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18. Kapitel.

So blieb er regungslos im Gebüsch stehen und sah zu wie Mrs. Gwendoline das Gittertor wieder versperrte. Mit demselben Schlüssel offenbar versperrte, den sie dem toten Obersten am dreißigsten Mai abgenommen hatte.

Er – Hempel – trug ja auch einen Torschlüsse! in der Tasche und einen Wagen einzuholen war keine Sache, die ihm Sorge machte.

Er wartete geduldig, bis er den Wagenschlag draußen zuklappen hörte. Dann aber war er wie der Blitz am Tor, schloß auf und setzte dem in mäßigem Tempo davonrollenden Wagen in großen Sprüngen nach, bis er sich nach Art der Gassenjungen an der Rückseite auf die Achse schwingen und nun gemächlich weiter mitführen lassen konnte.

Wie er vorausgesetzt, ging die Fahrt nach Ottakring und dort die Degengasse hinab bis an eine schmale Seitengasse, in welche er einbog.

Vor einem einfachen, aber anständig aussehenden Haus blieb der Wagen stehen.

Während der Kutscher vom Bock sprang und den Damen beim Aussteigen behilflich war, hatte Hempel bereits die dunkle Ecke eines gegenüberliegenden Hauses erreicht, von welcher aus er beobachten konnte, wie Jane den Wagen verließ. ihre Herrin ein Stück die Straße hinaufführte und endlich an einem großen Miethause die Klingel in Bewegung setzte.

Er wartete, bis beide im Hause verschwunden waren, und klingelt dann den Portier noch einmal heraus.

»Wer sind die Damen, welche Sie soeben eingelassen haben?«

Der Portier riß die verschlafenen Augen weit auf und maß den Frager empört.

»Herr, Sie sind wohl nicht recht gescheit, daß Sie mich deshalb mitten in der Nacht heraussprengen? Was gehen Sie denn überhaupt die alten Schachteln an?«

Hempel zog ruhig seine Legitimation heraus, wies sie dem Hausbesorger vor und legte gleichzeitig eine Krone in dessen Hand.

»Antworten Sie gefälligst. Zum Spaß frage ich nicht!« sagte er, die Entschuldigungen des erschrockenen Portiers kurz abschneidend.

»Nun, Herr, viel mehr als im Meldezettel stand, weiß ich auch nicht. Sie heißen Jane und Gwendoline Webster –«

»Wie – beide heißen Webster?«

»Ja, es sind Schwestern. Jane ist die ältere, die kleine rundliche – sie bezahlt alles und die andere tut, was sie will. Sie haben vor drei Wochen bei der Witwe Römer oben im zweiten Stock Zimmer und Kabinett gemietet und scheinen sonst anständige Leute, bis –«

»Nun – bis?«

»Bis auf die seltsame Gewohnheit der Jüngeren, bei Nacht anstatt bei Tag spazieren zu gehen. Wäre sie jung und hübsch, so könnte man auf allerlei Gedanken kommen. So aber wird's wohl stimmen, was die Ältere sagte –«

»Was sagte sie denn?«

»Daß ihre Schwester eine englische Schriftstellerin sei, die das Wiener Nachtleben studieren wolle. Bei Tag arbeite sie – und abends verbinde sie dann Studienzwecke mit dem Spazierengehen. Die Alte sagte noch, sie habe immer Angst, wenn die Schwester so allein herumstreife, aber sie sei ein wenig eigensinnig und wolle nicht, daß man sie begleite. Ich glaube, sie rennt der Schwester auch einfach davon – wenigstens war dies einmal bestimmt der Fall.«

»Woraus schließen Sie dies?«

»Nun, da bekamen die beiden noch spät abends Besuch – ein junges Ehepaar oder so etwas. Fräulein Jane hatte schon am Nachmittag Blumen und allerhand andere Dinge eingekauft und zu Frau Römers Mädchen gesagt: Sie brauchen keinesfalls aufbleiben, Marie, wenn unsere Gäste kommen, ich werde ihnen selbst hinunterleuchten. Sie kommen spät, da sie sich auf der Durchreise befinden und die Zeit zwischen zwei Zügen bei uns verbringen wollen. Na, die zwei kamen auch wirklich gegen zehn Uhr, gerade als ich das Haustor schließen wollte. Den Herrn kannte ich übrigens, er war schon zuvor öfter bei den beiden gewesen. So wird das mit der Durchreise wohl nur ein Vorwand gewesen sein. Wahrscheinlich steckte 'ne Liebesaffäre dahinter –«

