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»Eine Frau! O, eine … Frau! Wie kommen Sie auf diese Idee?« stammelte Harriet, sich endlich gewaltsam fassend.
Hempel sah, daß sie die Farbe unaufhörlich wechselte, und antwortete, Harriet fest anblickend:
»Es ist keine ›Idee‹, sondern eine Tatsache, für welche ich die Beweise in Händen habe.«
Diesmal stieß sie keinen Schrei aus. Im Gegenteil bemühte sie sich mit Aufbietung aller Kräfte, unbefangen zu erscheinen und ihre Kaltblütigkeit wieder zu erlangen.
Mit einem Lächeln, das zu harmlos aussah, um echt zu sein, sagte sie: »Wie – Sie hätten Beweise? Lassen Sie hören, Herr Hempel – Sie begreifen doch, daß mich eine so neue, ungewöhnliche Spur höchlich interessieren muß!«
Irgend etwas in ihrem Ton überzeugte den Detektiv, daß hinter den anscheinend nur von Neugierde diktierten Worten heimliche Angst lauere.
Zurückhaltend antwortete er: »Ich weiß bisher nur, daß die betreffende Frau rotbraunes Haar hat, ein sandfarbenes Kleid trug und mit unglaublicher Gewandtheit über die rückwärtige Mauer in den Park eindrang.«
»Über die Mauer?« lächelte Harriet ungläubig. »Das ist unmöglich! Sie täuschen sich gewiß … überhaupt welchen Grund sollte eine Frau gehabt haben … nein, die Annahme ist absurd!«
»Warum sollte eine Frau nicht ebensogut um die Existenz des Sternes Nr. 300 gewußt und nach dessen Besitz getrachtet haben?«
Stolze Entrüstung flammte plötzlich aus Harriets schwarzen Augen.
»Habgier? Raub?« rief sie rasch. »O, – das ist ganz ausgeschlossen, ich schwöre Ihnen, daß Sie sich täuschen! Nie hat …« sie stockte einen Moment, erschrocken über die eigene Heftigkeit, und schloß verwirrt: »Nie würde eine Frau einen Mord begehen aus gemeiner Habgier!«
Hempel lächelte ironisch.
»Verzeihung, Sie vergessen Mme. Brinvillier und hundert andere berühmte Mörderinnen. Es würde sich im Gegenteil nicht schwer beweisen lassen, daß fast hinter jedem Mord aus Habgier eine – Frau steckt.«
Harriet ließ den Kopf auf die Brust sinken und starrte einen Augenblick schweigend vor sich hin. Dann murmelte sie, den Detektiv unruhig anblickend: »Und werden Sie Ihre Entdeckung den Behörden mitteilen?«
»Nein. Wenigstens vorläufig noch nicht. Ich muß erst wissen, wer jene Frau ist.«
Sichtlich erleichtert atmete Harriet auf. Er fuhr indessen, sie scharf beobachtend, fort: »Vielleicht begehe ich damit ein Unrecht gegen Herrn Tiersteiner – der arme Junge? Er ist recht niedergeschlagen. Man ist so fest von seiner Schuld überzeugt, daß seine Lage momentan beinahe hoffnungslos aussieht.«
Harriets Augen weiteten sich in tödlicher Angst.
»Hoffnungslos? Wie ist dies möglich? Und Sie sagen – niedergeschlagen! Haben Sie ihn denn gesehen?«
»Ich wohnte heute morgen einem Verhör bei, das mit ihm vorgenommen wurde. Es verlief trostlos für ihn.«
»Erzählen Sie,« stieß Harriet rauh heraus, »ich verstehe nicht – wer könnte ihm beweisen, daß er an diesem schrecklichen Verbrechen schuldig wäre?«
»Haben Sie noch nie etwas von Indizien gehört, mein Fräulein? Nun denn – alle Indizien sprechen gegenwärtig nur gegen ihn. Man hat einen wertvollen Uhranhänger in seiner Tasche gefunden –«
Harriet prallte bestürzt zurück.
»In seiner – in Richards Tasche? O Gott, wie ist dies möglich?«
»Er behauptet, beim Verlassen des Parkes um Mitternacht darauf getreten zu sein, ihn in der Dunkelheit zu sich gesteckt und später nicht mehr daran gedacht zu haben. Das klingt sehr unwahrscheinlich, nicht wahr? Besonders da er sich über die Zeit von halbzehn bis gegen Mitternacht nicht ausweisen kann. Er will sie träumend auf einer Bank des Parkes verbracht haben … Dabei müßte er nun allerdings den verhängnisvollen Schuß unbedingt gehört haben, wovon der Richter auch felsenfest überzeugt ist. Ja, mehr noch – er ist überzeugt, daß Tiersteiner selbst und kein anderer ihn abgegeben hat. Ob meuchlings oder nach einem Streit, will er erst feststellen. Jedenfalls macht Tiersteiner ganz den Eindruck eines Schuldigen – darüber kann kein Zweifel bestehen.«
Harriets Züge verzerrten sich krampfhaft.
