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8. Kapitel.

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Henderson, so gehen wir nun in Ihres Vaters Schlafzimmer. Ich möchte den Schreibtisch des Verstorbenen nur mit Ihnen gemeinschaftlich durchsuchen.«

Harriet war sofort bereit.

Unterwegs fragte sie, was es mit dem Kammerdiener für eine Bewandtnis habe. Hempel schüttelte ärgerlich den Kopf und erzählte, was er beobachtet hatte.

»Ich setze meine Hand zum Pfande, daß da nicht alles richtig ist, aber der ehrenwerte Herr Friedrich scheint sehr schlau zu sein, und es wird Zeit brauchen, ihm auf die Schliche zu kommen.«

Harriet blickte erschrocken auf. Die Bemerkungen der Hofrätin fielen ihr ein.

»Mein Gott, Sie denken doch nicht, daß … er etwa mit dem Morde –«

»Darüber kann ich heute noch nichts sagen. Jedenfalls hat er sich verdächtig gemacht. Aber ich muß Sie dringend bitten, ihn das durchaus nicht merken zu lassen.«

Sie waren in des Obersten Schlafzimmer angelangt. Das große, durch ein auf die Terrasse gehendes Doppelfenster erhellte Gemach war völlig mit einem kostbaren Smyrnateppich bedeckt.

In der Mitte unter dem Glaslüster stand ein ovaler Tisch, auf dessen grüner Plüschdecke die Reisedecke samt den paar danebenliegenden Gegenständen noch genau so stand, wie man sie am Morgen nach des Obersten Tod gefunden hatte.

Eine Anzahl behaglicher Sessel stand rings herum.

Quer vor dem Fenster befand sich der Schreibtisch, an dessen Rückseite eine Ottomane mit Tigerfellen und daneben ein indisches Tischchen mit einer kostbaren Rauchgarnitur.

Das Zimmer hatte nur einen Eingang, jenen nach dem Salon hin, von dem das Schlafzimmer durch zwei andere, offenbar nur als Durchgang benutzte Räume getrennt war.

Zwischen dieser Tür und dem Kamin stand das Bett. Alle übrigen Wandflächen waren für die hohen, geschnitzten Glasschränke bestimmt, hinter deren dicken Spiegelscheiben ein feines, aber äußerst solides Netz aus Stahldraht die kostbaren Gegenstände ebenso vor räuberischer Hand schützte wie die kunstvollen amerikanischen Schlösser, welche an den Schränken angebracht waren.

Im hellen Licht der Mittagssonne gleißten und funkelten all die Kannen, Krüge, Schüsseln, Körbe, Pokale, Büchsen und Taufbecken in märchenhaftem Glanz.

Harriet warf einen scheuen Blick auf die leuchtende Pracht und unterdrückte einen Seufzer.

Ach, all diese Dinge, deren Ankauf im Lauf der Jahre wohl Millionen verschlungen haben mochte, waren für sie stets nur ein Gegenstand bitteren Herzeleids gewesen.

Auch nicht annähernd so warm wie für seine Sammlungen hatte ihres Vaters Herz für sein einziges Kind geschlagen!

Hinter diesen Goldgegenständen und der Juwelensammlung, welche zu Füßen seines Bettes in einem kleinen mit Stahl ausgelegten Ebenholzschränkchen aufbewahrt wurde, hatte Harriet stets zurückstehen müssen. Sie hatte er mit der eifersüchtigen Angst eines Liebhabers bewacht, auf sie war er stolz gewesen, ihr hatte er den größten Teil seiner Zeit gewidmet, ja, sich oft stundenlang mit ihnen eingeschlossen, während sein Kind nicht einmal des Vaters Zimmer betreten sollte.

Hempel hatte den Seufzer, so leise er war, doch gehört, und blickte Harriet aus seinen blauen Augen warm an, als wolle er sie trösten. Da murmelte sie unwillkürlich bitter:

»Sie waren seine ganze Freude! Sie waren ihm alles im Leben!«

Er schob ihr einen der Fauteuils hin und nahm ihr gegenüber Platz.

