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In dieser Nacht schlief Hempel, da er die vorhergegangenen durchwacht hatte, wie erschlagen.
Dennoch war es ihm einmal, als entstünde irgendwo im Haus eine dumpfe Unruhe. Halb im Schlafe vernahm er schrilles Klingeln, danach Türen gehen und Stimmengemurmel, worauf es wieder still wurde.
Indessen war seine Müdigkeit zu groß, um diese nur im Halbbewußtsein vernommenen Geräusche zu klaren Wahrnehmungen werden zu lassen.
Erst als Herr Friedrich ihm das Frühstück brachte, erinnerte er sich daran. Es fiel ihm auf, daß der Kammerdiener bleicher war als sonst und nicht ganz so sicher wie bisher seine gemessene Würde aufrechterhalten konnte.
Etwas Unruhiges glitzerte zuweilen wie ein Funken in den kleinen gelben Augen Herrn Friedrichs auf.
Dennoch bemühte er sich, einen möglichst harmlosen, nichtssagenden Ausdruck festzuhalten.
Hempel tat erst, als merke er nichts, bis er dann plötzlich den Kammerdiener scharf ansehend fragte: »Nun, Friedrich, was hat es denn heute Nacht gegeben?«
Der Kammerdiener fuhr sichtlich erschrocken zusammen. Einen Moment lang überzog graue Blässe sein farbloses, glattrasiertes Gesicht. Dann antwortete er in arrogantem Ton: »Was soll es denn gegeben haben? Ich weiß nichts. Ich schlief von zehn bis sechs wie ein Sack in meinem Bett.«
»Sie könnten wirklich etwas höflicher antworten, wenn man eine harmlose Frage an Sie stellt,« sagte Hempel ruhig, »ich habe ja auch geschlafen, trotzdem aber gehört, daß man klingelte, und da ich annahm, da Sie heruntergegangen sein werden, um zu öffnen …«
»Ah, das meinen Sie? Nein, ich ging nicht hinab, sondern das Stubenmädchen, die Marietta …« unterbrach Friedrich Hempels Rede mit harmlosem Lächeln. Und plötzlich wieder ganz unbefangen, ja sogar höflich werdend, fuhr er fort: »Das gnädige Fräulein hat einen Expreßbrief bekommen, und darauf hätte ich nun beinahe ganz vergessen – sie läßt Sie ersuchen, gnädiger Herr, sobald als möglich zu ihr zu kommen.«
Hempels Augen ruhten immer noch unverwandt auf des Kammerdieners Gesicht.
»Gut. Ich werde sogleich hinübergehen. Aber sagen Sie mir einmal, Friedrich, was dachten Sie denn sonst, daß ich meinen könne?«
Ein treuherziges Lächeln erschien auf Friedrichs Gesicht.
»Ach – nichts natürlich! Sie dürfen mir meinen Ärger anfangs wirklich nicht verübeln, gnädiger Herr. Man kommt ja in diesem Hause jetzt vor lauter Fragen gar nicht zur Ruhe! Alle Augenblicke will jemand anderer etwas wissen. Und das Mißtrauen, das hinter all dieser Fragerei steckt, kann einem ehrlichen Menschen gewiß nicht gleichgültig sein … Da ist dieser Herr Bräuner, der jetzt wieder fortgesetzt hier herumschnüffelt und am liebsten herausbrächte, daß die gesamte Dienerschaft und sogar das gnädige Fräulein im Kreis herumstanden, als der arme Herr Oberst erschossen wurde –«
»Na, ja, beruhigen Sie sich nur,« schnitt Hempel anscheinend gerührt, den Redeschwall des sonst schweigsamen Dieners ab, »so schlimm wird es wohl nicht sein! Daß Sie nichts mit der Sache zu tun haben, daran wird wohl niemand zweifeln, der Sie kennt.«
»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr, für dieses Vertrauen! Seien Sie überzeugt, daß ein Mann, der zwanzig Jahre ehrlich diente und nie einen Heller veruntreute, obwohl oft Tausende seiner Obhut anvertraut waren, es auch verdient.«
Herr Friedrich war wieder ganz er selbst: würdevoll erhaben und selbstbewußt!