»Aber Sie? Sie glauben doch nicht etwa auch an seine Schuld? Sie, der Sie wissen, daß er sich gar nicht im Park befunden hat, als das Verbrechen geschah!« rief sie außer sich.
Hempel blieb scheinbar ganz unbewegt.
»Allerdings – Sie haben mir dies gesagt. Aber konnte Ihr Vater Ihr Weggehen nicht bemerkt und Ihnen bei der Rückkehr aufgelauert haben? Konnte Herr Tiersteiner, nachdem er Sie bis an das Haus begleitet hatte, auf dem Rückweg durch den Park nicht doch mit Ihrem Vater zusammengetroffen und in Streit geraten sein – oder hätten Sie sich schon beim Tor verabschiedet und dieses selbst hinter ihm versperrt?«
»Nein. Es war so dunkel, ich fürchtete mich und bat Richard, mich bis an die Terrasse zu begleiten. Dort gab ich ihm den Schlüssel zum Parktor mit –«
»Der nun zweifellos bei einer Haussuchung in der Villa Tiersteiner gefunden werden und einen neuen Verdachtsgrund gegen ihn bilden wird! Sie sehen, daß es sehr schlimm um ihn steht.«
Harriet rang die Hände in Verzweiflung.
»Aber Sie haben mir doch eben bewiesen, daß ein Diebstahl begangen wurde, daß nach dem Mord eine Person hier eingedrungen sein muß, daß … daß eine Frau …«
»Und wie, wenn Mord und Diebstahl nicht von ein und derselben Hand begangen wurden?«
»Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie von Richards Unschuld überzeugt sind!«
Hempel zuckte die Achseln.
»Ich glaube daran, weil der junge Mann mir nicht den Eindruck eines Mörders machte. Überzeugt von seiner Unschuld werde ich erst sein, wenn die Schuld einer anderen Person unzweifelhaft bewiesen ist. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich hier nicht als Mensch zu glauben, sondern als Detektiv zu beweisen habe. Was ich Ihnen übrigens im Verlaufe dieses Gespräches noch einmal vor Augen führen wollte, ist: Solange Richard Tiersteiner kein unantastbares Alibi für die Zeit des Mordes stellen kann oder – will, muß er notwendigerweise mindestens als stark verdächtig gelten.«
Harriet verstand die dringende Aufforderung, die in diesen Worten lag, nur zu wohl.
Ein Schauer lief durch ihren Körper und die Blässe ihres Gesichtes spielte ins Graue. Aber kein Zug darin veränderte sich. Stumm und verzweifelt starrte sie vor sich hin, bis Hempel nach einer Pause in trockenem Tone sagte: »Wenn es Ihnen genehm ist, könnten wir nun den Schreibtisch einer Durchsicht unterziehen.«
»Ich bin bereit,« murmelte sie zerstreut und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Sekretär nieder, während Hempel die vier Schubladen desselben aufsperrte und herauszog.
Keine der Laden förderte etwas von Belang zutage. Sie enthielten zumeist Rechnungen über die Anschaffungen für Monplaisir und über die einzelnen im Laufe der Jahre angekauften Gegenstände der Sammlungen.
In einer Abteilung befand sich eine Anzahl Zeitungsausschnitte, wie Hempel nach einem flüchtigen Blick feststellte, fast ausschließlich Beschreibungen berühmter Gold- oder Edelsteinobjekte.
Er legte sie beiseite, um sie später genauer durchzusehen, da es immerhin möglich war, darin eine Andeutung über den geheimnisvollen »Stern Nr. 300« zu finden.
In dem Mittelfach lag ein mit großer Genauigkeit geführtes Kontobuch, aus dem zu entnehmen war, daß des Obersten Vermögen, welches trotz der großen im Laufe der Zeit für die Sammlung verausgabten Summen noch etwas über eine Million betrug und in der Bank von England deponiert war.
Ein Makler, namens Frank Liveland, besorgte die damit verbundenen Geschäfte.
Nachdem alles durchgesehen und von Hempel mit Ausnahme der Zeitungsausschnitte, die er zurückbehielt, wieder an Ort und Stelle deponiert worden war, sagte Harriet, welche bisher zerstreut zugesehen hatte, plötzlich bitter:
»Nichts aus seiner persönlichen Vergangenheit hat er aufbewahrt! Nicht einmal seinen Trauschein. Es ist, als wolle er meine Mutter noch im Tode verleugnen vor der Welt …«
Hempel war so überrascht durch diese Worte, daß er zuerst keine Antwort fand.
»Was meinen Sie damit?« sagte er nach einer Pause endlich. »Hat Ihr Vater seine Frau denn verleugnet? Lebt sie etwa noch? Was wissen Sie von ihr?«
Harriets Gesicht nahm eine abweisende Miene an.
»Nein – sie lebt nicht mehr,« sagte sie langsam mit derselben Bitterkeit wie zuvor. »Und was ich von ihr weiß? Nichts. Ich habe sie nie gekannt und er hat nie von ihr gesprochen. Aber meinen Sie nicht, daß eine Frau sehr unglücklich gewesen sein muß, von der in ihres Mannes Gedächtnis nicht die allergeringste Erinnerung fortlebte?«
»Allerdings,« antwortete Hempel zögernd, »indessen …«
In diesem Augenblick ertönte die Lunchglocke.