»Können Sie sich besinnen, an welchem Tage dies war?«

»O ja, ganz gut: Es war der dreißigste Mai, denn am übernächsten Morgen ging ich Zins einkassieren. Bei uns wird nämlich monatlich gezahlt.«

»Nun, was geschah damals?«

»Ja, da gab's eine furchtbare Aufregung, oben bei den Römers? Als der erwartete Besuch nämlich kam, stellte sich heraus, daß das junge Fräulein Webster inzwischen heimlich auf und davon gegangen war. Na, das war nicht schlecht, nicht wahr? Wenn man doch Besuch erwartet! Sie waren auch alle ganz weg! Das ganze Haus wurde befragt, ob niemand Miß Gwendoline gesehen habe – aber es wußte niemand etwas von ihr. Das junge Paar wartete fast zwei Stunden lang, dann ging es ganz aufgeregt fort. Fräulein Jane blieb händeringend beim Haustor stehen. Ich schlug schon vor, die Polizei zu verständigen, aber davon wollte Jane Webster nichts wissen, da kam die Ausreißerin plötzlich seelenvergnügt nach Hause.«

»Seelenvergnügt, wieso?«

»Nun, sie lachte eben sehr vergnügt und zeigte der Schwester einen Schlüssel. »Da schau,« kicherte sie – sie hat immer so ein kicherndes, verschmitztes Lachen – »jetzt habe ich den Schlüssel, jetzt kann ich immer hin, wenn ich will –« sie sagte das auf englisch, aber Frau Römer, welche englisch versteht und gerade zuvor herabgekommen war, um Jane zu beruhigen, hat es nachher meiner Frau erzählt. Die Jane sagte gar nichts, sondern sah ihre Schwester nur vorwurfsvoll an, was die aber nicht sonderlich kümmerte. Seitdem ist sie ihr noch ein oder zweimal entwischt – heute auch, aber da ist ihr die Jane gleich nach –«

»Wieviel Uhr war es damals, als sie am 30. Mai heimkehrte?«

»Mitternacht vorüber!«

»Und was ist diese Römer für eine Frau?«

»Eine sehr achtbare, solide Dame. Witwe eines Postbeamten. Sie hat meiner Frau öfter geklagt, daß ihr diese nächtlichen Ausflüge ihrer Mieterin sehr mißfielen und sie sie gewiß nicht behalten würde, wenn sie eben nicht so pünktlich und gut zahlen würden! Na, da sich jetzt gar die Polizei drum bekümmert, wird ja wohl auch nicht alles ganz sauber sein dabei und –«

»Hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage, Mann,« unterbrach Hempel die Rede des Hausbesorgers. »Weder die Damen noch Frau Römer oder sonst jemand im Hause dürfen erfahren, daß man sich bei Ihnen erkundigt hat. Ich werde morgen bei Tag wiederkommen, bis dahin lassen Sie nicht das Geringste merken, passen aber auf, daß keine der Engländerinnen das Haus verläßt. Sollten Sie irgendwelche Anstalten zur Abreise bemerken, haben Sie sofort den nächsten Wachtposten zu verständigen.«

»Ich verstehe. Aber was hat die Webster denn eigentlich angestellt?«

Hempel nahm eine abweisende Miene an. »Sich darum zu bekümmern, ist nicht Ihre Sache. Tun Sie genau, was ich Ihnen aufgetragen habe, sonst müßte man sich an Sie halten.«

Hempels nächster Weg galt dem Wachtposten, dem er, ohne weitere Erklärungen zu geben, auftrug, sofort zu intervenieren, falls ihn der Portier des bezeichneten Hauses von der beabsichtigten Abreise zweier Engländerinnen verständige.

Dann kehrte er langsam zu Fuß nach Monplaisir zurück.

Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum er die so lang und sehnsüchtig gesuchte Engländerin nicht sofort festgenommen hatte – er würde um die Antwort verlegen gewesen sein.

Konnte noch ein Zweifel darüber bestehen, daß sie den Mord an Oberst Henderson begangen hatte?

