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Richard Tiersteiner stand vor dem Untersuchungsrichter.
Wenn Wasmut gesagt hätte, der junge Mann biete das Bild eines Schuldigen, so hätte er nicht gelogen.
Die ursprünglich edlen Züge des Angeklagten waren verstört, in den sonst sonnig und heiter dreinblickenden braunen Augen flackerte ein unstätes Licht und das lockige Haar klebte wirr an der bleichen Stirne.
Silas Hempel, welcher an einem kleinen Seitentisch den Platz des Protokollführers eingenommen, während Brandner sich ganz in den Hintergrund des Zimmers zurückgezogen hatte, sah dies alles auf den ersten Blick.
»Armer Teufel,« dachte er, »du magst eine schöne Nacht hinter dir haben! Wenn dich die hübsche Harriet so sähe! Nun – nur Geduld!«
Aber nichts in Hempels Gesicht verriet diese Gedanken. Vielmehr war nur gespannte Neugier darauf zu lesen, als Wasmut nun das Verhör zu eröffnen begann.
»Ich habe Sie rufen lassen, Herr Tiersteiner, um noch einmal auf die Fragen zurückzukommen, welche ich Ihnen bereits heute nacht stellte. Es handelt sich um Ihr Alibi. Wo befanden Sie sich am 30. Mai zwischen zehn und elf Uhr abends?«
Kein Zug in des Angeklagten Gesicht veränderte sich.
»Ich glaube darauf bereits Antwort gegeben zu haben! Ich ging spazieren.«
»Ach – Sie beharren immer noch auf dieser lächerlichen Ausrede? Trotzdem der Gärtnerbursche von Monplaisir Sie im Park sah und erkannte?«
»Der Bursche muß sich getäuscht haben.«
»Nun dann will ich Ihnen ein anderes Zeugnis vorhalten, das ich bisher nur anzuführen unterließ, weil ich Ihnen Zeit geben wollte, selbst die Wahrheit zu sagen. Fräulein Henderson hat eingestanden, daß Sie sich während der fraglichen Zeit in ihrer Gesellschaft befanden und zwar –«
Ein Schrei unterbrach den Untersuchungsrichter. Unter allen Anzeichen maßlosen Schreckens war Richard Tiersteiner bis an den Tisch des Richters vorgestürzt und rief fassungslos: »Das hat Harriet – o Gott – haben Sie sie denn auch verhaftet?«
»Nein. Dazu lag bisher keine Veranlassung vor. Umsoweniger, als Fräulein Henderson ja weniger halsstarrig war als Sie – und freiwillig eingestand, daß Sie sich bei ihr in ihrem Zimmer befanden.«
Es lag etwas lauerndes in Ton und Blick des Richters, aber der Angeklagte achtete nicht darauf.
Sichtlich erleichtert aufatmend, trat er zurück.
»Ah – dies hat sie Ihnen gesagt?« rief er in völlig verändertem Tone, weltmännisch – fast heiter, daß Wasmut und Brandner ihn sprachlos vor Überraschung anstarrten. »Arme Harriet – sie will ihren Ruf opfern, um mir ein Alibi zu verschaffen! Aber Sie, Herr Untersuchungsrichter, sind ein viel zu erfahrener Menschenkenner, um diese rührende Selbstverleugnung auch nur einen Moment zu glauben, nicht wahr?«
Wasmut war immer noch sichtlich verblüfft über den jähen Stimmungswechsel seines Gefangenen.
»In der Tat,« sagte er kopfschüttelnd, »Fräulein Henderson macht nicht den Eindruck … ich faßte ihre Worte auch lediglich als einen Beweis dafür auf, daß Sie zur fraglichen Zeit im Park von Monplaisir waren. Vermutlich wollten Sie den Versuch machen, Fräulein Henderson zu sprechen, und der Oberst vereitelte diese Absicht?«
»Der Tölpel,« dachte Silas Hempel, während ein kaum merkbares Lächeln über sein Gesicht huschte. »Erst gibt er ihm ahnungslos durch Wiederholung von Harriets Worten den Weg, den sie wünscht, daß Tiersteiner einschlägt und nun legt er ihm die weitere Verteidigung noch in den Mund. Und ich wette, er bildet sich noch ein, seinen Inkulpaten in die Enge getrieben zu haben!«
In der Tat ging Richard sofort auf Wasmuts Gedankengang ein.
Völlig unbefangen, als hätte er nie zuvor geleugnet, sagte er: »Ich sehe, daß es keinen Zweck hat, Herr Untersuchungsrichter, Ihnen die Wahrheit länger zu verschweigen. Ja – ich war vorgestern abend im Park von Monplaisir, aber nicht um Fräulein Henderson zu sprechen, sondern nur, um noch einen Blick auf die Fenster des geliebten Mädchens zu werfen. Das mag vielleicht töricht scheinen, aber wenn Sie selbst jemals geliebt haben, so werden Sie diese sentimentale Anwandlung eines Verliebten begreifen.«
Ein spöttisches Lächeln kräuselte des Richters Lippen.