»Ja,« sagte er, »die Sammlungen scheinen Ihres Vaters Leben nahezu ganz ausgefüllt zu haben. Er beschäftigte sich tagsüber mit ihnen und bewachte sie nachts. Ich fand kein anderes Buch in den drei Stuben, welche seine Wohnung bilden, als solche, die über Goldschmiedekunst, Edelsteine oder Antiquitäten handeln. Die Schubfächer, welche unten an jedem Schrank angebracht sind, sind angefüllt mit Verzeichnissen, die er unermüdlich anfertigte. Immer neue … immer peinlicher und sorgsamer ausgeführte. So oft er die geringste Veränderung in der Aufstellung seiner Schätze vornahm, machte er neue Verzeichnisse.«

»Welche Geduld dazu gehörte!«

»Ja – und welches Glück, daß er die alten Verzeichnisse dann nicht vernichtete, sondern aufhob! Ohne sie hätten wir noch lange im Dunkeln tappen können, ehe wir eine Spur des Motivs gefunden hätten, das aller Wahrscheinlichkeit nach den Mord veranlaßte.«

Harriet hob rasch, fast bestürzt den Kopf.

»Das Motiv – Sie glauben, es zu wissen?«

»Ja – aus den Verzeichnissen dort.« Er wies auf einen großen Pack sauber rubrizierter Bögen, die auf dem Schreibtisch lagen.

»Ich habe sie alle durchstudiert heute nacht, und an ihrer Hand den nahezu sicheren Beweis gefunden, daß ich mit meinen ersten Vermutungen recht hatte. Ohne die Verzeichnisse hätte ich den Beweis nicht finden können, denn jene Person hinterließ keinerlei Spur im Zimmer. Der dicke Teppich und das trockene Wetter draußen kamen ihr dabei sehr zu Hilfe. Mittels der Verzeichnisse habe ich aber auch feststellen können, daß die Aussage des Kammerdieners, es fehle nichts von den Sammlungen, unrichtig ist. Ob wissentlich oder unwissentlich wird uns erst die Zukunft lehren.«

Harriet, die sich vergeblich bemühte, einen Sinn in Hempels Worten zu entdecken, sah ihn verständnislos an.

Er ging an den Schreibtisch und holte die Verzeichnisse herüber.

»Bitte, sehen Sie sie durch – Bogen für Bogen – Sie brauchen die Namen der einzelnen Nummern nicht zu lesen, nur sich das Gesamtbild einzuprägen. Dann sagen Sie mit, ob Ihnen nichts auffiel.«

Harriet folgte schweigend seiner Aufforderung. Es waren dreihundertsiebzig Nummern verzeichnet, neben welchen die Namen der betreffenden Gegenstände, ihre Herkunft und der annähernde Wert angegeben waren. Nur bei einer Nummer fehlten diese Bemerkungen und an Stelle des Namens war ein kleiner, sorgfältig ausgezeichneter, sonnenartiger Stern angebracht.

Anfangs glitten Harriets Augen gleichgültig über die Rubriken. Dann wurde ihr Blick immer gespannter, und als Hempel den letzten Bogen vor sie hinlegte, blickte sie kopfschüttelnd zu ihm auf.

»Es ist sehr sonderbar – aber ich verstehe es wirklich nicht!?«

»Wollen Sie mir, bitte, ganz deutlich sagen, was Ihnen auffällt?«

»Nun – die Gegenstände sind schrankweise geordnet, so daß z. B. die Nummern 1 bis 100 im Schrank Nr. 1, jene bis 204 in Nr. 2, bis 300 in Nr. 3, die übrigen 70 Nummern, welche die Edelsteine umfassen, in dem kleinen Schrank Nr. 4 untergebracht sind. Aufstellungsänderungen fanden nur innerhalb desselben Schrankes statt und hätten füglich daher kaum ein neues Verzeichnis bedingt. Da ist aber Nr. 300 – bei der an Stelle der Erklärung nur das sonnenartige Sternchen ist, und – Nr. 70 …«

»Halt! Wie erklären Sie sich dies Zeichen anstatt jeder andern Erklärung?«

»Damit, daß der Gegenstand entweder sehr unbedeutend oder wertvoller als alle andern ist.«

»Ganz meine Ansicht. Das heißt, ich glaube das letztere.«

Harriet nickte nachdenklich.

