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Trübe und monoton wie jeder Tag hatte auch dieser für die zwei Häftlinge der »Intelligenzzelle« Nr. 28 begonnen.
Der eine, Richard Tiersteiner, sitzt schweigsam auf seinem Bett und sieht seinem Genossen, Karl Glaser, zu, einem wegen Betrugs in Untersuchung stehenden ehemaligen Kaufmann, der schon in der Zelle untergebracht war, als Tiersteiner eingeliefert wurde.
Glaser putzt mit löblichem Eifer an den Menageschalen herum, in welchen der Schließer beiden Häftlingen eine Viertelstunde zuvor das Frühstück gebracht hat.
Es ist dies seine tägliche Morgenbeschäftigung, obwohl er als Inwohner einer Intelligenzzelle durchaus nicht zur Verrichtung von Reinigungsarbeiten verpflichtet wäre.
Aber die Langeweile ist so gräßlich! Noch dazu neben einem so schweigsamen Genossen, der kaum auf das hinhört, was man ihm erzählt, geschweige denn selbst etwas zur Unterhaltung beitragen würde.
Immerhin ist es für Glaser ein Glück, mit Tiersteiner die Zelle zu teilen. Für letzteren wurde eine bedeutende Summe deponiert, damit er sich nicht nur selbst verköstigen, sondern auch sonst jede mögliche Erleichterung verschaffen könne. Großmütig hat er gleich vom ersten Tage an den Genossen dieses traurigen Aufenthaltes zur Teilnahme an diesen Vergünstigungen eingeladen.
Seitdem trinkt Glaser morgens Kaffee statt der üblichen Brennsuppe, ißt mittags mit Tiersteiner Braten und Mehlspeise und wird beinahe verschwenderisch mit Zigarren und Zigaretten versorgt.
Durch seinen unverwüstlichen Humor und große Gewandtheit im Erzählen sucht er zum Dank dafür Tiersteiner über die endlosen Stunden des Tages hinweg zu »unterhalten«.
Auch jetzt plaudert er fortwährend, ohne indes Richards Interesse durch seine Anekdoten zu erwecken.
Um neun Uhr erscheint der »Fazi«, ein dem Aufseher zur Gangreinigung angewiesener Sträfling, welcher auch die Bedienung der Zelle Nr. 28 besorgt.
Während er alles in Ordnung bringt, erzählt er dem gespannt zuhörenden Karl Glaser von seinen verschiedenen Aufenthalten in Stein, Garsten oder Suben, den drei großen Zuchthäusern, wo er alle Schliche kennt und »wie zu Hause« ist. Wie man dorthin transportiert wird, wie die Tageseinteilung ist, wie der Direktor, die Aufseher, der Seelsorger, wie man »Heu« hinein schmuggelt, um diesen auch als »schwarzes Geld« geschätzten Artikel zum eignen Vorteil anzuwenden, welche Kniffe man anwenden muß, um sich beliebt zu machen und möglichst viele Erleichterungen zu erlangen – der »Fazi Nr. 40« – im grauen Hause ist der Mensch nur mehr eine Nummer – weiß alles.
Bleich, aufgeregt, zuweilen mit einem listigen Schmunzeln um die dicken Lippen, horcht Karl Glaser zu. Wie gut, über all das informiert zu werden, denn man wird es brauchen …
Tiersteiner sitzt noch immer anscheinend teilnahmlos auf seinem Gurtenbett. Dabei läuft aber Schauer um Schauer über seinen Rücken.
In welcher Gesellschaft befindet er sich! Welche Zukunft liegt vor ihm! Wenn er an Harriet denkt, krampft namenlose Verzweiflung sein Herz zusammen. Wie mochte ihr jetzt zu Mute sein!!! Getrennt von ihm, schutzlos und verlassen auf unabsehbare Zeit – vielleicht für immer – der Qual ihrer Gedanken preisgegeben. Ohne Möglichkeit –
Oder hatten sie einander doch gefunden? Waren sie vereint geflohen irgend wohin ans Ende der Welt, wo niemand sie finden konnte?
