seine Ruhe störte.
Um so erschrockener war ich daher, als plötzlich die Tür aufging und ein fremder Mensch mit dunkelbraunem Gesicht, verwitterten Zügen und grauem Vollbart ohne Anmeldung eintrat.
Ich kannte ihn nicht. Mein Vater aber warf nur einen Blick auf ihn und schrie auf:
»William! O – William …«
Es war in der Tat mein Bruder. Wir wußten zwar, daß er begnadigt worden war, erwarteten ihn aber erst eine Woche später.
Das Wiedersehen war erschütternd.
Was hatten fünfzehn Jahre, in einem mörderischen Klima unter Verbrechern verbracht, aus William gemacht! Ein Mann in den besten Jahren hatte uns verlassen – ein Greis kehrte wieder! Nur in den Augen leuchtete noch die junge Kraft eines ungebrochenen Willens.
Er war nur gekommen den Vater in fliegender Hast zu umarmen. Mit dem nächsten Zuge wollte er nach Dover …
»Noch ist die Zeit der Ruhe nicht gekommen für mich,« sagte er. »Erst wenn ich jenen unseligen Stein in die Hände seines rechtmäßigen Besitzers zurückgelegt und dadurch meine Ehre von dem schmählichen Flecken gereinigt habe, werde ich dem eben wieder angehören können.«
»Armer William,« seufzte mein Vater traurig, »was nützt dir die Gewißheit, in wessen Händen er ist! Schrieb ich dir nicht, wie viele Schritte ich insgeheim durch Agenten unternahm, um dem Obersten den Besitz des Steines nachzuweisen? Und alles vergebens. Er ist kein gewöhnlicher Dieb, der aus Eitelkeit oder Gewinnsucht stahl. Ihn beherrschte allein die wütende Gier des Sammlers, der nun sein Kleinod ängstlich vor aller Augen verborgen hält.«
William lächelte düster.
»Und doch werde ich es ihm entreißen mit List oder Gewalt! Mir ins Angesicht wird er nicht langer leugnen können. O, er ahnt nicht, wie zäh eine fünfzehnjährige Verzweiflung wachen kann.«
Wir erschraken.
»Was willst du tun? Doch nicht Gewalt anwenden?« sagte ich.
»Habe keine Sorge,« sagte er, »ich werde zuerst offen vor ihn hintreten und mein Recht fordern. Leugnet er, dann allerdings werde ich dieselbe List anwenden, die er mir gegenüber brauchte: ich werde ihm den Stein stehlen. Nicht umsonst habe ich fünfzehn Jahre lang alle Kniffe und Schliche der Zunftverbrecher um mich herum mit angehört … Ich werde ihn beobachten mit Argusaugen und wenn ich weiß, in welchem Teil des Hauses er seinen Schatz verborgen hält, so werde ich an die Arbeit gehen. Und ich schwöre, es soll kein Stein am andern bleiben, ehe ich den Raub nicht gesunden habe!«
Da sahen wir wohl, daß nichts imstande war, ihn aufzuhalten, und ließen ihn gehen – denn seine Sache war gerecht.
Drei Tage später lasen wir in der Zeitung von der Ermordung des Obersten, und einen Tag danach berichtete Lenke mir Richards Verhaftung. Der arme Junge, ich habe erst heute durch Lenke den mutmaßlichen Grund erfahren, der ihn bewog zu schweigen. Er ahnte nicht, daß, indem er eine Schuldlose zu decken glaubte, er seinen Oheim deckte.
Wir warteten in fieberhafter Spannung auf Williams Rückkehr. Er kam nicht. Dies veranlaßte uns zu der Annahme, daß er den Obersten in der Erregung erschossen, den Stein aber noch nicht aufgefunden habe.
In diesen Tagen schrieb ich jenen Brief an Sie, Miß Harriet. Ich hoffte so einerseits den kostbaren Stein durch Sie ans Tageslicht und in Sicherheit zu bringen, anderseits sollte durch Richards Haft und den auf ihm ruhenden Verdacht William Zeit gewinnen, sich in Sicherheit zu bringen.
Wie anders sich die Dinge hier abgespielt haben, konnte ich freilich nicht ahnen.«
Frank Tiersteiner zog ein umfangreiches, mit Bleistift geschriebenes Schreiben aus der Tasche und entfaltete es.
»Erst vor fünf Tagen erhielt ich das erste Lebenszeichen von William, worin er mir die Hergänge jener Nacht kurz schilderte. Hören Sie seinen Bericht selbst:
Lieber Bruder!
Ich schreibe dir aus der Wohnung einer Witwe Fernandel, Andergasse 6, wo ich seit 30. Mai krank daniederlag, die ich aber morgen schon verlassen werde, um in längstens drei bis vier Tagen bei Euch zu sein. Der blaue Diamant ist in meinen Händen! Ich trage ihn wohlverwahrt auf der Brust und werde keine Ruhe haben, bis ich ihn in Lord Hintons Hände gelegt habe.