Hempel hatte inzwischen hastig seinen Kaffee getrunken und ein Brot dazu gegessen. Nun begab er sich in den Salon hinüber, wo Harriet sich bei seinem Eintritt erhob und ihm erregt entgegenkam.
»Da, lesen Sie – einen Brief von Richards Vater. Ich weiß wirklich nicht, was ich davon denken soll!?« sagte sie.
Hempel nahm das Schreiben, trat an eines der Fenster und begann aufmerksam zu lesen.
»Gnädiges Fräulein!
Soeben von dem schrecklichen Unglück benachrichtigt, das Sie betroffen, eile ich, Ihnen mein aufrichtigstes Beileid auszusprechen. Möge Gott Ihnen Kraft verleihen in diesen schweren Tagen, welche ihre Schatten in einer Weise, die ich brieflich nicht näher berühren möchte, auch über das Haus Beastrock Tiersteiner werfen.
Wie man mir mitteilt, wurde mein Sohn, welcher die Ehre hat, Ihnen persönlich näher zu stehen, unter dem Verdacht, die Tat begangen zu haben, verhaftet. Ich bitte Sie, sich deshalb in keiner Weise zu beunruhigen. Seine Unschuld zu beweisen, wird mir bei meiner Rückkehr nicht schwer fallen, und ich ersuche Sie, bis dahin keine Schritte zu seinen Gunsten zu tun, um so mehr, als ich Vorsorge getroffen habe, daß ihm alle während der Untersuchungshaft gestatteten Vergünstigungen zuteil werden.
In einer anderen Sache jedoch, die mir dringend am Herzen liegt, möchte ich um Ihre gütige Unterstützung bitten. In den Sammlungen Ihres Vaters befindet sich – wahrscheinlich sehr sorgsam geborgen – ein Gegenstand von außerordentlichem Wert, den ich Ihrer speziellen Obhut nicht dringend genug empfehlen kann, da Sie zweifellos in die Lage kommen werden, darüber Rechenschaft abzulegen. Lassen Sie ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen, oder besser noch, deponieren sie ihn in einem absolut sicheren Bankinstitut. Um dem, was ich Ihnen mündlich darüber zu sagen habe, nicht vorzugreifen, erwähne ich den seinerzeit leider zu trauriger Berühmtheit gekommenen Namen des Objektes nicht weiter, sondern beschränke mich darauf, Ihnen mitzuteilen, daß der Gegenstand sich in einem sternförmigen Etui befindet und in einem etwa vorhandenen offiziellen Katalog der Sammlungen bestimmt nicht angeführt.
Zum Schlusse möchte ich noch bemerken, daß es dringend in Ihrem eigenen Interesse gelegen wäre, den Behörden keinerlei Mitteilung von dieser Sache zu machen, die vor allem eine offene Aussprache zwischen Ihnen und mir erfordert. Erst dann können wir die Entscheidung treffen, welche Wege einzuschlagen sind, um Richards Entlastung zu veranlassen.
Glauben Sie mir, daß ich am liebsten Tag und Nacht reisen würde, um die Rätsel zu lösen, welche dieser Brief zweifellos in Ihnen erwecken muß. Aber mein alter Vater ringt seit Wochen mit dem Tode, und ich habe weder das Recht, noch den Mut, den armen Mann, welchen ein trauriges Schicksal ohnehin schwer genug getroffen hat, jetzt zu verlassen.
Genehmigen Sie den Ausdruck meiner aufrichtigen Hochachtung und Sympathie, und zweifeln Sie nicht, daß auf das wärmste mit Ihnen fühlt Ihr ergebener
Frank Tiersteiner.«
Hempel ließ das Blatt sinken und starrte schweigend vor sich hin.
