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22. Kapitel.

Es war eine traurige Heimfahrt, welche Harriet und Silas Hempel zurücklegten. Beide schwiegen.

Harriet, noch ganz erfüllt von den niederschmetternden Aufklärungen, welche ihr Onkel gegeben hatte, konnte keinen andern Gefühlen Raum geben als dem trostloser Enttäuschung.

Sie, deren einsame, liebeleere Kindheit unbewußt nach den Zärtlichkeiten einer Mutter gedürstet, die sich dieses Wiedersehen, mochten die Verhältnisse es noch so ernst gestaltet haben, doch mit den glühendsten Farben ausgemalt hatte, fühlte sich nun ärmer und verlassener denn je zuvor.

Silas aber grübelte unablässig über den geheimnisvollen Mörder mit dem grauen Bart nach.

Frank Tiersteiner besaß einen solchen. Aber er war am 30. Mai abends noch in London gesehen worden. Ebenso an den folgenden Tagen. Sollte der Gewährsmann, der diese Auskunft erteilte, sich geirrt haben?

Dem stand entgegen, daß Tiersteiner, wenn er die Tat doch begangen hätte, sich durch den an Harriet geschriebenen Brief selbst verdächtig gemacht haben würde.

Hätte er da nicht lieber geschwiegen?

Freilich – er bat Harriet, den Brief keinesfalls der Behörde zu übergeben …

Der Wagen hielt an der Terrasse von Monplaisir.

Schweigend stieg Hempel an Harriets Seite die Treppe in das erste Stockwerk hinauf. Im Korridor kam ihnen die Hofrätin entgegen.

»Ach, da bist du ja, Liebste,« sagte sie, Hempels Gruß kurz erwidernd und etwas verblüfft über dies friedliche Beisammensein nach Harriets gestern unverhüllt zur Schau getragenen Abneigung gegen den Detektiv.

»Man erwartet dich schon sehnsüchtig im Salon, bitte, tritt gleich ein –«

»Mich?« fragte Harriet verwundert.

»Ja.« – Die Hofrätin beugte sich an Harriets Ohr, damit Hempel die Worte nicht verstehen sollte. »Der alte Herr Tiersteiner ist seit einer halben Stunde hier. Er kam heute aus London zurück und ist sogleich hierher geeilt. Ich will in den Park gehen, da ich annehme, daß du ihn lieber allein empfangen willst?«

»Ja, bitte, tu das, liebe, gute Alice,« antwortete Harriet hastig und neubelebt durch die Hoffnung, vielleicht endlich etwas zu erfahren, das Licht in das Dunkel über ihres Vaters Tod brachte. »Herr Hempel, darf ich bitten?«

Die Hofrätin war sprachlos. Ehe sie indessen ihrer Verwunderung Ausdruck geben konnte, drückte Harriet ihre Hand.

»Bitte, vergiß, was ich gestern zu Herrn Hempel sprach – er hat sich in Wahrheit als edler und treuer Freund erwiesen. Er muß unbedingt mit anhören, was Richards Vater mir zu sagen hat. Später werde ich dir alles erklären …«

Als Harriet an Hempels Seite den Salon betrat, erhob sich aus einem der Fauteuils die hochgewachsene, vornehme Gestalt eines alten Herrn mit grauen Bartkoteletten, der auf sie zukam.

»Fräulein Henderson, ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich mich nicht abweisen ließ, aber was ich Ihnen zu sagen habe, ist so wichtig –«

Er hielt inne und streifte Hempel mit einem nicht mißzuverstehenden Blick.

»Herr Silas Hempel, der so freundlich war, mir bisher in meinen Bemühungen, Richards Unschuld zu erweisen, behilflich zu sein,« sagte Harriet.

Tiersteiner verbeugte sich steif.

»Sehr erfreut, mein Herr – indessen bin ich in der Lage, diese Unschuld nun selbst völlig klar zu beweisen … Und sich wieder an Harriet wendend, fuhr er fort: »Ich bitte dringend, daß diese Unterredung ohne Zeugen stattfindet … und zwar in Ihrem eigensten Interesse!«

Harriet erblaßte und zögerte einen Augenblick. Dann aber sagte sie entschlossen:

»Nein. Ich habe keine Geheimnisse mehr vor Herrn Hempel und will keine haben! Was immer Sie zu sagen haben, ich wünsche, daß er Zeuge davon ist.«

»Wie Sie befehlen – es geschieht auf Ihre Verantwortung hin.«

Frank Tiersteiner ließ sich auf einen Stuhl Harriet gegenüber nieder, während Hempel sich ein Stück von ihm entfernt so auf ein Tabouret setzte, daß er das Licht im Rücken hatte und Tiersteiners Gesicht genau beobachten konnte.

Er war es auch, der zuerst das Wort ergriff.