Daß ich ihn erlangte, hing an einem Haar, wie du sogleich selbst hören wirst.
Mein Plan war, Henderson zu überraschen und ihm in der ersten Verwirrung das Eingeständnis des Diebstahls zu entreißen.
Dies gelang mir aller Erwarten glatt. Ich hatte mich am Abend des 30. Mai mit einem gutgearbeiteten Universalschlüssel, den ich mir bereits in Sidney durch einen wegen Mordes dorthin deportierten Schlosser hatte anfertigen lassen, an das Gartentor begeben, wo ich das Schloß leicht und geräuschlos aufsperrte.
Es war beinahe zehn Uhr. In einem der auf die Terrasse gehenden Fenster sah ich Licht. Die Fensterflügel standen offen, der Vorhang war herabgelassen. Ich schlich mich leise hin und konnte bald feststellen, daß der Mann, welcher drin pfeifend auf- und abging, der Oberst selbst war.
Ein Schwung – und ich stand im Zimmer dicht vor ihm. Er erkannte mich auf den ersten Blick und war so entsetzt, daß er keinen Laut heraus brachte. Sein aschfahles Gesicht und die unstet flackernden Augen allein sprachen deutlich genug von seinem nie ruhenden Schuldgefühl.
Ich hatte meinen Revolver herausgezogen und sagte nun: ›Ein Laut, Herr Oberst, und Sie haben aufgehört zu leben!‹
Er stierte mich einen Augenblick sprachlos an und griff dann mit einer instinktiven Bewegung nach einer am Tisch stehenden Handtasche, die er rasch hinter den Vorhängen seines Bettes verschwinden ließ.
Dieser Umstand fiel mir sofort auf.
Der Oberst hatte sich mir indessen wieder zugewandt und stammelte, immer noch bleich vor Entsetzen: ›Was wollen Sie? Sind Sie ein Mörder?
›Nein,‹ antwortete ich. ›Ich fordere nur Gerechtigkeit. Geben Sie den blauen Diamanten heraus, den Sie mir im Gasthause zu Kendal gestohlen haben!‹
›Den Diamanten … ich weiß nichts …‹
›Lügen Sie nicht, Herr Oberst, ich bin kein Mörder, aber bei Gott, Sie verlassen dieses Zimmer nicht eher, als bis ich Ihren Raub wieder in Händen habe!‹
War es die auf ihn gerichtete Mündung des Revolvers oder der Gedanke, daß Zeit gewinnen für ihn alles gewinnen hieß – genug, er änderte plötzlich seine Haltung und sagte ruhig: ›Es ist nicht nötig, zu solchen Gewaltmaßregeln zu greifen, da ich bereit bin, Ihr Verlangen zu erfüllen.‹
›Sie geben also zu, den Stein damals genommen zu haben?‹
›Ja. Es war aber kein gemeiner Raub, wie Sie sich auszudrücken beliebten, sondern einfach ein unwiderstehlicher Drang … Diesen Stein zu besitzen, war eine Zwangsvorstellung, die mich Tag und Nacht verfolgte, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Glauben Sie mir, daß ich lebhaft bedauert habe, Sie dadurch –‹
›Genug, lassen wir die Vergangenheit ruhen. Wo ist der Stein?‹
›Ich habe ihn in einer Bank deponiert. Morgen früh, wenn es Ihnen beliebt, will ich ihn holen und Ihnen übergeben.‹
Irgend etwas in seinem Ton oder Blick berührte mich mißtrauisch.
›Ich glaube Ihnen nicht! Sie haben den Stein hier bei sich im Hause.‹
›Nein – ich schwöre es! Bestimmen Sie selbst die Stunde für morgen früh. Ich will ihn in Ihrer Gegenwart beheben.‹
Ich zögerte immer noch. Er aber drängte. ›Ich werde Sie jetzt hinausgeleiten. Sie können nicht mehr verlangen, als ich bereits zusagte.‹
›Gut,‹ sagte ich endlich, ›ich gehe. Aber glauben Sie nicht, mich noch einmal betrügen zu können. Ein Bluthund kann nicht zäher auf ihrer Fährte sein, als ich es sein werde. Ihr Verderben will ich übrigens nicht. Wenn der Stein in meinen Händen ist, so überbringe ich ihn Lord Hinton und dann erst mache ich die Anzeige, welche notwendig ist, um meine Ehre wiederherzustellen. Sie haben so vier bis fünf Tage Zeit – nützen Sie dieselben!‹
›Ich werde sie nützen,‹ antwortete er mit klangloser Stimme.
Wir waren inzwischen im Park angelangt. Es war dunkel und still. Er ließ mir den Vortritt und schritt dann schweigend neben mir her. Ein unbestimmtes Mißtrauen veranlaßte mich, auf alle Fälle meinen Revolver schußbereit in der Hand zu behalten.
