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20. Kapitel.

Endlich blieb er vor Harriet stehen.

»Kommen wir zur Mordnacht. Wann und wodurch erhielten Sir die Gewißheit, daß Ihre Mutter das Verbrechen beging?«

»Durch folgende Umstände. In jener Nacht sollte die erste Zusammenkunft zwischen ihr und mir stattfinden –«

»Ah, Sie haben Ihre Mutter also bis jetzt überhaupt noch nicht gesehen?«

»Nein. Sie war die ersten Tage nach ihrer Ankunft leidend, auch war die Verständigung zwischen Richard und mir durch meines Vaters strenge Wachsamkeit sehr erschwert. Da er durchaus gegen die Verbindung war, unterlag jeder Schritt meinerseits einer Kontrolle, und es gelang uns nur schwer, einander brieflich das Nötigste mitzuteilen, nachdem Richard in der ersten Erregung über meiner Mutter Mitteilungen persönlich bei mir vorgesprochen hatte und dabei von meinem Vater gesehen wurde. Aus diesem Grunde wählten wir auch die Nachtstunden zu jener Zusammenkunft.«

»Und als sie hinkamen, fanden Sie nur – Jane Webster!«

»Ja. Woher wissen Sie –?«

»Ich erfuhr es. Erzählen Sie weiter. Welche Erklärungen gab Jane für die Abwesenheit Ihrer Mutter, die doch wußte, daß Sie kommen wollten?«

»Keine. Sie war ebenso bestürzt und ratlos wie wir. Meine Mutter war fortgegangen, ohne ihr ein Wort davon zu sagen. Jane wußte nur eines: daß es meine Mutter furchtbar beunruhigte, nicht einmal im Besitz ihres Trauscheines zu sein. Schon in den ersten Jahren ihrer Ehe wollte sie denselben wiederholt haben, aber mein Vater verweigerte dessen Herausgabe. »Ich weiß, was er beabsichtigt,« sagte sie damals oft zu Jane, »er will mich rechtlos machen vor der Welt. Ich soll keinen Beweis haben, daß ich seine Frau bin …«

Auch Jane war davon überzeugt.

Jetzt, wo sie mich endlich wieder in die Arme schließen sollte, beunruhigte sie dieser Gedanke immer mehr. »Ich habe nichts in Händen,« klagte sie, »wie soll mir Harriet glauben, daß ich wirklich ihre Mutter bin! Aber ich will hin zu ihm und ihn zwingen, mir meinen Trauschein wenigstens herauszugeben …«

Jane hatte alle Mühe, sie von diesem Schritt abzuhalten. Offenbar ließ aber der Gedanke meiner Mutter doch keine Ruhe und sie wollte ihn ausführen, ehe ich kam. Zweimal zuvor war sie bereits nachts heimlich am Parktor gewesen, konnte aber nicht eindringen. Damals wollte sie bloß mich sehen, wie sie Jane sagte. Diesmal aber war sie gewiß in der Absicht hingegangen, meinen Vater zu überrumpeln und ihn zur Herausgabe des Trauscheines zu zwingen. Wir trösteten uns schließlich damit, daß der Park ja doch versperrt war und sie bald unverrichteter Dinge zurückkehren würde. Jane war aber sehr beunruhigt, da meine Mutter einen Revolver mitgenommen hatte, den sie kurz vor Antritt der Reise gekauft hatte. »Wenn nur kein Unglück geschieht,« jammerte Jane, »sie ist so erbittert gegen ihn, und er wird sie brutal anlassen wie immer!«

So warteten wir bis Mitternacht. Als dann meine Mutter noch immer nicht da war, drängte ich, von angstvoller Unruhe erfaßt, selbst zur Heimkehr. Daß wir hier alles anscheinend in gewohnter Ordnung fanden, wissen Sie bereits. Ich glaubte meinen Vater schlafend. Aber am anderen Morgen, als man seine Leiche fand, da zweifelte ich keinen Moment – wer allein die Tat begangen haben konnte.«

Harriet schwieg, von tiefer Bewegung übermannt. Dann fuhr sie leiser fort: »Ihre Mitteilungen über die Frau, welche die Mauer überkletterte, brachte mir dann die traurige Gewißheit!«

»Es ist mir nur unbegreiflich, wie eine durch Leiden geschwächte Frau dieses gymnastische Kunststück zusammenbringen konnte!«

»O – haben Sie vergessen, daß Gwendoline White, ehe sie Mrs. Henderson wurde, die Tochter von Drahtseilkünstlern war? Gerade das raubte mir leider den letzten Zweifel. Meine Mutter wurde von ihrem dritten Lebensjahr an zur Equilibristin ausgebildet und soll Fabelhaftes darin geleistet haben.«

»Und der Stern Nr. 300? Wußte sie davon? Hatte sie Zeit, ihn zu nehmen? Welches Motiv bewog sie dazu?«

Harriet schüttelte heftig den Kopf.

»Es ist ganz ausgeschlossen, daß meine Mutter damit das geringste zu tun hat. Wenn dieser Stern Nr. 300 sich wirklich noch in meines Vaters Besitz befand, so haben andere Hände ihn entwendet. Vielleicht der entflohene Kammerdiener –«

»Nein, Friedrich Nebe nahm ihn nicht.«

»Dann weiß ich nicht, wo er ist. Keinesfalls kümmerte sich meine Mutter darum, die wohl aus Haß zur Mörderin, niemals aber zur Diebin werden konnte.«

»Und was soll jetzt geschehen?«

Harriet machte eine verzweifelte Gebärde.