»Ehe Sie Ihre Erklärungen beginnen, Herr Tiersteiner,« sagte er, »muß ich Ihnen mitteilen, daß sich jenes in Ihrem Brief erwähnte sternförmige Etui zwar im Besitz des ermordeten Oberst befand, seitdem aber spurlos verschwunden ist. Wie die Dinge jetzt liegen, können wir nur annehmen, daß es der Mörder mit sich nahm, und daß um dieses Gegenstandes willen allein der Mord begangen wurde!«

»Die letzte Aufnahme ist falsch. Ein Mord war nie beabsichtigt. Darin aber haben Sie recht – der Mann, welcher den Obersten erschoß, nahm das Etui an sich. Ich erfuhr dies erst vor drei Tagen …«

Harriet sowohl als Hempel hatten sich in höchster Erregung aufgerichtet und beinahe gleichzeitig ausgerufen: »Der Mann – Sie kennen ihn? Wer ist es?«

Frank Tiersteiner sah bewegt vor sich nieder.

»Ja – ich kenne ihn! Aber ehe ich Ihnen seinen Namen nenne, muß ich Ihnen die Geschichte jenes Gegenstandes berichten, der so unheilvolle Beziehungen zwischen Oberst Henderson und meiner Familie schuf. Wissen Sie, was jenes Etui enthielt?«

»Nein. Es war im Katalog nur als »Stern Nr. 300« bezeichnet und wurde ausschließlich in Geheimfächern aufbewahrt,« antwortete Hempel.

Tiersteiner nickte.

»Das war vorauszusehen – da kein fremdes Auge den berühmten blauen Diamanten, welcher sich seit mehr als zwei Jahrhunderten im Besitz der Familie Lord Hintons befand und rund den Wert einer Million repräsentiert, in Oberst Hendersons Sammlungen sehen durfte!«

Hempel war aufgesprungen.

»Wie – der blaue Diamant, den die Portugiesen nach Europa brachten und den Elisabeth von England später dem Kronschatz einverleibte?«

»Bis sie ihn in einer schwachen Stunde an einen ihrer Günstlinge verschenkte, aus dessen Händen er nach mancherlei Wanderungen endlich in die der Familie Hinton kam. Derselbe, mein Herr!«

Harriet fuhr sich verwirrt über die Stirn, auf welcher plötzlich Schweißperlen standen.

»Er war in meines Vaters Sammlungen … wie kam er dahin …? murmelte sie schwer atmend.

Tiersteiner ließ die Frage vorerst unbeantwortet und fuhr ernst fort: »Nicht bloß Menschen – auch Steine haben zuweilen ein Schicksal. Dieser blaue Diamant, dessen Licht bald so sanft und rein strahlt wie das Auge einer edlen Frau, bald dämonisch funkelnd bunte Farbengarben um sich wirft gleich einem unseligen Zauberwerk, hat sein Schicksal seit jeher mit blutigen Lettern aufgezeichnet. Jener Günstling Elisabeths endete, zwei Jahre nachdem das Kleinod in seinen Besitz gekommen war, auf dem Schaffot. Sein Erbe fiel durch räuberische Hand, als er nach Einziehung seiner übrigen Güter mit dem blauen Diamanten nach Frankreich entfliehen wollte. Fünfzehn Jahre später begab sich Lord Hinton, in dessen Besitz das Juwel inzwischen gekommen war, zu einem Fest an den königlichen Hof. Die wallenden Federn seines Baretts waren mit dem kostbaren Diamanten befestigt, dessen Gefunkel so zum ersten Mal wieder die königlichen Prunkräume treffen sollte. Aber an der Schwelle des Festsaales traf ihn der Dolch eines politischen Gegners, und sein Blut spritzte hoch auf bis an den Diamanten, dessen Gefunkel darüber erstarb.

Von da an hat kein Hinton das Juwel getragen, der nicht eines plötzlichen oder gewaltsamen Todes starb. Abergläubische Furcht bemächtigte sich der Besitzer, und Generationen hindurch wagte keiner, es öffentlich zu tragen, da es als Tatsache galt, daß der Stein seinem Besitzer nur so lange nicht verhängnisvoll wurde, als er verborgen in seinem Etui ruhte.

Bis dann der Vater des jetzigen Lords Hinton, ein aufgeklärter, jedem Aberglauben abholder Mann, den Stein in ein Diadem fassen ließ, das er seiner jungen Frau am Hochzeitstag als Brautgeschenk überreichte.«

»Ich erinnere mich, über jenes Hochzeitsfest gelesen zu haben. Die tragische Geschichte muß seiner Zeit großes Aufsehen gemacht haben, da sich noch in unseren Tagen ein Schriftsteller mit deren dichterischer Behandlung befaßte. So viel ich mich erinnere, war der Name Hinton zwar nicht genannt, aber die Geschichte des blauen Diamanten, wie Sie dieselbe soeben erzählten, in allen Einzelheiten wiedergegeben. Die junge Lady Hortensia Hinton starb, glaube ich –«

»Ja. Frisch und strahlend, ein Bild blühendster Gesundheit, trat sie, mit jenem Diadem geschmückt vor den Altar. Eine Stunde später, als man den Hochzeitskuchen anschnitt, erblaßte sie plötzlich und griff sich mit beiden Händen an die Stirn, während ein ächzender Seufzer ihren Lippen entfloh. Im nächsten Augenblick sank sie lautlos vom Stuhl. Die ganze Gesellschaft, allen voran der verzweifelte junge Gatte, bemühte sich um sie – aber vergebens. Ein rasch herbeigeholter Arzt konnte nur mehr ihren Tod feststellen. Er stellte einen Herzschlag fest, wofür auch die Sektion der Leiche den Beweis erbrachte. Lady Hortensia litt an einem Klappenfehler.