»Nun – was sagen Sie dazu?« drängte Harriet ungeduldig. »Ich muß sagen, daß mich des alten Tiersteiners Gleichgültigkeit gegen das Schicksal seines Sohnes mit tiefstem Staunen, ja fast mit Empörung erfüllt!«
Hempel machte eine wegwerfende Gebärde.
»Ach, das! Begreifen Sie nicht, wie nebensächlich dies ist gegenüber zwei andern sehr merkwürdigen Umständen?«
Harriet blickte betroffen auf.
»Was meinen Sie?«
»Nun erstens ist es doch sonderbar, daß Herr Tiersteiner, der, wie Sie mir mitteilten, nur ein paarmal geschäftlich mit Ihrem Vater in Verbindung trat und mit ihm später sogar alle Beziehungen abbrach, um den Stern Nr. 300 weiß, den Oberst Henderson auf so umständliche Art aller Augen entzog!«
»Allerdings …«
»Zweitens: Läßt die ganze Art und Weise, wie er von seines Sohnes Verhaftung spricht und das Ersuchen stellt, nichts zu dessen Gunsten zu unternehmen, nicht den einzigen logischen Schluß zu, daß Tiersteiner senior selbst eine Person im Auge hat, die den Mord begangen hat und für die er Zeit gewinnen möchte?«
»O – wie könnte er wissen …« entfuhr es Harriet, die immer erregter wurde, unwillkürlich. Ruhiger setzte sie hinzu: »Ich meine, was kann ihm, der seit Wochen in London weilt, über die Mordtat und deren näheren Umstände bekannt sein?«
»Hm – wissen wir denn schon bestimmt, daß er sich zur Zeit der Mordtat selbst in London befunden hat? Was wir nach diesem Briefe positiv wissen, ist erstens, daß der Stern Nr. 300 ein Gegenstand von ungeheuerem Werte ist. Zweitens, daß er bei diesem Verbrechen eine Rolle spielt. Drittens, daß der alte Tiersteiner aus irgend einem Grunde völlig von der Unschuld seines Sohnes überzeugt ist. Endlich, daß Beziehungen bestanden haben müssen, über deren Natur wir derzeit noch ganz im Dunkeln tappen.
Dagegen wissen wir nicht, ob ein Gegenstand von so immensem, entweder tatsächlichem, oder Liebhaberwert nicht die Habgier eines Fachmannes reizen konnte. Freilich –« er fuhr sich nachdenklich über die Stirn – »eines stimmt dabei nicht. Er empfiehlt den Stern Nr. 300 Ihrer Fürsorge, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Täter oder der – Täterin geraubt wurde. Weiß er das nicht oder ist es nur eine Finte? Will er durch diesen Brief Zeit gewinnen, um das kostbare Gut in Sicherheit zu bringen?«
»Dann hätte er doch überhaupt nicht zu schreiben brauchen!«
»Dies scheint allerdings richtig. Immerhin enthält der Brief Dinge, denen ich unbedingt auf den Grund kommen muß. Er schreibt: ›Man hat mich benachrichtigt‹. Wer hat ihn benachrichtigt?«
»Vermutlich der alte Lenke, sein Portier, der schon bei Richards Großvater in Diensten stand und eine Art Vertrauensstelle im Hause Tiersteiner einnimmt.«
Hempel notierte sich den Namen.
»Wissen Sie vielleicht zufällig des alten Tiersteiner Adresse in London?«
»Nein.«
»Nun, Herr Lenke wird mir die Auskunft darüber wohl nicht verweigern können. Ich will mir den Mann heute noch ansehen. Man kann eine Sache schließlich ja auch durch Vertrauenspersonen besorgen lassen.«
Harriet wurde plötzlich unruhig.