»Um wieviel Uhr kam Ihnen diese ›sentimentale‹ Anwandlung?«
»Ich glaube, es muß zwischen neun und halb zehn gewesen sein.«
»Ach – wie konnten Sie denn da in den Park hinein, da das Tor um neun bereits versperrt wurde?«
Eine leichte Röte huschte über des jungen Mannes Gesicht, aber die Antwort klang noch vollkommen sicher: »Dies muß ein Irrtum sein. Das Tor war wohl zu, aber nicht versperrt.«
»Und wie lange blieben Sie im Park?«
»O, ziemlich lange. Vielleicht zwei Stunden … genau weiß ich es nicht. Die Nacht war schön und warm. Ich setzte mich auf eine Bank, von der aus ich Harriets erleuchtete Fenster sehen konnte und versank in allerlei süße Zukunftsträume …«
»Und Fräulein Henderson wollen Sie weder gesehen, noch gesprochen haben die Zeit über?«
»Ich sah sie nicht. Sie geht zeitig zu Bett, wie ich weiß, und hatte bestimmt keine Ahnung von meiner Anwesenheit, bis es ihr am andern Morgen vielleicht von dem Gärtnerburschen erzählt worden sein mag.«
Hempel blickte unruhig auf den Sprecher.
»Warum zum Teufel lügt er so ungereimtes Zeug zusammen? Wasmut muß ja rein auf den Gedanken kommen, nun wolle er sie schonen! Und meiner Treu, so sieht es aus!«
Er wurde noch ärgerlicher, als er auf des Richters Gesicht nichts als blanken Hohn las.
»Nun, das klingt ja rührend a la Toggenburg! Aber wenn Sie so lange im Park saßen, müssen Sie doch etwas von des Obersten Ermordung gemerkt haben?«
»So lange ich mich dort befand, geschah nicht das Mindeste, was meine Aufmerksamkeit hätte in Anspruch nehmen können. Ich glaubte den Obersten längst schlafend.«
»Und am nächsten Morgen? Sie wohnen doch gar nicht so weit von Monplaisir entfernt – ist es nicht recht sonderbar, daß Sie auf die Kunde des schrecklichen Ereignisses nicht sofort hineilten, Fräulein Harriet zu trösten und ihr Ihre Dienste anzubieten?«
»Gewiß hätte ich dies getan, wenn ich eine Ahnung der Dinge gehabt hätte. Aber ich fuhr zeitlich morgens in Geschäften zur Stadt und erfuhr von dem Unglück erst durch die Abendblätter in einem Kaffeehaus. Natürlich nahm ich sofort einen Wagen und fuhr nach Dornbach. Im Vorbeifahren ließ ich an unserem Hause halten, um nachzusehen, ob Briefe meines Vaters da seien, da mein Großvater in London todkrank liegt und sein Ableben stündlich eintreten kann. Tatsächlich waren Nachrichten da. Als ich sie gelesen hatte und mich wieder zu meinem Wagen begeben wollte, wurde ich verhaftet.«
Wasmut betrachtete Tiersteiner kopfschüttelnd.
»Sie sind sehr naiv, junger Mann, wenn Sie mir zumuten, Ihrer heutigen Aussage mehr Glauben zu schenken, als der gestrigen. Sie ist womöglich noch kindlicher. Es tut mir leid, daß Sie nicht lieber den einzig richtigen Weg einschlagen und ein offenes Geständnis ablegen.«
Tiersteiner strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung das dunkle Haar aus der Stirn.
»Aber um Gotteswillen, ich kann doch keinen Mord gestehen, den ich nicht begangen, an den ich nie gedacht und zu dem ich schließlich auch nicht die mindeste Veranlassung hatte!«
Wasmut nahm plötzlich eine kalte Miene an und schob mit einer raschen Bewegung seine Aktentasche beiseite, daß der Uhranhänger des Obersten dem Angeklagten sichtbar werden mußte.
»Und wie erklären Sie mir nun den Besitz dieses Wertgegenstandes, den man gestern abend unter anderen Dingen Ihren Taschen entnahm?«
Sechs Augen hingen in gespannter Erwartung an Richard Tiersteiners Mienen.
Aber kein Zug veränderte sich darin. Er wurde weder rot noch blaß, noch zeigte sich die geringste Verlegenheit in seinem Gesicht.
Er trat knapp an den Tisch heran und betrachtete den Gegenstand mit neugieriger Aufmerksamkeit.
»Welch seltene Farbennüance des Quarzes.« sagte er dann ruhig, »und wie glücklich die Fassung gewählt ist! Es ist ein sehr kostbares Stück.«
»Das wissen wir,« gab der Richter trocken zurück. »Was wir von Ihnen zu erfahren wünschen, ist, wie es in Ihren Besitz kam«
»In meinen Besitz? Ich erinnere mich nicht, den Anhänger schon je zuvor in Händen gehabt zu haben,« sagte Richard verblüfft. »Und doch – warten Sie, mir ist, als hätte ich ihn schon einmal gesehen – flüchtig zwar nur – ach, wo war es nur?«
Er starrte nachdenklich auf die sanften Olive schimmernden Katzenaugen nieder und schüttelte den Kopf.