Aber die Welt ließ es sich nicht nehmen: Lady Hortensia war ein Opfer des blauen Diamanten geworden. Selbst der junge Gatte, auf den dieses Ereignis einen niederschmetternden Eindruck gemacht hatte, glaubte plötzlich daran, und hatte auf alle Vernunftsgründe nur die stereotype Antwort: ›Man mag sagen, was man will, ich weiß es doch – ich allein bin schuld an ihrem Tode, da ich jenes unheilvolle Juwel auf ihre Stirn setzte.‹

Man fürchtete lange Zeit für seinen Verstand. Erst an der Grenze seiner Jugend entschloß er sich zu einer zweiten Ehe, welche immer rein konventionell blieb. Lord Horace Hinton, der jetzige Besitzer von Rocky-land, ist sein Sohn.

Den Diamanten hat der alte Lord wieder aus jenem Diadem entfernen und in das ursprüngliche Etui zurücklegen lassen. Nie wieder, so lange er lebte, konnte er sich entschließen, einen Blick darauf zu werfen. Als er später durch ein schweres Rückenmarksleiden an das Bett gefesselt, seinem Sohn alle Güter übergab, befand sich der blaue Diamant nicht darunter.

Da jede Erwähnung desselben den alten Herrn erregte, wagte Lord Horace nicht, darum zu fragen.

Später, als nach dem Tode des Vaters auch der Lordstitel auf ihn überging, fühlte er die Verpflichtung in sich, dem Verbleib dieses so kostbaren Familieneigentums nachzuforschen. Noch ehe er aber einen Schritt in dieser Angelegenheit unternahm, ließ sich der Inhaber eines alten angesehenen Juwelengeschäftes bei ihm melden und übergab ihm einen Brief seines Vaters.

In diesem Briefe teilte der alte Lord seinem Sohne mit, daß er den blauen Diamanten, um jeder Versuchung der Seinen, den Stein zu tragen, vorzubeugen, bei jener Firma, deren Ehrenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ihn durch jahrelange Geschäftsverbindung bekannt sei, deponiert habe. Er gab auch an, wo sich der Depotschein unter seinen Papieren finde, und knüpfte die Bitte daran, Horace möge das Juwel vorläufig dort belassen, bis sich eine Gelegenheit fände, es wieder dem Schatz der königlichen Familie zuzuführen, dem es entstamme und wo es sich hoffentlich als weniger unheilvoll erweisen werde als im Besitz der Familie Hinton.«

Frank Tiersteiner machte eine Pause und fuhr sich, einen Seufzer unterdrückend, über die Stirn.

Dann schloß er leise: »Die Firma, welcher der Stein als Depot übergeben wurde, war einst von Allan Beastrock gegründet worden, befand sich seit nahezu hundert Jahren in den Händen dieser Familie, deren Ehrenhaftigkeit sprichwörtlich war. Mein Vater William Beastrock aber stand damals an der Spitze des Geschäftes, als der alte Lord Hinton sich entschloß, den blauen Diamanten dort zu deponieren.«

Eine schwüle Pause trat ein. Tiersteiner blickte verloren in sich hin, in Silas Hempel begann leise die Ahnung eines Zusammenhanges zu regen.

Wie eine lange düstere Allee, an deren Ende ein schwaches Lichtfünklein auftauchte, breiteten sich die Ereignisse der Vergangenheit vor ihm aus.

Das Licht – der blaue Diamant, dessen Wegspur mit Blut, Haß und Gewalt gezeichnet war.

Harriet hatte die Augen mit der Hand bedeckt. Schwerer und rascher noch als zuvor ging ihr Atem.

»Sprechen Sie weiter,« stieß sie rauh und atemlos heraus. »Mein Vater war ein Neffe Lord Horace Hintons – wenn dieser starb, wäre der Lordstitel und all sein Besitz in meines Vaters Hände übergegangen. Wie kam der fürchterliche Stein bei dessen Lebszeiten in meines Vaters Hände?«

Frank Tiersteiners klares, graues Auge ruhte mitleidig auf der liebreizenden Gestalt des jungen Mädchens, das sein Sohn liebte.

Dann atmete er tief auf.

»Dies ist der zweite Teil meiner Erzählung und damit beginnt auch die Tragik, welche der blaue Diamant über mein Haus brachte,« sagte er.

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