Wenn er das gewußt hätte! Auf den Knien hätte er Gott gedankt und alles geduldig ertragen, was ihm noch vorbehalten war. Aber –
Der »Fazi« hatte das Zimmer verlassen gehabt und kehrte nun mit der täglichen Brotration für seine beiden Schützlinge zurück. Sein verschlagenes Gesicht trägt einen listig lächelnden Ausdruck. Mit dem Daumen über die Schulter deutend, sagte er leise: »Draußen steht ein »Frischg'fangter«, grad haben s' ihn gebracht von der Aufnahmspolizei. Mir scheint, mir kriegen da auf Nr. 28 ein' Zuwachs … die andern »Nobel-Zellen« sein schon alle voll und a seid's ihr bloß eurer zwei.«
Er hat kaum ausgesprochen, als die Tür geöffnet wird und der Aufseher wirklich »Zuwachs« bringt.
Ein alter Mann, mit unstätem Blick, der scheu und ängstlich herumblickt, höflich grüßt und sich dann seufzend auf einen Stuhl niederläßt.
Der Aufseher verschwindet wieder, den »Fazi« mit sich nehmend. Die drei sind allein.
Tiersteiner achtet auf den »Neuen« so wenig wie auf alles ringsum. Karl Glaser aber stürzt sich mit Fragen auf den Ankömmling – bringt er doch endlich Nachrichten aus der Außenwelt, die bisher wie tot gewesen ist für die beiden Häftlinge.
Erst stellt man sich gegenseitig vor. Der Neue heißt Salomon Lautenschläger und steht unter dem Verdacht der Wechselfälschung. »Aber ich bin unschuldig, meine Herren,« versichert er zuletzt scheinbar sorglos, »Sie werden sehen, ich bleibe nicht lange hier.«
Glaser lächelt malitiös.
Die alte Lektion, die jeder am ersten Tage hersagt …
Dann erkundigt er sich um tausend Dinge, die ihn interessieren. Herr Salomon antworte: auf alle Fragen, so gut er kann. Zuletzt wirft er einen neugierigen Blick auf den abwesend vor sich hinstarrenden Richard und frägt Glaser halblaut: »Der Herr steht wohl unter sehr schwerem Verdacht, weil er so traurig aussieht?«
»Es ist Herr Richard Tiersteiner, den man beschuldigt, einen englischen Obersten erschossen zu haben.«
»Wie – Tiersteiner!?« Herr Salomon springt bewegt auf und nähert sich Richard mit ausgestreckter Hand. »Armer junger Mann, dessen Schicksal ich mit der größten Teilnahme verfolgte – hier – also muß mich der Zufall mit Ihnen zusammenführen!!«
Zögernd legt Richard seine Hand in die des anderen.
»Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen schon je zuvor begegnet zu sein,« fragte er mit kühler Zurückhaltung, »und begreife nicht, wie Ihnen mein Schicksal Teilnahme –?«
»Aber ich kenne ja Ihren Vater! Ich wohne doch auch in Dornbach – habe den Obersten vom Sehen aus gekannt und seine schöne liebreizende Tochter Harriet –«
Richard zuckt bei Nennung dieses Namens zusammen. Dann sagte er hastig: »Wenn Sie Fräulein Henderson kennen, Herr –«
»Salomon Lautenschläger.«
»… Herr Lautenschläger, dann … Sie waren ja gestern noch frei – dann können Sie mir gewiß sagen, ob sie gesund ist und noch – in Monplaisir weilt?«
»Natürlich kann ich das, mein lieber Herr! Jawohl – sie ist ganz gesund und auch noch in Monplaisir. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber man sagte einmal, sie wolle abreisen. Dann hieß es wieder, die Polizei habe sie daran verhindert … es wird so viel getratscht, wie Sie wissen … nun, jedenfalls reiste sie nicht.«
Richard starrte stumm zu Boden.