»Nein! Und doch konnte sich Silas nicht entschließen, den letzten entscheidenden Schritt zu tun, ehe er nicht mit Harriet gesprochen hatte.

Ihre Worte: »Sie sind ein Elender! Ein Henker!« ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Jetzt, wo er die Wahrheit ohne ihr Zutun erreicht zu haben glaubte, würde sie ihn endlich Rede stehen müssen. Der Täter war gefunden, aber das Tatmotiv lag nach wie vor im Dunkeln. Harriet, die es kannte, würde es ihm enthüllen, denn es gab für sie keinen Grund mehr, ferner zu schweigen.

Dann erst sollte die Gerechtigkeit ihren Weg nehmen.

Nie hatte Hempel die Frühstücksstunde sehnlicher erwartet, als am nächsten Morgen. Als sie aber endlich da war. deckte der neue Diener nicht wie sonst den Tisch auf der Terrasse für die beiden Damen, sondern antwortete auf Hempels Frage kurz, die Damen würden fortan alle Mahlzeiten auf ihrem Zimmer nehmen.

Ein bitteres Lächeln umspielte des Detektivs Lippen bei dieser Nachricht. Harriets Abneigung war also bitter ernst! Sie, die ihn zuerst gerufen hatte, wandte sich nun mißtrauisch und von Abscheu erfüllt von ihm ab.

Und doch hatte er nur seine Pflicht getan! Warum wollte sie das nicht begreifen?

»Melden Sie Fräulein Henderson, daß ich sie sofort in einer dringenden Angelegenheit sprechen muß,« sagte er zu dem Diener.

Schon nach fünf Minuten kehrte dieser mit der Antwort zurück: Das gnädige Fräulein lasse bedauern, aber sie sei nicht ganz wohl und könne keinerlei Besuche empfangen.

»Gut,« dachte Silas, »wir wollen sehen, was stärker ist: der Haß gegen mich oder die Angst um Fräulein Webster.«

Er begab sich auf sein Zimmer und schrieb auf eine Karte: »Sie wünschen also, daß ich die geheimnisvolle Engländerin, deren Namen und Wohnung ich diese Nacht ermittelt habe, verhaften lasse, ohne zuvor mit Ihnen Rücksprache zu nehmen?«

Kuvertiert und versiegelt übergab er das Briefchen dem Stubenmädchen, das eben im Begriff stand, den Damen die Morgenpost zu bringen.

Eine Minute später übergab der Diener auch ihm die soeben für ihn angekommenen Briefe.

Einer davon war aus Konstantinopel. Hempel öffnete ihn zuerst und las:

 

Werter Herr Hempel!

Sie sind mir in Monplaisir sehr lästig gewesen, aber es ist schließlich doch alles zu meinem Glück ausgeschlagen. Soeben habe ich hier in Konstantinopel vermöge meiner perfekten Kenntnis der englischen Sprache und sonstigen Gewandtheit die Stelle eines Reiseintendanten bei einem reichen Engländer angetreten, der über Persien nach Tibet will. Da wir die Reise in einer Stunde antreten und Ihre Legitimation dort gottlob keine Giltigkeit hat, so teile ich Ihnen dies ohne Sorgen mit. Der Hauptgrund meines Schreibens ist aber, Ihnen zu Gemüte zu führen, daß Sie sich in Ihrer Übergescheitheit in bezug auf mich doch eigentlich sehr – blamiert haben! Die ganze Zeit über haben Sie mich für den Mörder des Obersten gehalten, obwohl ich an dieser Sache so unschuldig bin wie ein neugeborenes Kind. Allerdings habe ich in jener Nacht nicht so ununterbrochen geschlafen, wie man annahm. Ich wachte nämlich durch den Schuß auf und hörte kurz darauf ein Geräusch im Hause. Dadurch mißtrauisch gemacht, kleidete ich mich an und ging, mit einem Licht versehen, hinab. In des Obersten Zimmer brannte noch das Gas. Auf dem Tisch lagen seine Schlüssel – von ihm selbst war keine Spur zu sehen. Bin ich zu verdammen, daß mich die Schlüssel momentan mehr interessierten, als alles andere? Ich war immer für die ausgleichende Gerechtigkeit in Bezug auf irdischen Besitz.