»Sie mögen recht haben. Nur so ist es zu erklären, daß gerade dieser Gegenstand in allen Verzeichnissen die Nummer 300 behält im Gegensatz zu den andern, deren Nummern wechseln, und daß er allein bald in diesem, bald in jenem Schrank untergebracht wurde, so daß es fast scheint –«

»Als seien alle Umstellungen eigentlich nur seinethalben vorgenommen worden! So ist es in der Tat. Für seine Kostbarkeit spricht aber noch ein Umstand. Sie werden bemerken, daß in allen Verzeichnissen stets vor Nummer 300 ein goldenes Taufbecken steht, dessen Nummer »70« sich gleichfalls nicht verändert. Das fiel mir sofort auf und ich machte mich daran, die Ursache zu finden. Was glauben Sie, was ich entdeckte?«

»Nun?«

»Daß in den vier vorhandenen Schränken etwa zwölf bis dreizehn Geheimfächer angebracht sind, die von außen völlig unkenntlich, doch durch einen sehr einfachen Mechanismus – das Herausziehen eines scheinbar festsitzenden Nagels – zu öffnen sind. In diesen Geheimfächern befand sich abwechselnd Nummer 300. Sie begreifen, daß demnach der Gegenstand einen besonderen Wert besitzen mußte, denn laut den Verzeichnissen befand sich das goldene Taufbecken auf seinen Wanderungen ausschließlich über einem der geheimen Fächer.«

»Aber, mein Gott, wie haben Sie dies herausgebracht?«

»Sehr einfach – Nummer 300 war unauffindbar. Sie gaben mir die Schlüssel der Schränke, ich durchsuchte sie genau – Nummer 300 konnte ich nirgends finden. Da kam mir die Idee, Nummer 70, die immer daneben stand, könnte in Zusammenhang damit stehen, da auch hier die Nummerierung auffallenderweise immer gleich blieb. Ich suchte das goldene Taufbecken, fand es, und als ich es von seinem Standort entfernte, entdeckte ich sehr bald auch das genau darunter angebrachte Geheimfach. Zehn Minuten später konnte ich an allen in früheren Verzeichnissen angegebenen Standorten des Taufbeckens das Vorhandensein eines gleichen Faches feststellen.«

Harriet erhob sich erregt.

»So haben Sie Nummer 300 gefunden? Was ist es?«

Hempel seufzte.

»Wenn ich dies wüßte? Leider ist der »Stern Nummer 300« spurlos verschwunden, und ich glaube, nicht irre zu gehen, wenn ich in ihm das Motiv des Mordes vermute.«

Er trat an den Schreibtisch und zündete eine der dort stehenden Kerzen an. Dann zog er den ihm von Harriet übergebenen Schlüsselbund aus der Tasche, schloß den Schrank Nr. 2 auf und entfernte eines der zwei darin stehenden Taufbecken.

»Hier ist der Nagel, bitte, ziehen Sie ihn heraus!«

Harriet gehorchte, und sogleich schnellte lautlos ein Brettchen zurück, wodurch ein zehn Zentimeter im Geviert und fünf Zentimeter in der Tiefe messende Vertiefung sichtbar wurde.

Hempel leuchtete mit der Kerze hinein.

»Hier befand sich Nummer 300 zuletzt. Nun betrachten Sie den Hohlraum genau! Sie werden in dem feinen Holzstaub, den offenbar ein Bohrwurm verschuldete, deutlich die Umrisse eines bis vor kurzer Zeit hier aufbewahrten, sternenförmigen Etuis erkennen. Es muß sehr alt sein, denn heutzutage macht man so wunderliche Etuis nicht mehr.«

»Ich sehe es!« rief Harriet. »Wie merkwürdig! Es hat ganz dieselbe Form wie der Stern auf den Verzeichnissen …« sie richtete sich auf und fuhr sich verwirrt über die Stirn.