»Komisch – es fällt mir nicht ein. Und das soll in meiner Tasche gewesen – halt« – er schlug sich plötzlich mit der flachen Hand auf die Stirn – »wie es in meine Tasche gekommen ist, glaube ich jetzt zu wissen. Als ich vorgestern nachts den Park verließ, trat ich in der Dunkelheit auf etwas Hartes, das mitten auf dem Wege lag. Unwillkürlich bückte ich mich und hob es auf. Trotzdem es fast ganz finster war, meinte ich, ein schwaches Funkeln zu sehen, und mein erster Gedanke war, es könne vielleicht ein Schmuckstück sein, das Harriet hier verloren hatte. In dieser Idee steckte ich es ein und dachte nicht mehr daran. Wenn ich nur wüßte, wo ich das Ding schon zuvor gesehen –«
»Nun, ich will Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Spur helfen: diesen Anhänger trug Oberst Henderson erwiesenermaßen noch wenige Stunden vor seinem Tode. Er war sein Eigentum. Es ist zweifellos, daß nur sein Mörder ihm denselben entrissen haben konnte!«
Richard starrte noch immer verständnislos vor sich hin.
»Aber erlauben Sie – das ist doch nicht gut möglich – wenn ihn der Mörder an sich nahm, könnte ich ihn doch nachher nicht gefunden haben!«
»Allerdings nicht. Sie brauchen sich aber keine Mühe zu geben, uns eine Erklärung aufzutischen. Wir wissen nun genug. Sie behaupten, den Anhänger beim Verlassen des Parkes gefunden zu haben. Das war gegen Mitternacht, wie Sie sagen. Da aber der Oberst zwischen zehn und elf – also noch während Ihrer Anwesenheit im Park – den Tod gefunden hat, so werden Sie uns nun doch nicht mehr weiß machen wollen, daß Sie davon nicht einmal etwas gehört hätten, wenn einige Schritte von Ihnen ein Schuß abgegeben wurde! Sie sehen, Ihr Leugnen nützt nichts, Ihre eigenen Worte strafen Sie Lügen!«
Erst jetzt begriff Richard ganz, daß er sich bei seiner Verantwortung in Widersprüche verwickelt hatte, die aufzuklären ihm unmöglich war.
Leichenblässe bedeckte sein Gesicht.
»Sie glauben mir nicht,« stammelte er, »aber ich bin unschuldig … woher wissen Sie übrigens, daß der Oberst gerade zwischen zehn und elf Uhr erschossen wurde? Es könnte doch auch erst später geschehen sein. Und warum sollte er den Anhänger nicht schon früher, am Nachmittag etwa, im Garten verloren haben?«
»Die Zeit des Todes wurde gerichtsärztlich festgestellt. Auf Ihren letzten Einwand kann ich entgegnen, daß der Gärtnerbursche täglich abends die Hauptwege des Gartens zu kehren hat und dies auch vorgestern tat. Ich habe, da ich auf Ihren Einwand gefaßt war, mich speziell darüber erkundigt. Es war sieben Uhr als der Bursche kehrte, also noch taghell. Auch ein weit unbedeutender Gegenstand hätte ihm nicht entgehen können. Nachher aber war der Oberst erwiesenermaßen nicht im Garten. Haben Sie noch etwas zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen?«
Richard kreuzte die Arme über der Brust und sah Wasmut finster an.
»Nichts, als daß ich unschuldig bin, wenn Sie mich auch zehnmal zum Mörder stempeln wollen!« sagte er kalt.
Der Richter klingelte und wandte sich an den eintretenden Schließer:
»Führen Sie den Gefangenen in seine Zelle zurück!«
Kaum hatte Tiersteiner das Zimmer verlassen, als Brandner triumphierend zu Hempel trat.
»Nun – zweifeln Sie noch an seiner Schuld?« sagte er malitiös lächelnd.
Silas sah ihn mit einem undefinierbar harmlosen Blick an.
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis – ja!«
»Wie?« riefen Wasmut und Brandner aus einem Munde. »Sie glauben seiner einfältigen Verantwortung?«
»Das heißt, ich glaube davon nur den einzigen Punkt, der für mich von Wichtigkeit war: daß er den Anhänger nämlich wirklich zufällig beim Verlassen des Parkes gefunden hat.«
Er griff nach seinem Hut und wandte sich zum Gehen. Wasmut suchte ihn zurückzuhalten.
»Sie wollen schon fort, jetzt wo ich doch erst hören möchte, auf welche Gründe sich Ihre Theorie von einem Raubmorde stützt?«
»Später, später, momentan habe ich keine Zeit zum Plaudern. Der Grund meines Kommens war, von Ihnen etwas über des Obersten Vergangenheit zu erfahren. Leider aber wissen Sie darüber nichts. Guten Morgen, meine Herren!«