»Nicht abgereist. Die Polizei hatte sie daran verhindert …«
Herr Salomon schlägt ihm ermunternd auf die Schulter.
»Nun Kopf hoch, junger Mann, seit gestern steht ja alles vorzüglich und Sie werden sich sicher schon heute oder morgen selbst von dem Wohlbefinden Fräulein Hendersons überzeugen können! Sie und ich – was wetten wir – atmen diese scheußliche Luft des grauen Hauses nicht lang!« Er lacht sorglos und heiter.
Richard hebt sprachlos den Kopf und starrt ihn fragend an.
»Seit gestern … vorzüglich? Was – meinen Sie,« stammelte er verwirrt.
Herr Salomon schlägt sich vor die Stirn.
»Ja so – Sie wissen ja noch nichts! In der Zelle gibt's keine Zeitungen! Aber ich habe es gelesen, gestern abend in den Abendblättern: Der Verdacht gegen Richard Tiersteiner zerfällt unerwartet in nichts!«
Ein Hoffnungsstrahl bricht aus Richards Augen.
»Erzählen Sie,« sagte er in fiebernder Ungeduld. »Was ist geschehen, daß man an meine Unschuld zu glauben beginnt?«
»Nun etwas sehr einfaches – man ist dem wahren Täter auf der Spur. Eigentlich ist es eine Täterin. Man hat ihre Spur im Park unzweifelhaft nachgewiesen: sie trug ein sandfarbenes Kleid, hat braunrotes Haar und ist eine Engländerin. Sie hält sich irgendwo in Ottakring verborgen, ihre Wohnung hat man allerdings noch nicht ausfindig gemacht, aber da die ganze Kriminalpolizei hinter ihr drein ist, wird es ja nicht mehr lange dauern – – –«
Er hält erschrocken inne. Während seiner Worte ist eine furchtbare Veränderung mit Richard vorgegangen. Kein Tropfen Blut scheint in dem kalkweißen Gesicht zu sein, die Augen sind weit aus den Höhlen getreten, die Hände wie im Krampf geballt.
»Um Gottes willen – was ist Ihnen?« ruft Herr Salomon erschrocken. »Ich hoffte – ich glaubte doch …«
Tiersteiner hatte sich erhoben.
»Lassen Sie mich,« sagte er rauh, »ich will allein sein mit meinen Gedanken.«
Und er beginnt wie ein wildes Tier im Käfig in der Zelle auf und ab zu gehen, ohne sich um die beiden anderen zu kümmern.
Die sehen sich sehr verdutzt an. Dann gleitet um Karl Glasers Lippen ein verständnisinniges schlaues Lächeln.
»Er hat auch behauptet unschuldig zu sein.« flüstert er Herrn Salomon zu. »Natürlich –! Aber bei einem Mord ist es doch verdammt peinlich, wenn's dann einem anderen an Hals und Kragen gehen soll. Gar, wenn sich's um ein Weib handelt!«
Mehr als eine Stunde hat Richard seine Wanderungen im Zimmer fortgesetzt. Jetzt bleibt er vor Herrn Salomon stehen und sieht ihn mit wildem Blick an. Seine Stimme ist immer noch rauh, ohne Klang, wie gebrochen, als er sagte: »Sie irren. Es war kein Weib im Spiel. Ich – ich ganz allein habe es getan!«
Herr Salomon sieht ihn ungläubig, fast mitleidig an. Da stürzt Richard an die Zellentür und trommelt mit beiden Fäusten wild darauf los.
»Aufseher! Aufseher!« hallte seine Stimme laut durch die Korridore des grauen Hauses.
Jemand eilt herbei. Das Schiebefenster an der Tür wird zurückgeschoben und des Schließers Gesicht erscheint im Rahmen derselben.