So öffnete ich denn zuerst den Schreibtisch, da die Goldsachen doch zu schwer anzubringen gewesen wären, ohne Verdacht zu erregen. Ich fand zweitausend Pfund, die ich beschlagnahmte. Dann sah ich mich um den Obersten um, konnte aber im Hause nichts von ihm entdecken. Ich löschte das Licht aus und ging in den Park hinab. Als ich mich dem Tor näherte, sah ich eine weibliche Gestalt in hellem Gewand dasselbe gerade von außen versperren. Sie zog den Schlüssel ab und huschte davon. »Aha,« dachte ich mir, »eine Liebschaft!« denn den Schlüssel konnte das Frauenzimmer doch nur vom Herrn selber haben. Nun rief ich zweimal halblaut! »Herr Oberst? Herr Oberst! …« aber es blieb verdammt still ringsum, so daß mir zuletzt unheimlich zumute wurde, besonders wenn ich an den Schuh dachte, der mich aufgeweckt hatte. Schließlich konnte er übrigens auch vor dem Frauenzimmer den Park verlassen haben … jedenfalls schien es mir klüger, wieder ins Bett zu gehen und den Morgen abzuwarten. Da kam mir die Angst, der Oberst könnte, wenn er das Fehlen des Geldes entdeckte, Lärm schlagen und mich in Verdacht nehmen. Ich eilte in mein Zimmer, siegelte die 2000 Pfund in ein Paketchen, nahm meinen Torschlüssel, versperrte nicht nur meine Zimmertür, sondern auch die Haustür und das Gartentor hinter mir und eilte in die »Blaue Katze«, um Poldi die Geschichte zur Aufbewahrung zu übergeben. Allerdings hatte ich das Versteck in der Zeugkammer, aber erstens war es mir dort nicht sicher genug und dann konnte ich es im Fall einer Flucht von Poldi leichter bekommen als in Monplaisir, wo ich oft stundenlang warten mußte, bis der Zugang frei wurde.

Um Mitternacht verließ ich das Haus, um ein Uhr kehrte ich zurück. Am Morgen fand man die Leiche des Obersten. Das war günstig in bezug auf das Geld, dessen Wegnahme man nun wahrscheinlich gar nicht entdecken würde. Aber es war sehr ungünstig für mich, wenn ich zugab, den Schuß gehört zu haben, in des Obersten Zimmer gewesen zu sein, ihn vermißt und nicht Lärm geschlagen zu haben. Also machte ich es wie die kleinen Käfer, die sich in der Gefahr tot stellen, und behauptete, die ganze Nacht über in tiefem Schlaf gelegen zu haben.

Wären Sie nicht gekommen, kein Mensch hätte mir im geringsten mißtraut, und ich hätte noch ein glänzendes Zeugnis mitbekommen. Na – ich kann jetzt ja leicht darauf verzichten! Daß den Obersten jenes Frauenzimmer erschossen hat, steht für mich fest, und Sie werden gut tun, unter seinen verlassenen Geliebten nach ihr zu forschen. Es war innerlich ein harter, rücksichtsloser Mann und wird, wenn ihm eine unbequem wurde, sicher nie viel Federlesens gemacht haben.

Sollten Sie mir nicht glauben, obwohl dies die reine heilige Wahrheit ist, so müssen Sie mich in Tibet aussuchen. Nur weiß ich leider nicht, wie die Städte dort heißen, und kann Ihnen daher keine nähere Adresse geben. Die zweitausend Pfund habe ich bei mir und will mir mit ihnen hier irgendwo eine neue Existenz gründen, denn Europa habe ich gründlich satt.

Mit Hochachtung – trotz Ihrer Blamage in bezug auf mich – ergebenst

Friedrich Rebe,
gelegentlich Albert Storch.

 

Welch ein Ausbund von Frechheit dieser Mensch ist, dachte Hempel, das Schreiben zusammenfaltend und in die Tasche steckend. Aber an der Glaubwürdigkeit seiner Angaben ist nicht zu zweifeln. In Sicherheit, wie er ist, hätte er ebensogut auch den Mord eingestehen können, wenn er ihn begangen hätte.

Also die Frau! Er hat sie gesehen. –

Ein schüchternes Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken. Er öffnete, und Harriet, blaß wie der Tod, stand vor ihm.

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