»Ach, das alles ist so seltsam! Unheimlich fast … diese ängstlichen Vorbereitungen bei der Aufbewahrung, und jetzt –«

»Ja – es ist seltsam.« Hempel schloß den Schrank wieder ab, nachdem er das Taufbecken an Ort und Stelle gebracht hatte. »Und damit komme ich zu einer Frage, Fräulein Henderson, die Sie mir beantworten sollen. War Ihr Vater immer so wunderlich geheimnisvoll in bezug auf seine Sammlungen, oder widmete er sich erst von einem bestimmten Zeitpunkt an denselben mit so leidenschaftlichem Eifer?«

»Darüber kann ich keine Auskunft geben. Ich wurde mit sieben Jahren in ein Schweizer Pensionat gebracht und dort erzogen. Als ich sechzehn Jahre alt war, kam mein Vater und teilte mir mit, daß er, der bisher teils auf Reisen gelebt, nach Wien übersiedeln und mich mit sich nehmen wolle. Das war vor sechs Jahren. Damals erst lernte ich meinen Vater, den ich bis dahin nur flüchtig gesehen hatte, kennen, und damals schon waren diese Sammlungen der Inhalt seines Lebens.«

»Verwandte besitzen Sie in England nicht mehr?«

»Ich weiß es nicht. Einmal, als Kind, war ich mit meiner Gouvernante und meinem Vater auf einem prächtig gelegenen Schloß in Nordengland. Ich erinnere mich dunkel eines stattlichen, älteren Herrn, den die Leute »Mylord« titulierten und ich Onkel Edward nennen mußte. Später erfuhr ich, daß es Lord Hinton war. Wir sollten ganz dort bleiben. Aber am dritten Tag hatte mein Vater mit ihm eine furchtbare Szene, und wir reisten sogleich ab. Danach verbot mir Vater, je wieder von jenem Onkel zu reden.«

Hempel hatte sich niedergesetzt und den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt.

»Rätsel – überall Rätsel,« murmelte er. Harriet ging unruhig im Gemach auf und nieder.

»Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie von all dem denken? Wenn der Stern Nummer 300 in dem Geheimfach war, wie konnte ein Fremder wissen –«

»Allem Anschein nach war er nicht mehr darin, als der Mord geschah. Ich denke mir die Sache so: Ihr Vater legte ganz besonderen Wert auf diesen Gegenstand und verbarg ihn mit so umständlicher Vorsicht, weil er entweder seinen Besitz überhaupt geheim halten wollte, um durch den hohen Wert desselben nicht Diebe anzulocken, oder weil er wußte, daß Personen lebten, die nach seinem Besitz trachteten. Durch irgend einen uns noch unbekannten Umstand glaubte er ihn nun trotz der getroffenen Vorsichtsmaßregeln in seinem Hause nicht mehr sicher und beabsichtigte, ihn einer Bank zu übergeben. Dafür spricht seine Unruhe am Tage des Mordes, der für acht Uhr bestellte Wagen und die so sorgfältig versperrte Reisetasche – denn um der zwei Taschentücher, die Zigarrentasche und der Handschuhe willen, die wir hier liegen sehen, nimmt man weder eine Reisetasche, noch versperrt man sie in der von Ihnen beschriebenen Weise –«

»Könnte er nicht auch Geld darin aufbewahrt haben?«

»Kaum. Ein Portefeuille mit Banknoten und eine Börse mit kleiner Münze fand sich in den Rocktaschen an der Leiche vor. Ich möchte fast schwören, er hatte den Stern Nr. 300 darin verpackt und beabsichtigt, ihn am nächsten Morgen an irgend einem sicheren Ort, als dieses einsame Haus ist, zu deponieren.«

»Ich verstehe. Der Mörder aber, der um dieses Gegenstandes willen meinen armen Vater erschoß und vielleicht ahnte, daß er ihn vor ihm in Sicherheit bringen wollte, brauchte nur mit den dem Toten abgenommenen Schlüsseln ins Haus zurückzukehren, die Reisetasche aufzusperren und –«

»Hatte ihn! Ganz richtig. Nur mit dem Unterschied, daß es kein Mörder, sondern eine Mörderin war,« vollendete Hempel.

Harriet taumelte mit einem Schrei zurück.

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