»Sie werden doch nicht im Ernst den armen alten Lenke verdächtigen? Er ist ein Ehrenmann … er weiß bestimmt nichts.«
»Das werden wir ja sehen. Es ist meine Pflicht, keine Spur unbeachtet zu lassen.«
»Und was soll ich tun, wenn man mich nach dem Inhalt des Briefes befragt?« sagte Harriet nach einer Pause, beklommen aufseufzend. »Herr Brandner wird sicherlich durch die Dienstleute, die er fortwährend aushorcht, von der Sache erfahren.«
»Es ist am besten, Sie vernichten den Brief sofort und geben auf diesbezügliche Fragen an, es handle sich nur um ein privates Kondolenzschreiben.«
»Wird man mir das glauben?«
Hempel zuckte die Achseln.
»Vermutlich nicht. Aber man kann das Gegenteil ja nicht beweisen, und ehe wir nicht ganz klar sind über Herrn Tiersteiners Motive, empfiehlt sich Schweigen am besten. Der offiziellen Untersuchung erwächst kein Nachteil, da ich die Sache doch auf jeden Fall weiter verfolge.«
Am Nachmittag, als Hempel gerade auf dem Wege in die Dornbacher Straße war, um den Portier Lenke aufzusuchen, kam ihm Detektiv Gabler entgegen.«
»Ich wollte soeben zu Ihnen, Herr Hempel,« sagte der junge Mann. »Sie haben mir aufgetragen, den Kammerdiener Friedrich Nebe zu beobachten –«
»Ah – haben Sie etwas von Belang über den Mann erforscht?« unterbrach ihn Hempel interessiert.
»Allerdings. Friedrich Nebe war in der Nacht, als sein Herr ermordet wurde, durchaus nicht sanft und ahnungslos schlafend in seinem Bett, wie er glauben machen will, sondern erschien vielmehr kurz nach Mitternacht in einer kleinen verrufenen Schenke, wo seine Geliebte, eine gewisse Leopoldine Wampl, als Kellnerin bedienstet ist. Er hielt sich dort nur etwa eine Viertelstunde auf, während welcher er mit der Wampl in einer Ecke flüsterte und ihr zuletzt ein kleines Paket übergab. Diese Mitteilung verdanke ich einem seiner Nebenbuhler um die Gunst der »roten Poldi«. Über die Vergangenheit Nebes konnte ich noch keine Erkundigungen einziehen, da ich meine ganze Zeit darauf verwendete, ihn selbst zu beobachten.«
»Daran taten Sie sehr wohl. Die Vergangenheit kann man leicht durch die Polizei ermitteln lassen. Haben Sie sonst noch etwas herausgebracht?«
»Ja. Nebe ist in der erwähnten Schenke einigen Intimen auch unter dem Namen »Storch« bekannt –«
»Halt – stand nicht ein gewisser Albert Storch einmal im Vordergrund eines sensationellen Erbschaftsprozesses? So viel ich mich erinnere, wurde damals ein alter Sonderling plötzlich tot in seinem Bette aufgefunden. Man vermutete, daß er keines natürlichen Todes gestorben sei, und bezichtigte den Diener, welcher ein Testament zu seinen Gunsten vorwies, der Tat. Die Sachverständigen gaben ihr Gutachten auf Tod durch Herzlähmung ab, das Testament wurde von Verwandten des Alten angegriffen, denen dann auch die Erbschaft zufiel.«
»Ganz richtig. Albert Storch mußte wegen Mangels an Beweisen freigesprochen werden, verschwand dann spurlos, da der Verdacht der Testamentsfälschung immerhin auf ihn ruhen blieb. Ob nun Nebe und jener Albert Storch identisch sind, konnte ich, wie gesagt, bisher noch nicht ermitteln. Daß er sich aber mit lichtscheuen Dingen befaßt, ist außer Zweifel, denn ich beobachtete ihn vergangene Nacht, wie er abermals kurz nach Mitternacht das Haus verließ, um sich in jene Schenke zu begeben. Diesmal trat er jedoch nicht ein, sondern rief die rote Poldi durch einen Pfiff heraus. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber es scheint eine heftige Auseinandersetzung gegeben zu haben, denn Poldi kehrte weinend in die Schenke zurück.«
Gabler schwieg. Er wartete offenbar auf eine Äußerung Hempels, aber dieser starrte schweigend in die Luft.