»Oho, was ist denn los hier, da ist wohl einer verrückt geworden?«
»Ich will zum Untersuchungsrichter geführt werden – sogleich! Melden Sie ihm, das; ich ein Geständnis zu machen habe!«
Richard Tiersteiner war in die Zelle zurückgebracht worden und lag apathisch auf seinem Bett. Er beantwortete keine Frage Glasers und hatte sein inzwischen gebrachtes Mittagessen bisher nicht berührt.
Herr Salomon war aber inzwischen zum Verhör abgeführt worden. »Gott sei Dank,« wie er beim Weggehen erklärte, »denn mehr brauche ich nicht, um die Mißverständnisse, welche meine Verhaftung herbeiführten, aufzuklären.«
Tatsächlich war er bis jetzt nicht wiedergekommen.
Drüben im Bureau Dr. Wasmuts hatte er gleich nach seinem Eintritt den grauen Bart und eine gleiche Perücke abgenommen, sich in einen Stuhl geworfen und lächelnd eine Prise genommen.
»Ich danke Ihnen, Wasmut, daß Sie mir erlaubten, die kleine Komödie zu spielen. Ich bin sehr zufrieden mit dem Erfolg, denn es kam alles so, wie ich erwartete,« sagte er nun.
Wasmut nickte.
»Sie haben Ihre Sache fein gemacht, lieber Hempel, die Maske war vorzüglich und der Erfolg auch. Ich hoffe nur, Sie zweifeln jetzt nicht mehr, daß wir doch den richtigen Vogel gefangen haben!?«
»Aber im Gegenteil – ich weiß jetzt, daß er so unschuldig ist, wie Sie und ich!«
»Bah, und sein Geständnis? Er erzählte doch den Vorgang mit allen Einzelheiten. Er saß im Park und der Oberst, welcher an diesem Abend auf ein Frauenzimmer wartete –«
»Ah, das hat er Ihnen erzählt? Hat er das Frauenzimmer nicht auch gesehen?«
»Ja, sie trug einen sandfarbenen Mantel und kaum war sie von dem Obersten eingelassen worden, so erblickte dieser Tiersteiner. Natürlich war er doppelt erbost über dessen unberechtigte Anwesenheit und stellte ihn hart zur Rede. Ein Wort gab das andere, beide waren heftig und als der Oberst Tiersteiner einen Elenden nannte, dem er seine Tochter niemals zur Frau geben werde – da schoß ihn der junge Mann nieder. Es war Totschlag, kein vorbedachter Mord –«
»Und das Frauenzimmer?«
»Hatte sich erschrocken gleich im Anfang des Streites davon gemacht, was nur natürlich ist! Sie weiß von nichts.«
»So – und Sie glauben das alles?«
»Selbstverständlich, da es psychologisch nur zu wahrscheinlich ist. Übrigens wer soll den Mord denn sonst begangen haben? Wissen Sie einen anderen Täter? Sie zweifeln immer, Sie lächeln, sind aber im übrigen geheimnisvoll zugeknöpft. Wenn Sie etwas anderes herausgebracht haben, warum sprechen Sie nicht?«
Hempel stand auf und griff nach seinem Hut.
»Bst – das ist wieder die Abrede! Wir wandeln doch auf getrennten Wegen und es wird sich ja zeigen, wer das – Ziel zuerst erreicht. Übrigens habe ich noch nichts »herausgebracht«, sondern bin noch immer beim Materialsuchen.«
Dr. Wasmut lachte.
»Ihren Scharfsinn in Ehren, lieber Silas, aber ich meine denn doch, wir hätten das Ziel schon erreicht und begreife nicht, welches Material Sie da noch zusammensuchen?«
»Dummheiten vielleicht,« schmunzelte Hempel, vergnügt eine Prise nehmend, »man wird eben alt, mein Bester, und es ist ein rechtes Glück, daß Sie in Brandner nun eine jüngere Kraft gefunden haben.«