Als wir am Parktor angekommen waren und er bereits den Schlüssel ins Schloß steckte, wandte er sich nach mir um.
›Herr Oberst,‹ sagte ich, ›ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß ich mich nicht täuschen lassen werde. Sie hoffen vielleicht, mich morgen der Behörde als Erpresser zu übergeben, aber ich habe Ihr Geständnis –‹
›Du wirst es niemand mehr ausplaudern,‹ sagte er plötzlich und im selben Moment empfand ich einen brennenden Schmerz in der Brust.
Aber ich war fast auf etwas Ähnliches gefaßt gewesen – im nächsten Augenblick schoß ich meinen Revolver auf ihn ab. Er taumelte und stürzte mit einem röchelnden Laut in das Gebüsch, an dessen Rand wir standen.
Einen Augenblick stand ich regungslos wie betäubt. Totenstille ringsum. Nirgends regte sich etwas …
Da erst griff ich an meine Brust. Ein Dolch steckte beinahe bis an das Heft darin. Ich zog ihn heraus und verstopfte die Wunde, so gut es ging mit meinem Taschentuch. Schmerz fühlte ich keinen mehr. Nun wollte ich gehen – aber der Gedanke an den Stein ließ mich nicht los. Warum hatte er die Tasche vor mir verborgen? Wie wenn er das, was er als vollzogen vorgab, erst tun wollte – den Stein außer Haus deponieren?
Ich eilte ins Haus zurück und nahm die Tasche. Sie war versperrt, aber am Tisch lag ein Schlüsselbund –
Ich hatte mich nicht getäuscht: Unter ein paar gleichgültigen Gegenständen lag, in Seidenpapier gehüllt, das sternförmige Etui mit dem kostbaren Stein!
Mit wildklopfendem Herzen betrachtete ich einen Augenblick das unselige Gefunkel. Ja – er war es! Der echte Stein, der langgesuchte! Der Stein, der so viel Blut und Elend unter seinen Besitzern verschuldet hatte!
Nun lag auch sein letzter draußen im Dunkel der Nacht – tot um seinetwillen.
Ein Grauen packte mich plötzlich an. Ich schob das Etui in die Tasche und eilte wie gejagt von dannen. Im Haus und Park herrschte immer noch Totenstille. Offenbar hatte niemand den Schuß vernommen. Da – als ich eben im Begriff stand, das Parktor hinter mir zu schließen, fuhr ich entsetzt zusammen: Aus dem Gebüsch, in dem des Obersten Leiche lag, drang ein kicherndes Lachen.
Lebte er noch? Gibt es Gespenster die uns narren? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nie zuvor im Leben von einem so namenlosen Entsetzen geschüttelt wurde, wie in dieser Minute.
Das Tor offen lassend, rannte ich wie von Sinnen davon.
In der Nacht bekam ich Wundfieber. Die Wunde, welche nur wenig geblutet hatte, zeigte sich entzündet, und anstatt am nächsten Morgen, wie ich gewollt, abzureisen, mußte ich Frau Fernandel, bei der ich tags zuvor abgestiegen war, bitten, mir einen Arzt zu rufen. Ich nannte mich ihr und ihm gegenüber Stefan Hope, gab an, die Verletzung bei einem Wirtshausstreit erhalten zu haben, und bat, von einer Anzeige abzusehen, da ich so rasch als möglich abreisen müsse und außer mir ohnehin niemand zu Schaden gekommen sei.
Nun liege ich schon zwei Wochen hier, und die Wunde will immer noch nicht zuheilen. Jeden Abend stellt sich Fieber ein. Aber morgen reise ich doch. Lord Hinton muß endlich sein Eigentum wieder haben. Auch quält mich von Tag zu Tag lebhafter eine törichte Einbildung – du wirst lachen, Frank – – dennoch ist es so: Ich bilde mir ein, der unselige Stern, der bisher noch allen Unglück brachte, will auch mich vernichten, wenn ich mich seiner nicht entledige …
Übermorgen früh geht von Vlissingen die »Wilhelmina« ab, welche ich bereits auf der Herreise zur Überfahrt benutzte. Ich werde sie wieder benutzen. Am Nachmittag bin ich bei Euch und abends noch geht es nach Kendal weiter. Grüße Vater! Wie sehne ich mich, wenn alles glücklich vorüber ist, an der Seite des guten alten Mannes friedliche Stunden zu verleben!
Dein Bruder
William Beastrock.«
Frank Tiersteiner faltete das Schreiben wieder zusammen und steckte es ein.
»Dies ist die letzte Nachricht, die ich von meinem armen Bruder erhielt,« sagte er dumpf. »Mein Vater hat nicht einmal diese mehr erhalten, denn er war einige Stunden, ehe der Brief ankam, in meinen Armen verschieden.«