Beide begaben sich in das Eßzimmer, welches in dem anderen Flügel lag. Unterwegs sagte Hempel kopfschüttelnd: »Viel sonderbarer berührte mich noch der Umstand, daß sich gar kein Bargeld in des Obersten Schreibtisch fand. Er trug zwar etwa 200 Pfund in seinem Portefeuille bei sich, aber sollte das sein ganzer Vorrat gewesen sein?«
Harriet antwortete nicht.
Sie blieb auch während des Essens zerstreut und wortkarg, so daß die Hofrätin und Hempel beinahe allein die Kosten der Unterhaltung trugen.
Indessen ging Harriets Bemerkung über ihre Mutter dem Detektiv immer mehr im Kopfe herum. Wenn nun Mrs. Henderson noch lebte – würden sich daraus nicht ganz neue Möglichkeiten ergeben?
Die Sache beschäftigte ihn so sehr, daß er zuletzt beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen, und gleich nach dem Lunch auf die englische Botschaft fuhr.
Glücklicherweise war der Botschafter zu Hause und bereit, ihn zu empfangen.
Er stellte dem Obersten, mit dem er mehrmals persönlich zusammengetroffen war, das beste Zeugnis aus. »Ein etwas verschlossener, steifer Mann, aber durchaus Gentleman, Neffe des Lord Hinton, mit dem er übrigens seit vielen Jahren, ohne daß man wußte warum, zerfallen ist. Ich sandte wiederholt Einladungen an Oberst Henderson, die er aber leider nie annahm. Er war ein bißchen menschenscheu, wie man sagt. Seine Sammlungen, welche weltberühmt sind, nahmen ihn ganz in Anspruch. Armer Mann! So zu enden?«
»Und seine Frau? Wissen Sie etwas über Mrs. Henderson?«
Der Botschafter machte ein erstauntes Gesicht.
»O – die ist doch lange tot,« sagte er mit kühler Geringschätzung.
»Wissen Sie das bestimmt, Mylord?«
»Aber gewiß! Der Oberst selbst erzählte es mir bei unserem ersten Zusammentreffen. Übrigens wußte ich es schon lange zuvor von anderen. Es wurde seinerzeit viel über diese Heirat gesprochen. – Unter uns – sie war eine Tingeltangel-Schönheit, die er aus irgend einem Varieté vom Fleck weg heiratete. Kurz darauf – ich glaube gleich nachdem sie ihrem Gatten eine Tochter geboren hatte – wurde sie wahnsinnig und mußte in eine Anstalt gebracht werden, wo sie wenige Monate später starb.«
Hempel gab sich noch immer nicht zufrieden.
»Es fand sich kein Totenschein darüber unter des Obersten Papieren,« bemerkte er.
»O, das ist doch nicht auffallend. Er kann verloren gegangen oder in der Anstalt auch bewahrt worden sein, wo sie starb. Da der Oberst nie mehr die Absicht hatte, sich wieder zu vermählen, hatte das Dokument schließlich für ihn nur geringen Wert. Ich glaube übrigens, daß er froh war, gar nicht mehr an seine Ehe, die sehr unglücklich gewesen sein soll, erinnert zu werden. Er ging dann für mehrere Jahre nach Indien, später reiste er und gründete erst hier, vermutlich weil seine Tochter inzwischen erwachsen war. wieder einen festen Haushalt. Jedenfalls können Sie sich darauf verlassen, daß Mrs. Henderson schon über fünfzehn Jahre tot ist.«
»Können Sie mir den Namen der Anstalt nennen, Mylord, in welcher sie starb?«
»Leider nicht. Indessen wenn Sie Gewicht darauf legen, kann ich denselben erfahren. Wünschen Sie, daß ich deshalb nach England schreibe?«
»Wenn Sie die Güte hätten, würde ich sehr dankbar sein.«
»Well. Dann, bitte, lassen Sie mir Ihre Adresse hier, damit ich Ihnen Nachricht zukommen lassen kann.«
Hempel schrieb seine Adresse auf und empfahl sich.
Er war abgespannt und enttäuscht. Einen Augenblick hatte er gehofft, einen Faden in Händen zu halten, der ihn endlich durch dies Labyrinth von Vermutungen und Möglichkeiten zu einem positiven Ziel führen könnte. Nach den so bestimmt abgegebenen Erklärungen des Botschafters mußte er ihn wieder fahren lassen.
Es war absurd, an einem Tod zu zweifeln, von dem ganz England wußte und der soeben sozusagen amtlich beglaubigt worden war. Nur die Gewohnheit, sich in jeder Sache unantastbare Beweise zu verschaffen, hatte Silas bestimmt, trotzdem noch um die Adresse der Anstalt zu fragen.
Und doch – wenn Mrs. Henderson lebte, wie vieles hätte sich erklären lassen! Vor allem Harriets rätselhafte Verschlossenheit.