»Ich weiß es nicht. Ich wollte meine Mutter retten und dann, wenn sie in Sicherheit war, die Wahrheit bekennen. Ich wußte, daß Richard schweigen und lieber alles über sich ergehen lassen würde, als den Lebensabend der Schwergeprüften zu einem so schrecklichen Ende führen werde. Aber wie konnte ich sie retten, da ich weder ihren Namen noch ihre Adresse wußte? Richard hatte mir nur gesagt, daß sie Janes Familiennamen angenommen habe … in jener Nacht achtete ich nur wenig auf meine Umgebung und dann – als ich sie suchen wollte …«

»Ich weiß, ich folgte heimlich auf jener Fahrt und sah, wie Sie enttäuscht und verzweifelt zurückkehrten. Immerhin dürfen Sie eines nicht vergessen: die Behörde wird und muß Richard Tiersteiner für den Schuldigen halten, so lange sie – die Wahrheit nicht kennt. Meine Pflicht verlangt –«

Harriet sank plötzlich mit gerungenen Händen vor Hempel in die Knie.

»Haben Sie Erbarmen! Es ist meine Mutter! Kann ich zusehen, wie sie ins Gefängnis wandert! Wie schrecklich auch das Verbrechen an sich ist – hat Gott selbst nicht durch die Hand der gequälten Frau – Gerechtigkeit geübt?«

Hempel hob sie bestürzt auf. »Fassen Sie sich, Fräulein Harriet! Was Sie verlangen, ist doch unmöglich! Wie könnte ich einen Unschuldigen büßen lassen für –«

»O, nur Zeit! Geben Sie mir nur Zeit – einen Tag lang – einen halben! Führen Sie mich zu meiner Mutter, überzeugen Sie sich selbst von der Wahrheit meiner Worte und – machen Sie die Anzeige erst – morgen. Mein Vater hat durch Geld so vieles gekonnt. Ich werde es auch können. Morgen früh wird keine Behörde mehr die unglückliche Frau finden können –. Sagten Sie denn nicht selbst früher, auch Sie hätten Menschlichkeit über die Gerechtigkeit gestellt?«

Silas Hempel war tief bewegt. Ja – das war ein Ausweg.

»Gut,« sagte er endlich, »ich will nicht, daß Sie mir noch einmal sagen, ich sei ein Henker. Ich werde mit Ihnen jetzt sogleich zu Ihrer Mutter fahren und Ihnen einen vollen Tag Zeit geben – wenn ich die untrügliche Gewißheit erlange, daß Mrs. Henderson wirklich geistig gesund ist. Denn andernfalls kann sie ohnehin nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wohl aber müßte man sie dann sofort wieder der Obhut ihres Bruders übergeben. Eine Irrsinnige entfliehen zu lassen, könnte ich vor meinem Gewissen nicht verantworten.«

Harriet drückte leidenschaftlich seine Hand, während ein Strahl heißer Dankbarkeit aus ihren Augen brach.

»Ich danke Ihnen – o, ich danke Ihnen, wie eine zu Tode Verzweifelte Ihrem Retter dankt«, murmelte sie.

Eine Viertelstunde später bestieg sie an Hempels Seite den Wagen, welcher sie zu ihrer Mutter bringen sollte.

Als sie die Dornbacher Straße hinabfuhren, ergriff Harriet plötzlich Hempels Hand und wies aufgeregt auf einen offenen, mit Koffern beladenen Wagen, welcher eben an ihnen vorüberfuhr.

»Richards Vater – der alte Herr Tiersteiner – sehen Sie nur – er ist also endlich zurück aus London!«

Hempel sah nunmehr einen alten Herrn mit grauen Bartkoteletten, der apathisch in den Kissen einer Equipage lag. Auf dem Bock neben dem Kutscher saß Herr Lenke.

»Nun, dann werden wir ja auch endlich erfahren, war hinter Herrn Frank Tiersteiners mysteriösem Brief steckt,« sagte er befriedigt. »Ich habe zwar nach London um Auskunft über ihn depeschiert, aber bis jetzt nur die Nachricht erhalten, daß er sich zur Zeit des Mordes unzweifelhaft in London befand.«

»Eines ist mir völlig unklar,« meinte Harriet kopfschüttelnd, »wie er überhaupt etwas über die Mordtat wissen kann, was nicht alle Welt weiß? Was meine Mutter tat, konnte doch kein Mensch voraussehen?!«

»Ich vermute, daß es sich bei Herrn Tiersteiner weniger um den Mord als um den Stern Nr. 300 handelt. Was er uns darüber zu sagen hat, darauf bin ich allerdings sehr gespannt.«

Der Wagen hielt vor dem Hause, in welchem Harriets Mutter wohnte.

Das junge Mädchen war so erregt, daß es wie im Fieber zitterte.

Als Hempel die Klingel an Frau Römers Wohnung in Bewegung setzte, murmelte Harriet bebend: »Endlich! Endlich werde ich meine Mutter sehen und an ihrer Brust ruhen dürfen!«

Ein Dienstmädchen öffnete, erklärte aber sofort auf die Frage nach den beiden englischen Damen, daß dieselben ausgegangen seien und wahrscheinlich erst spät am Abend wiederkehren würden.

Harriet lächelte schwach. Dann zog sie ihre Karte heraus und händigte sie dem verblüfften Mädchen ein.

Ich weiß, daß die Damen sonst für niemand zu Hause sind. Aber tragen Sie nur die Karte hinein, man wird mich gewiß empfangen.«

Wirklich erschien gleich darauf eine ältliche beleibte Person im Vorzimmer und trat bewegt auf Harriet zu.

»Jane Webster, die treueste Seele, welche je auf Erden gelebt hat,« sagte Harriet mit einer vorstellenden Handbewegung zu Hempel.

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